Der Kernpunkt des Problems Kirche

Aus Luigi Giussani, Warum die Kirche, Eos-Verlag, St. Ottilien 2013, S. 19-21
Luigi Giussani

Wie kann nun derjenige, der auf Jesus Christus stößt – sei es einen Tag nach dessen Verschwinden aus dem irdischen Horizont, sei es einen Monat später oder hundert, tausend, zweitausend Jahre später –, in die Lage versetzt werden, festzustellen, ob er der Wahrheit, die er zu sein beansprucht, entspricht? Das heißt: Wie kann einer erkennen, ob Jesus von Nazareth wirklich das Ereignis ist, das jene Hypothese der Offenbarung im wahrsten Sinn des Wortes ver-körpert? Dieses Problem ist der Kernpunkt dessen, was wir geschichtlich als „Kirche“ bezeichnen. Das Wort „Kirche“ meint ein geschichtliches Phänomen, dessen einziger Sinn darin besteht, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, Gewissheit über Christus zu erlangen, dessen einziger Sinn also darin besteht, Antwort auf die Frage zu sein: „Wie kann ich, der ich am Tag nach Jesu Fortgang komme, wissen, ob es sich wirklich um etwas handelt, das mich in höchstem Maße angeht, und wie kann ich das mit vernünftigen Gründen annehmen?“ Wir haben bereits angemerkt, dass man sich kein für den Menschen schwerwiegenderes Problem vorstellen kann als dieses, welche Antwort man auch immer auf diese Frage gibt. Für jeden Menschen, der mit der christlichen Botschaft in Berührung kommt, ist es eine Pflicht, wenigstens zu versuchen, Gewissheit über ein für sein Leben und das Leben der Welt so entscheidendes Problem zu erlangen. Natürlich kann man das Problem verdrängen, doch in Anbetracht der Tragweite der Frage kommt dies ihrer Verneinung gleich. Es ist daher wichtig, dass derjenige, der heute geboren wird, sich Zugang zu diesem weit in der Zeit zurückliegenden Ereignis verschaffen kann, um zu einer vernünftigen und sicheren, der Bedeutung des Problems angemessenen Beurteilung gelangen zu können. Die Kirche versteht sich als Antwort auf dieses Verlangen nach sicherer Beurteilung. Dies ist das Thema, mit dem wir uns nun auseinandersetzen wollen. Das setzt voraus, dass die Frage „Wer ist Christus wirklich?“ tatsächlich ernst genommen wird. Und das bedeutet eine moralische Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem geschichtlichen Faktum, das das Christentum verkündet. Das wiederum setzt einen moralischen Ernst im Leben des religiösen Sinns als solchen voraus. Lässt man sich dagegen auf den religiösen Sinn, diesen unausweichlichen und allgegenwärtigen Aspekt menschlicher Existenz, nicht ein und meint, man könne zum geschichtlichen Faktum Christi auch gar nicht persönlich Stellung nehmen, dann kann einen die Kirche nur noch in eingeschränktem Maße interessieren, nämlich bloß als soziologisches, politisches oder gruppendynamisches Phänomen, wobei sie dann als ein solches entweder bekämpft oder verteidigt wird. Doch wie sehr würde dann die Vernunft geschmälert, wenn sie gerade in dem Bereich für untauglich erklärt würde, der ihre Fähigkeit, Zusammenhänge wahrzunehmen, erst menschlich und vollkommen macht, nämlich der authentische und lebendige religiöse Sinn! Andererseits ist die Geschichte – ob wir wollen oder nicht, ob es uns ärgert oder freut – de facto von der Verkündigung des menschgewordenen Gottes durchzogen.