"Das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit"
Eine der tiefsten Sorgen der heutigen Kirche ist die Auslegung der Bibel. Das wesentliche Merkmal der Herausforderung, vor der wir angesichts der Frage der modernen Interpretation der heiligen Schrift stehen, hat vor Jahren der damalige Kardinal Ratzinger herausgearbeitet: “Wie ist es mir möglich, ein Verständnis zu erreichen, das nicht auf der Willkür meiner Voraussetzungen gründet, ein Verständnis, das mir erlaubt, wirklich die Botschaft des Textes zu erfassen, um mir etwas zurückzugeben, dass nicht von mir selbst kommt?”
Die jüngeren Verlautbarungen des kirchlichen Lehramtes bieten uns in Bezug auf diese Schwierigkeit Elemente, die uns vor möglichen Verkürzungen bewahren. Es ist dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu verdanken, dass das Konzept von der Offenbarung als Kommen Gottes in der Geschichte wieder aufgenommen worden ist. In der Tat ermöglicht Dei Verbum, die Offenbarung als Ereignis der Selbstmitteilung der Dreifaltigkeit im Sohn zu verstehen, “der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist” (DV2). Es ist Christus, “der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt” (DV 4).
Dieses Ereignis gehört nicht nur der Vergangenheit an, einem Moment in Zeit und Raum, sondern es bleibt gegenwärtig in der Geschichte und teilt sich selbst mit durch die Gesamtheit des Lebens der Kirche, dies es aufnimmt. In der Tat: “das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit verwirklicht sich im lebendigen Leib der Kirche”(VS 25; FR11).
Die Enzyklika Fides et Ratio beschreibt die Auswirkung, die die geoffenbarte Wahrheit im Menschen auslöst, der ihr durch einen zweifachen Impuls begegnet: a) Erweiterung der Vernunft, um sie dem Objekt anzupassen; b) die Aufnahme ihres tiefen Sinnes zu erleichtern. Anstatt die Vernunft und die Freiheit des Menschen zu erniedrigen, ermöglicht es die Offenbarung, beide in höchstem Maße von ihrem ursprünglichen Zustand aus weiterzuentwickeln.
Die Erfahrung der Begegnung mit Christus, der gegenwärtig ist in der lebendigen Tradition der Kirche, ist ein Ereignis und wird daher der entscheidende Faktor bei der Interpretation der Bibel. Es ist die einzige Art, um in Einklang mit der vom Text der Schrift bezeugten Erfahrung zu kommen. In der Tat ist “das richtige Verständnis des Bibeltextes nur demjenigen zugänglich, der eine gelebte innere Beziehung zu dem hat, wovon im Text die Rede ist” (PCB 70).Der heilige Augustinus fasst ikastisch zusammen: “in manibus nostris sunt codices, in oculis nostris facta”.