Papst Franziskus - Die Herausforderung der Schönheit

Interview von Michele Brambilla mit Julián Carrón
Michele Brambilla

Sie sprechen dieselbe Sprache, auch wenn der eine Spanier aus Estremadura ist und der andere Argentinier. Auf der Buchmesse in Turin präsentiert Don Julián Carrón, 64 Jahre alt und seit 2005 Nachfolger von Don Luigi Giussani in der Leitung von Comunione e Liberazione, heute das Buch La bellezza educherà il mondo [Die Schönheit wird die Welt erziehen; auf Italienisch erschienen im Emi Verlag, 64 S., € 5,90], eine Sammlung von Ansprachen des damaligen Erzbischofs von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio. Das bietet Gelegenheit für eine Standortbestimmung der Kirche, ein Jahr nach dem Konklave, das sie revolutioniert zu haben scheint. „An erster Stelle“, sagt mir Carrón, den ich am Sitz von CL in Mailand treffe, „steht die Großartigkeit einer Tatsache, die uns alle überrascht hat.“ Er spricht Italienisch wie Franziskus, er sagt zuerst „alle“ – oder „nur“, oder „immer“ – und dann das Verb [wie es der spanischen Syntax entspricht]. Wir sitzen an einem Tischchen, hinter ihm hängt ein Porträt von Don Giussani, dem „Gius“, wie ihn die Seinen heute noch nennen, während Carrón, der trotz exzellentem Italienisch seinen spanischen Akzent nicht verbergen kann, ihn „Iussani“ nennt. Er ist ein freundlicher Mann und lächelt immer.

Don Carrón, was ist das erste Ergebnis, wenn man das so sagen kann, der Amtszeit von Papst Franziskus?
„Innerhalb kurzer Zeit hat Papst Franziskus sich mit seinen Gesten als ein unbewaffneter Zeuge der Macht des Glaubens erwiesen.“

Warum unbewaffnet?
„Weil er sich nur auf die Macht des Zeugnisses stützt. Er stützt sich nicht auf eine Politik der Hegemonie. Franziskus glaubt, dass dem Zeugnis eine Macht innewohnt, die von allen verstanden werden kann. Mit seiner Einfachheit versteht er es, mit dem Herzen jedes Menschen in Dialog zu treten.“

Die Menschen nehmen ihm das ab?
„Ja, das scheint mir offensichtlich, sie nehmen ihm das ab. Die Menschen haben verstanden, dass seine Gesten nicht dazu dienen aufzufallen, sondern den Akzent der Wahrheit in sich tragen. Das Herz des Menschen hat die Fähigkeit, das Wahre zu erkennen. Und daher haben die Menschen sofort gemerkt, dass Franziskus keine Rolle spielt, sondern wirklich so ist. Das alles kann man gar nicht spielen!“

Kannten Sie ihn schon bevor er Papst wurde?
„Nein, ich hatte nie Kontakt mit ihm gehabt. Ich weiß, dass er in Argentinien einige Bücher von Giussani vorgestellt hatte. Aber wir spüren eine besondere, starke Übereinstimmung mit ihm. Zunächst wegen der Zentralität Christi, die der Papst in diesen Monaten so betont hat. Wegen seiner großen Sehnsucht, dass die Botschaft von Christus jeden Menschen erreicht. Und dann unterstreicht Franziskus immer wieder das, was er die Randgebiete der Existenz nennt. Wir sind in einem sozusagen „normalen“ Umfeld des Lebens geboren, in dem sich unser Alltag abspielt. Wir sehnen uns danach, zu erkennen, dass der Glaube fähig ist, in die Wirklichkeit aller Dinge einzudringen und seine ganze Kraft zur Veränderung erweist.“

Und es scheint Ihnen, dass dieser Papst auch auf einer ähnlichen „Zentralität“ beharrt?
„Aber sicher! Sein Beharren auf der Tatsache, dass es wesentlich ist, Christus zu verkünden, gibt der Kirche eine Methode vor. Er hält es für entscheidend heute, dass alle Menschen von der Umarmung Christi erreicht werden können.“

Ich versuche einmal, eine Sprache zu übersetzen, die vielleicht sehr die „eure“ ist. Sie sagen: Wie Giussani verkündet auch Bergoglio das Christentum nicht als Moral, sondern als ein Faktum.
„Genau. Von all den Dingen, von denen man ausgehen könnte, hat er das gewählt, welches mir das Entscheidende scheint. Die Verkündigung des Christentums als ein Faktum, das sich ereignet hat und das sich immer wieder ereignet, war immer ein Charakteristikum unserer Bewegung. Aber Achtung: Ich sage nicht, dass der Papst CL folgt. Im Gegenteil, ich sage, dass wir Franziskus als einen starken Aufruf zur Bekehrung wahrnehmen, auf dass wir immer mehr dieses Wesentliche leben, das Christus ist.“

Stimmt es, dass Franziskus auch bei Nichtgläubigen sehr gut ankommt?
„Ja, das ist etwas Neues, das zeigt, dass die Menschen in der heutigen Zeit die Sehnsucht haben, jemanden zu finden, der wieder Hoffnung weckt.“

Einige kritische Katholiken sagen: Er gefällt der Welt, weil er sich ihr anpasst.
„Mir scheint überhaupt nicht, dass er versucht, sich der Welt anzupassen.“

Manche sagen: Er hat die Rolle des Pontifex reduziert, er hält nicht genug Abstand zum Volk.
„Aber Jesus hielt auch keinen Abstand! Er begab sich mitten ins Gedränge! Wenn es einen Gott gibt, der nicht fern ist, dann den Gott der Inkarnation. Er wurde Mensch, weil Er wie wir werden und mitten unter uns sein wollte.“

Eine weitere Kritik lautet: Er macht auf arm, um den Beifall der fortschrittlichen Welt zu erheischen.
„Franziskus setzt Zeichen des Bruchs mit Traditionen und der Armut. Aber das ist nicht nur ein Auftreten, er ist so. Er hat immer mitten unter den Menschen gelebt, in den Randgebieten.“

Bedarf es einer Reinigung in der Kirche?
„Ich weiß nicht, wie die Dinge wirklich liegen. Aber es ist eine Tatsache, dass es den Wunsch nach Veränderung gibt, damit sich diese große Institution, die die Kirche ist, in den Dienst der Evangelisation stellt. Andererseits ist die Kirche per Definition semper reformanda [immer reformbedürftig].“

Meinen Sie nicht, dass wir Medienleute Papst Franziskus banalisieren?
„Das Risiko, die Tragweite einer Person zu reduzieren, gibt es immer. Aber ich glaube, dass das Faktum, das wir sehen, viel bedeutender ist als alles, was journalistische Strategien erzeugen könnten.“

Don Carrón, erst vor zwei Wochen haben in Rom zwei Päpste zwei andere Päpste heiliggesprochen. Es schien ein triumphaler Moment für die Kirche. Und doch beobachten viele Katholiken, dass dieser Triumph nur mühsam eine Mittelmäßigkeit und Müdigkeit im alltäglichen Leben der Kirche verdecken kann.
„Ja, es mag Mittelmäßigkeit und Müdigkeit geben. Aber die aktuelle Situation ist nicht ungünstig für die christliche Verkündigung an eine Menschheit, die ‚verletzt‘ ist, wie Franziskus gesagt hat. Alles wird davon abhängen, ob wir das Geschenk, das uns Christus mit diesem Papst gemacht hat, annehmen und ihm folgen, um vielen Menschen Hoffnung bieten zu können, die auf ein Licht im Dunkel warten.“

Letzte Frage, Don Carrón: Hätten Sie jemals erwartet, in einer Kirche mit zwei Päpsten zu leben?
„Der Rücktritt von Benedikt XVI. war auch ein Schock, das kann man nicht bestreiten. Aber das Miteinander von zwei Päpsten, das eine Gefahr zu sein schien, hat sich als ein Zeugnis der Einheit erwiesen, die uns alle überrascht und beeindruckt hat. Nicht nur dank der Diskretion von Benedikt XVI., sondern auch dass Franziskus ihn ermutigt hat, am Leben der Kirche teilzunehmen. Das Ergebnis ist etwas, das wir immer vor Augen haben werden und das von einer großen Freiheit zeugt.“