Christus, die Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen
Osterplakat 1982Christus ist ein Mensch, der von sich gesagt hat, er sei Gott.
Auf die Bitte von Philippus: „Zeig uns den Vater“, eine Frage, die alle Jünger bewegte, denn wenn sie ihm auch schon seit Jahren gefolgt waren, so hatten sie ihn doch immer noch nicht ganz verstanden (ebenso wie wir das Wort „Gott“ oder das Wort „Geheimnis“ nicht vollständig verstehen), auf die Bitte von Philippus also antwortete Jesus: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ (Joh 14,9)
Christus ist der einzige Mensch in der Geschichte, der sich mit Gott identifiziert hat. Er ist der einzige, der von sich zu sagen wagte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Wir, die wir im Alltag zerstreut und oberflächlich leben, werden uns nicht der unermüdlichen Kluft bewusst, die Gott von den Menschen trennt. Aber ein tief religiöser Mensch, ein religiöses Genie kann dieses ungeheure Missverhältnis wirklich ermessen und alle anderen lehren, dass nur Gott Gott ist, wie es alle großen Gestalten der Religionsgeschichte getan haben, zum Beispiel auch Buddha und Mohammed. Moses spürte seine Niedrigkeit vor Gott so sehr, dass er ihn anflehte, einen anderen für diese Sendung zu erwählen. Der einzige Mensch in der Geschichte der Menschheit, der sich als Gott bezeichnet hat, ist Christus.
Wie schön ist es, wenn man beim Lesen des Evangeliums entdeckt, wie die ersten Jünger, die Christus folgten – Menschen, wie wir – nicht etwa merkten, dass dieser Mensch Gott war, sondern zunächst nur das wiederholten, was er von sich sagte. Darin bestand ihr Glaubensbekenntnis.
Denn die Apostel hatten nicht einfach festgestellt, dass Jesus Gott war, sondern sie waren im Zusammenleben mit ihm so beeindruckt von ihm, dass sie nicht anders konnten, als zu sagen: Wenn wir diesem Mann nicht glauben, so können wir auch unseren Augen nicht mehr trauen. Da das so evident für sie war, nahmen sie sein Wort an, auch ohne es ganz verstanden zu haben – das Wort, das dann die ganze Geschichte der Menschheit durchdrungen und auch unser Herz ergriffen hat.
Im ersten Kapitel des Johannesevangeliums sehen wir, wie Jesus sich wie jeder andere Mensch in der Welt und der Geschichte bewegt. Er ist einer von vielen, die zu Johannes dem Täufer gehen, um ihm zuzuhören. Als er sich gerade wieder umwendet, um wegzugehen, weist Johannes der Täufer, von prophetischem Geist erfüllt, auf ihn hin und ruft aus: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ (Joh 1,29) Die meisten der Umstehenden haben dieses Wort wahrscheinlich gar nicht beachtet. Sie waren gewohnt, Merkwürdiges von ihm zu hören. Aber da waren zwei Menschen, die aufmerksam auf alle Worte von Johannes achteten. Sein eigenartiger Ausruf bewegte sie dazu, Jesus nachzugehen. Sie fragten ihn: „Meister, wo wohnst du?“ Und er antwortete: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39) Sie gingen mit und blieben den ganzen Tag bei ihm. Derjenige, der uns davon berichtet, ist einer dieser beiden. Noch Jahre später erinnert er sich genau an die Zeit, zu der dies geschah („es war um die zehnte Stunde“). Später erkannte er, dass dies die Stunde war, die sein ganzes Leben verändert hatte.
Die beiden sagten es ihren Freunden weiter, um sie an ihrer Gewissheit teilnehmen zu lassen: „Wir haben den Messias gefunden.“ (Joh 1,41) Und die Freunde kamen, sahen ihn, sprachen mit ihm und blieben eine Zeitlang bei ihm. Petrus, Andreas, Philippus und Nathanael … Geschichten wie die unseren, einfache Begegnungen, die das Leben von Grund auf verändern. Damit nahm alles seinen Anfang: durch ein Kennenlernen, durch das Aufblühen einer Freundschaft, durch ein immer tiefer werdendes Teilen des Lebens. Je länger sie mit ihm zusammen waren, desto mehr entdeckten sie in ihm eine Kraft und eine Intelligenz, die sie in Staunen versetzte. Sie entdeckten in ihm eine unsagbar große und tiefe Güte und zugleich eine klare Entschiedenheit. (Er forderte seine Feinde heraus: Wer kann mich auch nur eines Fehlers oder Widerspruches bezichtigen?) Sie stellten fest, dass er Macht über die Natur besaß. Und sie sahen, wie er sogar den Tod besiegte: „Weine nicht“, sagte er zu der Witwe von Naïn und erweckte ihren Sohn auf (Lk 7,13-15).
Vor allem aber beeindruckte er sie durch eine andere Macht: „Hab Vertrauen“, sagte er zu dem Gelähmten, „deine Sünden sind dir vergeben“. Wie vom Schlag getroffen fuhren die Pharisäer auf: Wer kann Sünden vergeben außer Gott? Und Jesus antwortete ihnen: „Was ist leichter, zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben!, oder zu sagen: Steh auf und geh umher? Ihr sollt aber erkennen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben. Darauf sagte er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh nach Hause!“ (Mt 9,5 f.)
Wer Tag für Tag Zeuge solch großer Ereignisse wurde, wie diese kleine Gruppe von Freunden, Männer und Frauen, die ihm überallhin folgten, der wollte genauer erfahren: Wer ist dieser Mensch? Sie wussten, woher er kam, kannten seine Mutter und seine Verwandten. Sie wussten alles von ihm. Doch die Macht, die dieser Mann besaß, war so unverhältnismäßig groß, seine Person war so unbegreiflich, dass die Frage eine ganz neue Bedeutung bekam: Wer ist dieser Mensch wirklich?
Eines Tages fragten seine Feinde ihn aufgebracht: Wie lange willst du uns noch im Ungewissen lassen? Sag uns, woher du stammst und wer du bist. Sie hatten schon genaueste Erkundigungen über ihn eingezogen und konnten trotzdem keine erschöpfende Antwort geben. Jesus selbst gab nach seiner Festnahme die Antwort, als der Hohepriester Kajaphas ihn fragte: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes?“ Jetzt konnte Christus nicht mehr schweigen, denn dies war das Zeugnis, für das er gekommen war. Sein Ja auf die Frage des Kajaphas versetzte den ganzen Hohen Rat in Aufruhr: Er hat gelästert, er hat sich zu Gott gemacht! (vgl. Mt 26,63-65) Aber er hatte vorher schon einmal von sich gesagt: „Noch ehe Abraham wurde, bin ich.“ (Joh 8,58)
Und noch früher, als er mit seinen Jüngern in der Gegend von Cäsarea Philippi war, hatte er ihnen die Frage gestellt: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Und ihr, „für wen haltet ihr mich?“ Simon Petrus antwortete ohne zu zögern, und seine Antwort hallt bis in unsere Tage nach. Die Worte stammen nicht von ihm, er wiederholte einen Satz, den er von Jesus gehört hatte. „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Darauf sagte Jesus zu ihm: „Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Ich aber sage dir: Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ (Mt 16,16-18)
Die Frage, die Christus seinen Jüngern stellte, ist die Frage unseres Lebens. Keine andere Frage, die sich Menschen ausdenken könnten, ist größer und entscheidender als diese. Unser ganzes Leben hängt von der Antwort auf diese Frage ab. Der Wert unserer Existenz hängt davon ab, ob Jesus nur als ein Mensch unter anderen gelebt hat, oder ob er wirklich Gottes Sohn war.
Dass die Jünger und die Frauen eine ganz andere Antwort geben als die Masse, die ihn ablehnt, liegt daran, dass sie ihm nachgefolgt waren und mit ihm zusammengelebt hatten. Genau das aber ist der Weg, auf dem sich die Evidenz im Leben erschließt. Es ist der Weg des Lebens, der in einer dauernden Beziehung, in einem alltäglichen Zusammensein besteht. Deshalb konnten sie auch sagen: Wenn wir diesem Mann nicht glauben, so können wir unseren eigenen Augen nicht mehr trauen. Die Volksmenge ging ihm dagegen nur aus Interesse oder Neugierde nach. Sie war wohl beeindruckt von der Wahrheit seiner Worte (die Wahrheit trägt ihre Evidenz in sich). Doch dieser Eindruck verflüchtigte sich bald, weil ihr Interesse, ihm zuzuhören, zwar groß war, aber ohne persönliche Anteilnahme blieb. Sie waren nicht bereit, ihm mit ihrer ganzen Person nachzufolgen.
Im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums wird berichtet, wie Jesus eines Tages, als er bewegt auf die Menschenmenge schaute, die ihm nachgelaufen war, gewissermaßen die faszinierendste Intuition seines Lebens hatte: Ihr folgt mir, weil ich euren Hunger gestillt habe. Aber ich werde euch mein Fleisch zu essen und mein Blut zu trinken geben.“ Das Missverhältnis zwischen Menschlichem und Göttlichem wird hier deutlich offenbar. Und gerade da setzt der Widerstand derjenigen ein, die nicht verstehen wollen und empört sind, weil dieser Mann ganz anders denkt als sie. Er ist verrückt! „Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben?“ Ein Raunen läuft durch die Menge, Protest wird laut, die Leute gehen weg. Christus bleibt allein mit den Zwölf in der Synagoge. Und er stellt ihnen eine weitere Frage: „Wollt auch ihr weggehen?“ Herr, ruft da Petrus (wieder Petrus!) aus, auch wir verstehen nicht, was du sagst, aber wenn wir von dir weggehen, zu wem sollen wir dann gehen? Du allein hast Worte, die dem Leben einen Sinn verleihen (vgl. Joh 6,22-71). Es ist die Antwort eines Menschen, der in Demut und Treue Christus nachgefolgt ist, weil er von der Evidenz der Wahrheit seiner Worte angezogen war.
Wer sich aber nicht traut, ihm nachzufolgen, wer es also nicht wagt, die Vertrautheit mit ihm im Alltag zu suchen, wird diese Wahrheit nie klar erfassen. Er wird keine wahre, persönliche und reife Antwort auf die grundlegende Frage Jesu geben können: Und du, für wen hältst du mich?
Wie können aber wir auf diese Frage antworten, die wir weder bei der Hochzeit zu Kana noch bei der Heilung des Gelähmten zugegen waren? Die wir nicht der Auferweckung des Jünglings von Naïn beigewohnt haben und auch nicht drei Tage lang mit Jesus durch einsame Gegenden gezogen sind, ohne ans Essen zu denken? Wie können wir die Vertrautheit mit ihm leben, aus der die Evidenz erwächst, dass allein sein Wort eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens gibt?
Der Weg, der dahin führt, ist die Gemeinschaft, die in Christus ihren Ursprung hat. Die Kirche, sein Leib, ist heute das Zeichen seiner Gegenwart. Dieser Weg besteht in der Bereitschaft, tagtäglich im Geheimnis Seiner Gegenwart, in deren Zeichen, der Kirche, zu leben. Nur durch sie können wir die rationale, ganz und gar vernünftige Evidenz wahrnehmen, dank der wir mit Gewissheit wiederholen und verstehen können, was er als einziger in der Geschichte von sich selber sagte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“