Das Ereignis einer andersartigen Menschlichkeit, die das Interesse für den Glauben neu wecken kann

Brief von Julián Carrón nach der Bischofssynode, 1. November 2012
Julián Carrón

Eure Heiligkeit,
hochverehrte Schwestern und Brüder,
die Synode über die neue Evangelisierung und das Jahr des Glaubens entspringen der gleichen Erkenntnis: Wir können den Glauben nicht mehr „als eine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens betrachten“. In der Tat „besteht diese Voraussetzung nicht nur nicht mehr in dieser Form, sondern wird häufig sogar geleugnet“ (Porta fidei, 2). Wenn der Glaube nicht mehr als selbstverständliche Voraussetzung gilt, dann muss das Interesse für ihn und für das Christentum bei den Menschen der heutigen Zeit dringend neu geweckt werden. Der bevorzugte Ort, wo dies geschehen kann, ist das alltägliche Leben. Hier treten wir mit unseren Mitmenschen in Verbindung.
Bei der Lektüre des Instrumentum Laboris, das viele wertvolle Beobachtungen für unsere Arbeit enthält, hat mich die folgende Bemerkung betroffen gemacht: „Aus vielen Antworten [auf die Lineamenta] spricht die Sorge über den Mangel an Erstverkündigung im alltäglichen Leben.“ Diese Einschätzung, die in vielen Antworten angesprochen wird, scheint mir den wunden Punkt zu treffen. Hierin liegt die Herausforderung, die uns gestellt ist.
Trotz aller Versuche, die in den letzten Jahrzehnten zur Verbesserung der Weitergabe des Glaubens unternommen wurden, muss man leider feststellen: Alle Anstrengungen bringen nur mühsam eine neue Art von Leben hervor, die Neugier am Leben der Getauften im Alltag (am Wohnort, am Arbeitsplatz) hervorrufen würde. Das sagt viel über die Schwierigkeiten, vor denen wir heute als Kirche stehen: Wie kann man diesen Bruch zwischen dem Glauben und dem Leben überwinden, der es so schwer macht, dem Glauben auf vernünftige und folglich attraktive Weise im täglichen Leben zu begegnen? Wenn wir uns diese Frage nicht ausdrücklich stellen, werden wir weiter große Anstrengungen unternehmen, ohne das Problem angemessen zu lösen.
Hierin besteht meiner Ansicht nach der tiefe Zusammenhang zwischen dem Jahr des Glaubens und der Neuevangelisierung. Die Neuevangelisierung läuft nämlich Gefahr, zu einer reinen Frage für Experten und zu einer Diskussion über die Instrumente zu werden, wenn wir die „kostbare Gabe“ nicht wieder entdecken und annehmen, die der Glaube darstellt, der jeden Getauften zu einer „neuen Schöpfung“ macht, zu einem neuen Geschöpf, das die Schönheit eines im Glauben gelebten Lebens aufscheinen lässt. Nur wenn die Neuevangelisierung zu einer wirklichen Erfahrung des einzelnen wie der Kirche wird, werden wir das Interesse der Menschen für den Glauben wieder wecken können.
Dabei haben wir einen Verbündeten im Herzen der Menschen aller Kulturen und Lebensumstände. Wir wissen, dass das Herz des Menschen für das Unendliche geschaffen ist. Diese Sehnsucht mag unter tausenden von Ablenkungen und Fehlern verschüttet sein, aber sie ist unauslöschlich. Der Mensch strebt immer nach Vollendung. Und keine „falsche Unendlichkeit“ – um einen Ausdruck von Benedikt XVI. zu verwenden – vermag ihm Befriedigung zu verschaffen. „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?” (Mt 16,26)
Auf diese Sehnsucht kann nicht keine Lehre, kein Katalog von Regeln, keine Organisation antworten, wohl aber das Ereignis einer andersartigen Menschlichkeit. Wie Don Giussani bei der Synode zur Frage der Laien im Jahr 1987 sagte: „Es fehlt nicht so sehr an einer verbalen oder kulturellen Wiederholung der Verkündigung. Der Mensch unserer Zeit erwartet, vielleicht ganz unbewusst, die Erfahrung der Begegnung mit Personen, für die das Faktum Christi eine so gegenwärtige Realität ist, dass ihr Leben sich radikal verändert hat. Nur eine menschliche Begegnung kann den heutigen Menschen aufrütteln: ein Ereignis, in dem das Ereignis des Anfangs wiederhallt, als Jesus seinen Blick hob und sagte: ‚Zachäus, komm schnell herunter. Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.‘“ Damals wie heute kann nur eine neue Schöpfung, ein Zeuge für ein neues Leben die Neugierde für das Christentum wecken. Wenn man die Verwirklichung jener Vollendung sieht, nach der man sich sehnt, zu der man aber den Weg nicht kennt. Neue Menschen, die Orte schaffen, an denen jedermann die Erfahrung machen kann, die die beiden Jünger am Ufer des Jordan gemacht haben: „Kommt und seht!“ Denn „ein Glaube, der sich nicht in der täglichen Erfahrung finden ließe, der sich durch die Erfahrung nicht bestätigen ließe, der nicht imstande wäre, auf deren Bedürfnisse zu antworten, so ein Glaube [könnte] nicht in einer Welt bestehen [...], in der alles – alles! – das Gegenteil behauptet“ (L. Giussani, Das Wagnis der Erziehung).