
Sich der Wegbegleitung anvertrauen
Die Nachrichten der letzten Zeit lassen uns nicht unberührt: Kann unser Glaube und unsere Freundschaft ein Weg sein, alles mit Hoffnung zu betrachten? Ein Brief von unseren Freunden aus München.Eine der größten Sünden unserer Zeit ist das Vergessen. Nachrichten und Ereignisse überfallen uns mit brutaler Alltäglichkeit: Aschaffenburg, München, Mannheim, der Schatten des sich ausweitenden Krieges. Doch die Gefühlswallungen des Augenblicks berühren uns oft nur oberflächlich. Wir sind schon fast abgestumpft durch die ständige Wiederholung der Ereignisse. Zudem werden sie oft politisch instrumentalisiert. Und wir sind nur wehrlose Zuschauer, die schnell vergessen – bis das nächste Drama geschieht, sei es auf weltpolitischer Ebene oder in unserem persönlichen Leben. Von der Politik erwarten wir (zu Recht) Antworten und Sicherheit. Doch keine Politik kann jemals verhindern, dass der Mensch immer wieder dem Bösen verfällt.
In Giussanis Buch Der religiöse Sinn lesen wir, dass die Realität ein Zeichen ist. Doch wofür sind Schmerz und Leid Zeichen? Haben wir als Christen eine Hoffnung, die auch standhält angesichts des unerklärlichen Leids um uns herum? Jesus fordert uns auf, die andere Wange hinzuhalten und unsere Feinde zu lieben (vgl. Lk 6, 27-31). Kann man wirklich so leben? Ist unser Leben wirklich Mission und folgen wir Jesus bis zu diesem Punkt? Man erkennt bei ihm eine menschliche Haltung, die uns überrascht, auch wenn wir uns seiner göttlichen Natur bewusst sind. Als er vom Tod seines Freundes Lazarus erfuhr, war auch er nämlich erschüttert: „Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie sagten zu ihm: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus“ (Joh 11,32-35). Der Schmerz dieser Menschen bewegt Jesus, er bleibt nicht tatenloser Zuschauer. Auch mit der Witwe von Naïn, die ihren Sohn verloren hat (Lk 7,11-17), hat er Mitleid und sagt: „Frau, weine nicht.“ Wieso kann er das sagen? Nur im Blick auf Jesus und im Glauben an ihn konnte diese Frau Trost finden.
Was verlangt das von uns? Dass wir nicht vergessen (in der Hektik unseres Alltags oder angesichts der schrecklichen Ereignisse um uns herum), dass Gott Mensch geworden ist und seitdem unter uns wohnt. Und dass er uns durch seine Auferstehung eine Hoffnung geschenkt hat, die selbst den größten Schmerz und den Tod überwinden kann. Bitten wir Gott, dass wir jeden Tag daran denken. Denn sonst bleibt uns nur das Verdrängen oder eine nihilistische Haltung. Jesus „weiß sehr gut, dass die Feindesliebe unsere Möglichkeiten überschreitet, doch dafür ist er Mensch geworden: nicht um uns so zu lassen, wie wir sind, sondern um uns in Männer und Frauen zu verwandeln, die zu einer größeren Liebe fähig sind, der Liebe seines und unseres Vaters. Das ist die Liebe, die Jesus denen schenkt, die ihm ‚zuhören‘. Und dann wird es möglich! Dank seiner Liebe, dank seines Geistes können wir auch diejenigen lieben, die uns nicht lieben, selbst diejenigen, die uns Böses antun.“ (Papst Franziskus, Angelus, 24. Februar 2019) Unsere Hoffnung kann zur Hoffnung für die Welt werden, wenn wir diese Liebe Jesu in unser Leben lassen.
Daran hat uns auch ein Artikel erinnert, der im Zusammenhang mit der Tragödie in Paderno Dugnano (Italien) im vergangenen September erschienen ist: „Zerbrechlich und begrenzt, wie wir sind, haben wir angesichts des unerklärlichen Abgrunds des Bösen der Welt nichts anderes zu bieten als diese Liebe [Jesu], die wir selbst empfangen haben, und unsere Freundschaft als einen Ort, an dem man sie erfahren kann.“
Machen wir uns also noch mehr zu eigen, was auf dem Weihnachtsplakat von 2024 stand, und helfen wir uns gegenseitig zu erkennen, „wer und was nicht Hölle ist“.
Die Hölle ist schon da. Zwei Arten gibt es, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, dass man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben. (Italo Calvino)
„Wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist". Das ist wirklich geschehen! Lasst uns den Nebel der Gewohnheit aus unseren Augen und Herzen vertreiben und die große Neuigkeit, die große Botschaft, das Große, was sich ereignet hat, wieder zur Kenntnis nehmen. „Wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist“: die Bestimmung, unsere Bestimmung, die zur Gegenwart geworden ist. Und zwar als Vater, als Mutter, als Bruder, als Freund, als einer, der sich unerwartet zu uns gesellt hat auf unserem Weg. Ein Wegbegleiter: Immanuel, der Gott mit uns! Das ist wirklich geschehen! (Luigi Giussani)
Indem wir dem Raum geben und uns der Wegbegleitung durch den Herrn anvertrauen, können wir auch Gefährten finden – Männer und Frauen, die durch die Weise, wie sie ihre Beziehung zu Christus gelebt haben oder leben, für uns Zeugen sind. Ein Mann wie Franz Jägerstätter zum Beispiel ist in seiner tiefen Beziehung zum Herrn und seiner konsequenten Haltung ein solcher Zeuge. Und auch Papst Franziskus bezeugt uns gerade in diesen Tagen, wie man im Leid lernen kann, noch stärker auf den Herrn zu vertrauen. Das mag wenig erscheinen angesichts der Dramen, die sich derzeit auf der Weltbühne abspielen, aber Gott ist auch fast unbemerkt in die Welt eingetreten, und hat sie doch völlig verändert.