Ansprache von Papst Franziskus an die Bewegung Comunione e Liberazione
Petersplatz, RomLiebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Ich heiße euch alle willkommen und danke euch für eure herzliche Zuneigung! Meinen herzlichen Gruß richte ich an die Kardinäle und die Bischöfe. Zudem begrüße ich Don Julián Carrón, den Präsidenten eurer Bruderschaft, und danke ihm für die Worte, die er im Namen aller an mich gerichtet hat. Mein Dank geht an Sie, Don Julián, auch für den schönen Brief, den Sie an alle geschrieben haben, um sie einzuladen, hierher zu kommen. Vielen Dank!
Mein erster Gedanke gilt eurem Gründer, Msgr. Luigi Giussani, im Gedenken an den zehnten Jahrestag seiner »Geburt zum Himmel«. Ich bin Don Giussani aus verschiedenen Gründen dankbar. Der erste, eher persönliche Grund, ist das Gute, das dieser Mann an mir und meinem priesterlichen Leben getan hat, durch die Lektüre seiner Bücher und seiner Artikel. Der andere Grund ist, dass sein Denken zutiefst menschlich ist und das innerste Verlangen des Menschen erreicht. Ihr wisst, wie wichtig für Don Giussani die Erfahrung der Begegnung war: die Begegnung nicht mit einer Idee, sondern mit einer Person, mit Jesus Christus. So hat er zur Freiheit erzogen, indem er zur Begegnung mit Christus geführt hat, denn Christus schenkt uns die wahre Freiheit.
Wenn ich über Begegnung spreche, kommt mir die »Berufung des Matthäus« in den Sinn, jenes Gemälde von Caravaggio, vor dem ich jedes Mal, wenn ich nach Rom kam, lange in der Kirche »San Luigi dei Francesi« verweilte. Keiner der auf dem Bild Anwesenden, einschließlich des geldgierigen Matthäus, konnte der Botschaft jenes Fingers glauben, der auf ihn zeigte, der Botschaft jener Augen, die ihn mit Barmherzigkeit anblickten und ihn für die Nachfolge auswählten. Er spürte jenes Staunen der Begegnung. So ist die Begegnung mit Christus, der kommt und uns einlädt.
Alles in unserem Leben, heute ebenso wie zur Zeit Jesu, beginnt mit einer Begegnung – einer Begegnung mit diesem Menschen, dem Zimmermann aus Nazaret, einem Menschen wie alle und gleichzeitig anders. Denken wir an das Evangelium nach Johannes, das von der ersten Begegnung der Jünger mit Jesus berichtet (vgl. 1,35-42). Andreas, Johannes, Simon: Sie fühlten sich in der Tiefe angeblickt, im Innersten erkannt, und das lässt in ihnen eine Überraschung, ein Staunen aufkommen, durch das sie sich sofort mit ihm verbunden fühlten … Oder als Jesus nach der Auferstehung Petrus fragt: »Liebst du mich?« (Joh 21,5), und Petrus antwortet: »Ja«. Jenes »Ja« war nicht das Ergebnis einer Willensstärke, es kam nicht nur aus der Entscheidung des Menschen Simon heraus: Es kam zuvor aus der Gnade, es war jenes »primerear«, jenes Vorausgehen der Gnade. Das war die entscheidende Entdeckung für den heiligen Paulus, den heiligen Augustinus und viele andere Heilige: Jesus Christus ist stets der erste, er geht uns voraus – »primerea« –, er wartet auf uns. Jesus Christus geht uns immer voraus; und wenn wir ankommen, dann wartet er bereits auf uns. Er ist wie die Mandelblüte: Sie ist die, die als erste blüht und den Frühling ankündigt.
Und man kann diese Dynamik der Begegnung, die Staunen und Zustimmung erweckt, nicht verstehen ohne die Barmherzigkeit. Nur wer von der Barmherzigkeit zärtlich berührt wurde, kennt wirklich den Herrn. Der bevorzugte Ort der Begegnung ist die zärtliche Geste der Barmherzigkeit Jesu Christi gegenüber meiner Sünde. Und daher habt ihr mich manchmal sagen gehört, dass der Platz, der bevorzugte Ort der Begegnung mit Jesus Christus meine Sünde ist. Durch diese barmherzige Umarmung bekommt man den Wunsch zu antworten und sich zu ändern und kann ein anderes Leben entwickeln. Die christliche Moral ist nicht die titanische, willentliche Anstrengung dessen, der konsequent sein will und dem dies gelingt, eine Art einsamer Herausforderung gegenüber der Welt. Nein. Das ist nicht die christliche Moral, sie ist etwas anderes. Die christliche Moral ist Antwort, sie ist die tiefbewegte Antwort auf eine überraschende, unvorhersehbare, nach menschlichen Maßstäben sogar »ungerechte« Barmherzigkeit des Einen, der mich kennt, der meine Treulosigkeit kennt und mich trotzdem liebt, mich achtet, mich umarmt, mich erneut ruft, Hoffnung in mich setzt, etwas von mir erwartet.
Die christliche Moral besteht nicht darin, nicht zu fallen, sondern immer wieder aufzustehen, dank seiner Hand, die uns ergreift. Und auch das ist der Weg der Kirche: die große Barmherzigkeit Gottes offenbar werden zu lassen. In den vergangenen Tagen habe ich zu den neuen Kardinälen gesagt: »Der Weg der Kirche ist der, niemanden auf ewig zu verurteilen, die Barmherzigkeit Gottes über alle Menschen auszugießen, die sie mit ehrlichen Herzen erbitten. Der Weg der Kirche ist genau der, aus der eigenen Umzäunung herauszugehen, um in den grundlegenden Randgebieten der Existenz die Fernen aufzusuchen; der Weg, ganz und gar die Logik Gottes zu übernehmen«, die Logik der Barmherzigkeit (Predigt in der Eucharistiefeier mit den neuen Kardinälen, in O.R. dt., Nr. 8 vom 20.2.2015). Auch die Kirche muss den freudigen Drang verspüren, zur Mandelblüte zu werden, also zum Frühling, wie Jesus, für die ganze Menschheit. Heute gedenkt ihr auch des 60. Jahrestages des Beginns eurer Bewegung, die, wie Benedikt XVI. zu euch gesagt hat, »in der Kirche nicht aus einem organisatorischen Willen der Hierarchie entstanden ist, sondern aus einer erneuerten Begegnung mit Christus und damit, so können wir sagen, aus einem letztlich vom Heiligen Geist herrührenden Impuls hervorgegangen ist« (Ansprache an die Mitglieder der kirchlichen Bewegung »Comunione e Liberazione«, in O.R. dt., Nr. 16 vom 20.4.2007).
Nach 60 Jahren hat das ursprüngliche Charisma nichts von seiner Frische und Lebenskraft verloren. Denkt jedoch daran, dass der Mittelpunkt nicht das Charisma ist. Der Mittelpunkt ist nur einer: Jesus, Jesus Christus! Wenn ich meine geistliche Methode, meinen geistlichen Weg, meine Art, ihn umzusetzen, in den Mittelpunkt stelle, dann gerate ich vom Weg ab. Jede Spiritualität, alle Charismen in der Kirche müssen »dezentralisiert « werden: Im Mittelpunkt steht nur der Herr! Darum spricht Paulus im Ersten Brief an die Korinther am Ende seiner Ausführungen über die Charismen, diese so schöne Wirklichkeit der Kirche, des mystischen Leibes, über die Liebe, also über das, was von Gott kommt, was Gott gehört und was es uns gestattet, ihn nachzuahmen. Vergesst niemals, dezentralisiert zu sein!
Außerdem bewahrt man das Charisma nicht in einer Flasche mit destilliertem Wasser auf! Treue zum Charisma bedeutet nicht, es zu »versteinern« – der Teufel ist es, der »versteinert«, vergesst das nicht! Treue zum Charisma bedeutet nicht, es auf Pergament zu schreiben und einzurahmen. Der Bezug auf das Erbe, das Don Giussani euch hinterlassen hat, darf nicht zu einem Museum mit Erinnerungen, getroffenen Entscheidungen, Verhaltensnormen reduziert werden. Es verlangt natürlich die Treue zur Tradition, aber Treue zur Tradition – sagte Gustav Mahler – »ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche«. Don Giussani würde es euch nie verzeihen, wenn ihr die Freiheit verliert und zu Museumsführern oder Aschenanbetern werdet. Haltet das Feuer der Erinnerung an jene erste Begegnung lebendig und seid frei!
So auf Christus und das Evangelium ausgerichtet, könnte ihr Arme, Hände, Füße, Verstand und Herz einer Kirche »im Aufbruch« sein. Der Weg der Kirche besteht darin aufzubrechen, um die Fernstehenden in den Randgebieten zu suchen, Jesus in jedem Menschen zu dienen, der ausgegrenzt, verlassen, ohne Glauben, von der Kirche enttäuscht, im eigenen Egoismus gefangen ist. »Aufbrechen« bedeutet auch, die Selbstbezogenheit in allen ihren Formen zurückzuweisen, es bedeutet, dem Gehör zu schenken, der nicht so ist wie wir, von allen zu lernen, mit aufrichtiger Demut. Wenn wir Sklaven der Selbstbezogenheit sind, pflegen wir am Ende eine »Spiritualität des Etiketts«. »Ich gehöre zu CL.« Das ist das Etikett. Und dann fallen wir in die 1000 Fallen, die die Selbstgefälligkeit uns stellt, jene Selbstbetrachtung im Spiegel, die uns orientierungslos und zu reinen Managern einer Nichtregierungsorganisation macht.
Liebe Freunde, ich möchte mit zwei sehr bedeutsamen Zitaten von Don Giussani enden, eines vom Anfang und eines vom Ende seines Lebens. Das erste: »Das Christentum wird in der Geschichte nie umgesetzt als feste Positionen, die verteidigt werden müssen, die zum Neuen als reine Antithese in Bezug stehen; das Christentum ist Heilsprinzip, das das Neue annimmt und es erlöst« (vgl. Porta la speranza. Primi scritti, Genua 1967, 119). Das ist etwa von 1967. Das zweite stammt aus dem Jahr 2004: »Ich hatte nie die Absicht, irgendetwas zu ›gründen‹, aber ich glaube, dass der Geist der Bewegung, die ich entstehen sah, darin besteht, dass sie die Dringlichkeit verspürt hat, die Notwendigkeit zu verkündigen, zu den elementaren Aspekten des Christentums zurückzukehren – also zur Leidenschaft des Christentum als solches in seinen ursprünglichen Elementen und nichts weiter« (Schreiben an Johannes Paul II anlässlich des 50. Jahrestages von »Comunione e Liberazione«, 26. Januar 2004). Der Herr segne euch, und die Gottesmutter schütze euch. Und bitte, vergesst nicht, für mich zu beten! Danke.
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