"Entdeckt euer Charisma immer wieder neu"

Ansprache von Papst Johannes Paul II.
an die Teilnehmer der Priesterexerzitien von Comunione e Liberazione in Castelgandolfo
Johannes Paul II.

Liebe Brüder in Taufe und Priestertum!

1. Ich freue mich sehr, mich am Ende euer jährlichen geistlichen Exerzitien mit euch zu treffen, zu denen sich schon seit geraumer Zeit die Priester versammeln, die der Erfahrung von Comunione e Liberazione angehören oder ihr verbunden sind.
Ich habe bereits öfter Gelegenheit gehabt, vor allem während meiner Reisen in Italien und im Ausland, die reiche und vielversprechende Blüte der kirchlichen Bewegungen kennenzulernen und habe darauf hingewiesen, dass sie Grund zur Hoffnung für die ganze Kirche und für alle Menschen sind.

Der Kirche, die aus Tod und Auferstehung Christi und durch Ausgießung des Heiligen Geistes entstanden ist und sich auf dem Fundament der Apostel und ihrer Nachfolger im Laufe der Zeit über die ganze Welt ausgebreitet hat, wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neue Gnadengeschenke zuteil. Diese haben es ihr zu allen Zeiten ermöglicht, immer wieder neu der Sehnsucht nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit zu entsprechen, die Christus im Herzen der Menschen erweckt und deren einzig erfüllende und vollkommene Antwort Er selber ist. Wie wichtig ist es für die Kirche, sich immer wieder zu erneuern, zu reformieren und die unerschöpfliche Fruchtbarkeit ihres Ursprungs immer tiefer zu entdecken!

Oft waren Päpste und Bischöfe die Träger dieser charismatischen und erneuernden Energie, manchmal hat der Geist bewirkt, dass Priester oder Laien Initiatoren und Begründer solch reformatorischer Werke in der Kirche waren, die es ihren Mitgliedern durch die Entstehung von Gemeinschaften, Instituten, Vereinigungen und Bewegungen ermöglicht haben, ihre Zugehörigkeit zu der einen Kirche und ihren Dienst an dem einen Herrn zu leben.

2. Zu den kirchlichen Bewegungen gehören neben den Laien meist auch Priester, die im Gehorsam gegenüber ihren Teilkirchen dem Leben ihrer Gemeinschaften ihren Dienst schenken, vor allem durch die Feier der Sakramente und durch ihren reifen Rat. Daher möchte ich mich nun an euch Priester wenden, um euch zu helfen, eure Zugehörigkeit zur Kirche im Kontext euer Teilnahme an der Bewegung „Comunione e Liberazione“ besser zu verstehen.

Was ich oben bereits über das Leben der Kirche gesagt habe, gilt auch für jeden Gläubigen und insbesondere für jeden Priester. Der Leib der Kirche als Institution, ihre Überzeugungskraft und ihre vereinigende Energie wurzeln in der Gnade der Sakramente. Sie finden jedoch ihren Ausdruck, ihren Modus Operandi, ihre konkrete Ausprägung in der Geschichte durch die verschiedenen Charismen, die ein bestimmtes Temperament und eine persönliche Geschichte kennzeichnen.

Wie uns die objektive Gnade der Begegnung mit Christus durch die Begegnung mit bestimmten Personen vermittelt wurde, an deren Gesichter, Worte und Umstände wir uns dankbar erinnern, so kommuniziert Christus mit den anderen Menschen durch unser Priestertum, wobei er alle Aspekte unserer Persönlichkeit und unserer Sensibilität annimmt. So wird jeder Priester, wenn er die Gnade des Sakramentes ganz und gar lebt, fähig, seinem Volk ein Gesicht zu verleihen und „Vorbild für die Herde!“ (1 Petr 5,3) zu werden.

3. Wenn eine Bewegung von der Kirche anerkannt wird, so wird sie zu einem privilegierten Instrument der persönlichen und immer wieder neuen Zugehörigkeit zum Geheimnis Christi.
Lasst niemals zu, dass sich Gewohnheit, Routine und „Altersschwäche“ in eure Zugehörigkeit einschleichen! Entdeckt das Charisma, das Euch fasziniert hat, immer wieder neu, dann wird es Euch noch mehr Kraft dazu geben, der einzig wahren Macht zu dienen, die Christus, der Herr, ist!

Das Zweite Vatikanische Konzil, dessen Abschluss vor zwanzig Jahren wir in Kürze mit einer Synode begehen werden, hat in seinen Dokumenten mehrfach zur Bildung von Priestervereinigungen ermutigt, als einem Weg, um den personalen Aspekt des apostolischen Wirkens des Priesters noch deutlicher hervortreten zu lassen. „Hochzuschätzen und achtsam zu unterstützen sind auch Vereinigungen, die nach Prüfung ihrer Satzungen von der zuständigen kirchlichen Autorität durch eine geeignete und entsprechend bewährte Lebensordnung sowie durch brüderliche Hilfe die Heiligkeit der Priester in der Ausübung ihres Dienstes fördern und auf diese Weise dem ganzen Priesterstand dienen möchten.“ (Presbyterorum Ordinis 8, vgl. auch CIC can. 298)

Die Gnadengaben des Geistes üben stets eine Anziehungskraft aus, die dem einzelnen hilft, seine spezifische Aufgabe in der Kirche zu erfüllen. Dadurch entstehen Gemeinschaften, das ist ein universales Gesetz. In ihnen zu leben gehört zum Gehorsam gegenüber dem großen Geheimnis des Heiligen Geistes.

Eine authentische Bewegung existiert also innerhalb der Institution Kirche und beseelt diese. Sie ist keine Alternative zu ihr. Es ist vielmehr Quelle einer Präsenz, die die existenzielle und historische Authentizität der Institution immer wieder erneuert. Der Priester muss deshalb in einer Bewegung das Licht und die Wärme finden, die ihn bereit machen, seinem Bischof treu zu folgen seine Aufgaben in der Kirche gewissenhaft zu erfüllen und die kirchliche Disziplin zu achten, so dass sein Glaube und seine Treue Frucht bringen.

4. Am Ende dieses Treffens möchte ich euch einladen, die Gaben zu verschenken, die euch durch das Priestertum zuteil geworden sind. Seid vor allem die Menschen der Vergebung und der Gemeinschaft, die der Welt aus dem offenen Herzen Christi geschenkt worden sind und durch die Sakramente der Eucharistie und der Beichte wirken.

Spart keine Mühen in der Erfüllung dieses Auftrags und lasst die Feier der Sakramente zu einer Schule für euer Leben werden. Seid euch bewusst, dass die Menschen zu allen Zeiten dies am nötigsten brauchen. Tragt im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet die Bitten und Nöte der Menschen, die euch anvertraut sind, vor Gott und bittet den Herrn auch um Seine Hilfe für das Leben eurer Bewegung.

Seid Meister der christlichen Kultur, jener neuen Auffassung vom Leben, die Christus in die Welt gebracht hat. Unterstützt die Bemühungen eurer Brüder, damit diese Kultur in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und des Staates noch prägender wird. Tragt mit Hingabe zur Überwindung der Spaltung zwischen Evangelium und Kultur teil, zu der ich in meiner Ansprache in Loreto die ganze Kirche Italiens eingeladen habe. Seid euch bewusst, wie groß und dringend die Aufgabe einer neuen Evangelisation eures Landes ist! Seid die ersten Zeugen dieses missionarischen Auftrags, den ich eurer Bewegung erteilt habe!

Möge die Kraft unseres Herrn Jesus Christus euch stützen, der „für alle gestorben [ist], damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde“ (2 Kor 5,15). Der Beistand der Gottesmutter Maria möge euch begleiten. Vertraut ihr eure Vorsätze und eure Hoffnungen an. Mit diesen Wünschen erteile ich euch und all denen, für die ihr als Seelsorger tätig seid, meinen Segen.