„Wir sind Zeugen der Liebe“

Interview mit Julián Carrón
Carlo Dignola

Interview der italienischen Tageszeitung L’Eco di Bergamo mit Julián Carrón. Anlass des Gesprächs war die Feier zum 40. Jahrestag der Entstehung der Bewegung in der norditalienischen Stadt.

Don Carrón, was haben Sie zu feiern?
Carrón: Wir feiern aus diesem Anlass die Treue Gottes, seine grenzenlose Liebe zu unserer Nichtigkeit, der nicht einmal unser Verrat Einhalt gebieten kann. Wie der Prophet Jesaja sagt: „Auch wenn Vater und Mutter dich verlassen, ich werde dich nie verlassen.“ Das empfinden wir in diesem Augenblick. Wir können nicht feiern, ohne uns an einen bekannten Hinweis von Don Giussani aus dem Jahre 1994 zu erinnern, der für uns zu einem festen Bezugspunkt geworden ist: „Je mehr wir reifen, desto mehr werden wir uns selbst zum Schauspiel, und so Gott will auch für die anderen, zu einem Schauspiel der Grenzen und des Verrats und deshalb der Demütigung, und gleichzeitig einer unerschöpflichen Gewissheit in der Gnade, die uns jeden Tag von neuem geschenkt wird.“ Das Fest ist also ein Dank für die Treue Gottes und die Bitte, dass er sein Volk nicht verlässt.

Wozu dient eine Bewegung in der Kirche? Reichen die Pfarreien nicht aus? Welchen Beitrag hat CL, ihrer Meinung nach, in den vergangenen Jahren geleistet und was kann die Bewegung weiterhin zum Leben der Kirche beitragen?
Carrón: Ein Charisma ist, der Wortbedeutung nach, eine Gabe des Geistes, die den Glauben überzeugender und interessanter macht, wie Johannes Paul II. sagt. Es ist eine Art und Weise, wie Gott seinen Dialog mit dem Menschen fortsetzt. Er ergreift immer wieder die Initiative, in einer völlig neuen Modalität. Das ist auch für uns selbst, die wir daran teilhaben, überraschend. Derzeit lädt Papst Franziskus alle Katholiken dazu ein, an die existenziellen Ränder der Welt zu gehen, auf die Menschen zuzugehen. Dieses Bemühen ist gleichsam Teil unseres Erbgutes: Wir wollten stets den Glauben in den unterschiedlichen Lebensbereichen leben, in denen sich unser Alltag vollzieht. Der Papst fordert die Christen dazu auf, überall präsent zu sein, nicht nur im Bereich der Pfarreien, die natürlich an sich gut und nützlich sind, sondern in allen Bereichen. Leider kommen unsere Zeitgenossen oft nicht einmal mehr in die Pfarrei. Gleich in welcher Weise wir den Glauben leben – ob in der Bewegung, der Pfarrei, einem Verein oder sonst wie – , wenn wir in den anderen Bereichen nicht präsent sind, haben diese Menschen heute nicht mehr die Möglichkeit, Christus zu begegnen.

Papst Franziskus ist sicher keiner, der nur zum kleinen Kreis seiner Schäflein spricht …
Carrón: In der Tat. Dies scheint mir die große Herausforderung, die der Papst durch sein persönliches Handeln an die Kirche richtet. Alle Menschen sind es wert, dass sie die Schönheit und zärtliche Liebe Gottes erreicht, der wir begegnen durften. Dies bezeugt der Papst durch die Art und Weise, wie er jeden einzelnen anschaut, selbst wenn er von zehntausenden Menschen umgeben ist. Wenn sie alle zu ihm kommen, dann bedeutet das, dass sie in der Art und Weise, wie er den Glauben lebt, etwas sehen, was ihren Bedürfnissen entspricht.

Sie haben von einer Anziehungskraft gesprochen, die vielleicht auch viele Nichtchristen spüren. Zugleich schrecken aber viele dieser Menschen davor zurück, alle Weisungen der Kirche zu befolgen…
Carrón: Was uns überzeugt hat, war genau diese Anziehungskraft. Wir haben nichts anderes getan, als uns von ihr mitreißen zu lassen, und wollen das, was uns in der Begegnung mit Christus angezogen hat, nicht verlieren. Die Kirche stellt keinen anderen Anspruch als den Anspruch Christi, dass nämlich diese Schönheit für die ganze Existenz von Bedeutung ist, und nicht nur für einige wenige Aspekte. So kann sie schließlich auch den banalsten Augenblick des Lebens erhellen und ihm Intensität und Tiefe verleihen. Damit erhält alles einen Sinn, wird unglaublich schön und gewinnt Geschmack, wie in der Geschichte einer Liebe. Don Giussani hat immer wieder einen bekannten Satz von Romano Guardini zitiert: „In der Erfahrung der großen Liebe sammelt sich die ganze Welt in das Ich-Du, und alles Geschehende wird zu einem Begebnis innerhalb dieses Bezuges.“ Wer würde sich das nicht wünschen?

Vielen Menschen erscheint das Christentum heute als eine alte, überwundene Religion. Andere scheinen interessanter, etwa der Buddhismus oder New Age. Fühlen Sie sich nicht etwas aus der Zeit gefallen?
Carrón: Jeder Mensch muss seinen eigenen Weg gehen, dem auf den Grund gehen, was sein Weg ist. Nur so kann er wirklich überprüfen, inwiefern dieser allen seinen Bedürfnissen entsprechen kann. Das Christentum steht heute im Wettstreit mit anderen Religionen. Es besitzt keinerlei Vorrang. Dies ist im Grunde das Faszinierende an unserer Zeit: Das Christentum muss inmitten dieser Pluralität von Formen, in der wir leben, seine Vernünftigkeit erweisen. So können die Menschen einen Vergleich ziehen zwischen der Erfahrung, für die sie sich entschieden haben, und dem, was ihnen Christen bezeugen.

Johannes Paul II. hat den Menschen zugerufen: Habt keine Angst, euch Christus zuzuwenden. Vielleicht ruft heute Papst Franziskus den Gläubigen auch ein „Habt keine Angst“ zu: Habt keine Angst in einer Welt, in der ihr inzwischen in der Minderheit seid.
Carrón: Sicherlich, deshalb ist es für Christen äußerst wichtig, aus der Erfahrung zu leben, wie uns Don Giussani immer gelehrt hat. Damit sie den Glauben in der Gegenwart erfahren können und sich dort seine Bedeutung erweist. Sonst kann er in einer Welt, in der alles das Gegenteil behauptet, nicht bestehen. Die Herausforderung und gleichzeitig die dramatische Schönheit dieses geschichtlichen Augenblicks besteht darin, dass wir Christen keine andere Stütze, keinen anderen Vorteil und Anhaltspunkt mehr haben, als die Erfahrung der Schönheit, die wir im Glauben machen, gemeinsam mit unseren Brüdern.

Ist diese allgemeine Euphorie für Papst Franziskus nur eine vorübergehende Erscheinung oder hat sie tatsächlich mit dem Glauben an Christus zu tun?
Carrón: Mir scheint, dass dies eher ein Zeichen für ein Bedürfnis ist, das wir haben, Gläubige wie Nichtgläubige – wie sich auch im Dialog zwischen dem Papst und Eugenio Scalfari gezeigt hat. Wir wollen von der Barmherzigkeit und zärtlichen Liebe Gottes erreicht werden, und zwar durch ein Gesicht, durch ein menschliches Gesicht, das uns Christus in einer Weise näher bringt, die es uns leichter macht, ihn anzuerkennen. In diesem Sinne hat dies also durchaus mit dem Glauben zu tun, der nichts anderes ist als das Anerkennen einer Gegenwart, die auf die Erwartung des Menschen antwortet. Was ist das Christentum anderes, als das Wort, das Fleisch geworden ist und berührt werden kann, und das so dem Menschen die Zärtlichkeit und Barmherzigkeit Gottes nahebringt? Die Menschen von heute, auch jene, die vom kulturellen oder religiösen Standpunkt aus am fernsten zu stehen scheinen, sehen dies, wie mir scheint, bei Papst Franziskus.

Wie sollte sich ein Christ verhalten in einer Welt, in der er in der Minderheit ist? Indem er seine Position am besten auszuspielen sucht?
Carrón: Vor allem sollte er sich bewusst werden, dass die Strategie einer Hegemonie – falls er sie jemals für die richtige gehalten hat –, vollkommen gescheitert ist. Selbst wenn man dadurch vielleicht so manche Posten und Vormachtstellungen errungen hat. Der Christ hat nur eine Chance, denn seine Kraft besteht nicht darin, irgendeine Macht zu erringen, sondern Zeuge zu sein für die Neuheit Christi, der in die Geschichte eingetreten ist, um das Herz des Menschen zu berühren und zu gewinnen. Das Licht brennt nicht weniger hell, weil wir weniger wären. Das Licht leuchtet in der Dunkelheit nicht weniger hell. Die Menschen sind auch heute noch fasziniert, wenn sie Personen begegnen, in denen ein Leben aufleuchtet, das sie nicht kennen. Es gibt keinen anderen Weg als das Zeugnis, das heißt das Aufleuchten der Schönheit Christi. Und ich hoffe, dass wir als Christen dies endgültig verstanden haben. Es gibt keine andere Methode.

Ist es nicht etwas schwieriger geworden, heute Christ zu sein? Verlangt es nicht ein größeres Engagement?
Das ist nur dann der Fall, wenn man das Christentum auf eine Ethik reduziert. Wenn es dagegen das Zeugnis einer Schönheit ist, die uns fasziniert – wie dies der derzeitige Papst, aber auch Benedikt XVI. und Johannes Paul II. bezeugen –, dann ist es leicht: Man muss sich nur ergreifen lassen. Selbst ein Laizist wie Scalfari freut sich, wenn der Papst ihm schreibt und sich mit ihm trifft. Als Bergoglio ihn angerufen hat, ist er sofort hingeeilt. Damit ist aber niemand von uns dem Drama enthoben, dass er dem, was ihm widerfahren ist, zustimmen muss, oder eben nicht. An sich ist das aber ganz leicht.