Den Glauben bezeugen

Der Brief von Julián Carrón zur Enzyklika Lumen fidei
Julián Carrón

Sehr geehrter Herr Chefredakteur,

dass die Enzyklika von Papst Franziskus mit der Frage „‚Was ist der Glaube?‘ das Zentrum der christlichen Lehre“ thematisiert, das hat der Kolumnist Eugenio Scalfari ganz richtig erkannt. Am Ende seines Editorials vom vergangenen Sonntag fragt er: „Wie fällt Ihre Antwort aus, Heiliger Vater?“ (La Repubblica, 7. Juli 2013). Als ich daraufhin die Enzyklika Lumen fidei noch einmal las, musste ich unweigerlich an das Bild denken, mit dem Jesus beschreibt, was die Mission seiner Anhänger in der Welt ist: „Man zündet nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus.“ (Mt 5,15)

Wie kann man besser dem weit verbreiteten Eindruck entgegenwirken, der Glaube habe etwas mit Dunkelheit zu tun, als Papst Benedikt und Papst Franziskus es getan haben? Oder dem Eindruck, der Glaube sei „wie ein subjektives Licht, das vielleicht das Herz zu erwärmen und einen persönlichen Trost zu bringen vermag, sich aber nicht den anderen als objektives und gemeinsames Licht zur Erhellung des Weges anbieten kann“, so dass man schließlich den Glauben „wie ein[en] Sprung ins Leere“ empfindet, „den wir aus Mangel an Licht vollziehen, getrieben von einem blinden Gefühl“ (3)?

Auf einen solchen Einwand kann man nicht mit bloßen Vernunftgründen antworten. Die Dunkelheit besiegt man nicht, indem man vom Licht spricht, sondern indem man ein Licht anzündet. Die Dunkelheit wird nur durch das Licht vertrieben. Nur das lichtreiche Zeugnis des Glaubens, das das Leben derjenigen erleuchtet, die ihn annehmen, kann eine Antwort auf diesen Einwand geben.

So ist der christliche Glaube entstanden. Diejenigen, die Christus begegnet sind, waren von dem Licht beeindruckt, dass Er auf die Wirklichkeit warf, in der sie sich gerade befanden. Aus diesem Grund beschreibt einer von ihnen, der Evangelist Matthäus, die Bedeutung der Gegenwart Jesu in der Geschichte, den Propheten Jesaja zitierend, so: „Das Volk, das im Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen.“ (Mt. 4,16) Wer ein Licht sein will, muss selbst „glänzen“. Jesus hat sich selber so verstanden: „Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.“ (Joh. 12,46)

Die Herausforderung für den Glauben ist heute dieselbe wie gestern. Die Menschen von heute – daran erinnert uns Eliot – versuchen fieberhaft „dem äußeren und inneren Dunkel zu entkommen und erträumen hierfür Systeme, die so vollkommen sind, dass niemand mehr gut zu sein braucht“. Daher lässt sich schwer ein anderes Bild finden, dass besser passt als das des Lichts: Allein das Ereignis Christi bietet unvorhersehbar eine Antwort auf das tiefe Dunkel, im dem sich der Mensch heute befindet.

Mit Blick auf das in der Enzyklika zum Ausdruck kommende Zeugnis der beiden Päpste kann jeder selbst beurteilen: Hat Nietzsche Recht, der behauptet, dass der christliche Glaube die „Reichweite des menschlichen Seins“ verringert und den „Menschen daran hindert, sich wagemutig auf die Ebene des Wissens zu begeben“ (2). Oder stimmt es, dass „der Glaube das menschliche Leben in allen seinen Dimensionen bereichert“ (6), weil er es zu einem wahrlich menschlichen, persönlichen Abenteuer voller Leidenschaft macht. Ein Abenteuer, das vor Augen führt, „dass das menschliche Licht, wenn der Mensch sich Ihm [Christus] nähert, sich nicht in der blendend hellen Unendlichkeit Gottes auflöst, als sei es ein im Morgengrauen verblassender Stern, sondern um so strahlender wird, je näher es dem ursprünglichen Feuer kommt, wie der Spiegel, der den Glanz reflektiert“. (35)

Natürlich bedarf es, damit wir die Herausforderung annehmen können, die das Zeugnis der beiden Päpste darstellt, einer Öffnung der Vernunft, die sich – auf Grundlage einer authentischen Zuneigung zu sich selbst – in der Liebe vollendet. Denn nur wer geliebt ist und sich daher selbst wirklich liebt, kann sich für die Wahrheit interessieren und jubelt, wenn er auf seinem Lebensweg einen Strahl ihres Lichts erheischt.

Benedikt XVI. und Papst Franziskus erinnern uns alle, die wir das Geschenk des Glaubens erhalten haben, mit ihrem Zeugnis an die uns in der Welt anvertraute Aufgabe: das Licht Christi in unseren Gesichtern aufscheinen zu lassen. „Der Glaube wird […] von Person zu Person weitergegeben, wie eine Flamme sich an einer anderen entzündet“. (37) Die Verantwortung, die uns aus dieser Aufgabe erwächst, ist klar. Wir werden ihr nur gerecht werden können, wenn wir zuallererst zulassen, dass wir immer wieder vom Licht Christi erleuchtet werden. Denn „die Kirche setzt den Glauben […] niemals als etwas Selbstverständliches voraus, sondern weiß, dass dieses Geschenk Gottes genährt und gestärkt werden muss, damit es weiterhin ihren Weg lenkt“ (6).

Jeder von uns ist darauf angewiesen, sich von der Liebe verwandeln zu lassen, „der er sich im Glauben geöffnet hat. In seinem Sich-Öffnen für diese Liebe, die ihm angeboten wird, weitet sich sein Leben über sich selbst hinaus.“ Wenn man zulässt, dass man am „Wir“ der Gemeinschaft der Kirche teilnimmt, dann „dehnt sich das Ich des Glaubenden aus, um von einem Anderen bewohnt zu sein, um in einem Anderen zu leben, und so weitet sich sein Leben in der Liebe“ (21).

Die Menschen unserer Zeit werden sich nur dann wieder für Christus und den Glauben interessieren, wenn sie auf ihrem Weg Personen begegnen, die aufgrund des Glaubens in der Lage sind, die Herausforderungen des Lebens in Angriff zu nehmen, Personen, durch die sie die Relevanz des Glaubens für die Bedürfnisse des Lebens erkennen können und mithin seine tiefe Vernünftigkeit. Sie werden dann sehen, dass das, was die Christen so andersartig macht, nicht ein schönes Märchen oder ein schönes Gefühl sein kann (vgl. 24), sondern ein Faktum, das die Menschlichkeit begründet. Nur die Herausforderung durch dieses lichtreiche und konkrete Zeugnis kann „den Menschen in seinem Innern, im Herzen“ (40) anrühren, allein diese Herausforderung ist auf der Höhe seines grundlegenden Bedürfnisses nach Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit und Glück. Ohne Zweifel: Heute wie gestern geht „der Glaube aus einer Begegnung innerhalb der Geschichte hervor […] und erleuchtet unseren Weg in der Zeit“ (38).