Utopie und Präsenz

Aufzeichnungen aus einer Begegnung von Luigi Giussani mit Studenten von Comunione e Liberazione. Riccione.
Luigi Giussani

Eine Präsenz ist in dem Maße ursprünglich, in dem sie ihren Bestand in dem Bewusstsein der eigenen Identität hat und aus der Zuneigung zu ihr hervorgeht.
Identität ist das Wissen darum, wer wir sind und warum wir existieren. Sie ist eine Würde, die uns das Recht gibt, von unserer Präsenz etwas «Besseres» für unser Leben und das Leben der Welt zu erhoffen. Wer aber sind wir, dass uns das Recht auf diese Hoffnung zukommt? Ohne diese Hoffnung würde unser Leben entweder einer tiefen Bürgerlichkeit anheimfallen, deren höchstes Kriterium die Absicherung gegenüber jeglichem Risiko ist, oder unser Leben wäre fad vor lauter Unbefriedigtsein, das rasch in Wehklagen oder in die Anklage anderer umschlägt.
«Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid 'einer' in Christus Jesus (Gal 3, 26-28). Keine andere Stelle habe ich so oft zitiert wie diese (außer „Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen.“ Mt 19,29).
Ihr, die ihr von Christus ergriffen wurdet, habt euch in ihn hineinversetzt: «Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt» (Jh 15,16); Dies ist eine objektive Wahl, die dich nicht mehr loslässt und dein Sein durchdringt, die nicht von dir abhängt und der du kein Widerstand entgegensetzen kannst. Ihr, die ihr getauft seid, habt euch auf Christus eingelassen und deshalb gibt es keinen Unterschied mehr zwischen euch: «...nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau». Dies ist die Identität: «Ihr alle seid einer in Christus». Im Brief an die Epheser heißt es wörtlich: «...wir sind als Glieder miteinander verbunden» (Eph 4, 25).
Keine andere Formel birgt eine ähnliche kulturelle Sprengkraft in sich wie diese Auffassung der Person, der zufolge ihre Bedeutung und ihr Bestand in der Einheit mit Christus, mit einem anderen besteht. Durch die Einheit mit Christus steht der Mensch in einer Einheit mit all jenen Menschen, die Er ergreift, mit all jenen, die der Vater ihm anvertraut.
Unsere Identität beruht darin, dass wir von Christus ergriffen wurden: diese Dimension konstituiert meine Person: Christus prägt meine Persönlichkeit und deshalb tretet auch ihr, die ihr von Ihm geschaffen wurdet, notwendigerweise in die Dimension meiner Persönlichkeit ein. Dies ist die «neue Kreatur» wie sie am Ende des wunderbaren Briefes an die Galater (vgl. Gal 6,15) beschrieben wird, es ist der Anfang einer neuen Schöpfung, von der Jakobus in seinem Briefe spricht (vgl. Jakobus 1,18).
»Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube» (l Jh 5,4), sagt Johannes in seinem ersten Brief: der Glaube besiegt die Welt, das heißt er zeigt seine Wahrheit, die alle Ideologien und Vorstellungen von dem, was das Menschsein ist, übertrifft; denn der Glaube ist die strukturelle Wahrheit, auf die hin die Welt erschaffen wurde und die sich am Ende offenbaren und aufrichten wird. Zugleich ist die Wahrheit der Faktor, der die Geschichte bewegt und das Gute in der Welt hervorruft, indem sie die Welt menschlicher werden läßt.
Ob ich nun allein studiere oder gemeinsam mit anderen, ob wir zu viert in der Universität sind oder mit zwanzig anderen gemeinsam in die Mensa gehen - unsere Identität ist stets dieselbe: dass wir von Christus ergriffen sind. Infolgedessen kommt es entscheidend auf das Selbstbewusstsein an, auf die Frage nach dem, was das Bewusstsein meiner selbst ausmacht: «Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondern Du lebst in mir» (vgl. Gal 2, 20).
Der neue Mensch in der Welt, den Kulturrevolutionen erträumt oder vorgegeben haben, um mit dieser Fiktion das Volk beherrschen und gemäß der eigenen Ideologie unterdrücken zu können - dieser neue Mensch wächst und reift in dieser Welt nicht aufgrund seiner Kohärenz, sondern in erster Linie aufgrund eines neuen Selbstbewusstseins.
Unsere Identität offenbart sich folglich in einer neuen Erfahrung der eigenen Person und der Einheit unter uns. Es ist die neue Erfahrung einer Zuneigung zu Christus und zum Geheimnis der Kirche, die in unserer Einheit anschaulich und konkret wird. Die Identität ist folglich eine lebendige Erfahrung innerhalb einer Wirklichkeit, die unser eigen ist und zugleich außerhalb von uns ist: die Zuneigung zu Christus und zu unserer Einheit.
Zuneigung ist die umfassendste und zugleich verständlichste Bezeichnung für unsere Ausdruckskraft. Sie ist alles andere als eine sentimentale und vorübergehende Gemütsregung, die jeglicher Windbewegung ausgeliefert bleibt. Vielmehr ist die Zuneigung eine kraftvolle Bejahung, die aus einem Werturteil und aus Anerkennung von dem hervorgeht, das in uns und unter uns ist. Und mit dem Alter wächst dieses Anhängen und wird stärker, kräftiger und empfänglicher in der Treue zum Urteil, d.h. in der Treue zum Glauben: «Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt.» (Phil 3, 7-9)
Diese lebendige Erfahrung von Christus und unserer Einheit ist der Ort der Hoffnung, sie ist Ursprung eines neuen Lebens und lässt eine Freude aufkommen, die nichts zu vergessen oder zensieren braucht, um sich erhalten zu können. Hier kann jenes Verlangen nach der Umkehr des eigenen Lebens stets wieder gewonnen und wiederaufgenommen werden: die Sehnsucht, dass das eigene Leben wieder einen Zusammenhang gewinnt, dass es sich ändert und der Würde entspricht, die es im Grunde seiner Wirklichkeit besitzt.

Utopie und Präsenz 1976