Das Ende der erbarmungslosen Einsamkeit

Gian Guido Vecchi

„Die Wahl der Schule, an der ich Religion unterrichten würde, fiel völlig zufällig auf das Mailänder Berchet-Gymnasium. Noch als ich die Stufen hinaufschritt, die ins Innere dieser Schule führten, hatte ich keine Ahnung, daß ich bald vor den Sprößlingen der wohlhabendsten Bürger der Stadt stehen würde. Ich wußte damals nichts über sie, überhaupt schien sich niemand für sie zu interessieren ...“ Wenn Monsignore Giussani heute über seinen ersten Tag als Religionslehrer berichtet, dann leuchten seine Augen wie damals, vor fünfzig Jahren, als die Schüler des Berchet-Gymnasiums in sie blickten. In Giussani fanden viele von ihnen einen lebendigen Zeugen des Glaubens. So nahm die Bewegung von CL ihren Anfang. Heute [15. Oktober 2004, A.d.R.] feiert ihr Gründer seinen 82. Geburtstag und morgen werden seine ‚Jünger’ nach Loretto pilgern, um für ein halbes Jahrhundert Gemeinschaft und Befreiung zu danken. Unter diesem Namen firmiert die kirchliche Bewegung heute in bereits über 70 Ländern. In einem Brief an den Papst unterstrich ihr ‚Gründer’ kürzlich jedoch: „Ich wollte niemals irgend etwas ‚gründen’, aber ich meine, daß der Genius der Bewegung, die ich entstehen sah, aus der Notwendigkeit einer Rückkehr zu den grundlegenden Aspekten des Christentums entstand, daß heißt, aus der Leidenschaft für das christliche Ereignis in seinen wesentlichen Aspekten, und nichts weiter“.


Monsignore Giussani, es heißt, die Wahl der Schule, an der sie zu unterrichten begannen, fiel zufällig auf das Mailänder Berchet-Gymnasium ...


Das stimmt. Sie ergab sich ebenso zufällig wie es sich ergab, daß ich kurz zuvor auf einer Zugfahrt mit Jugendlichen ins Gespräch kam und im Anschluß daran entschied, meine Dozentur am Seminar aufzugeben, um an einem Gymnasium unterrichten zu können. Denn mir war klar geworden, daß diese Jugendlich keinerlei Ahnung hatten, worum es beim Christentum geht. Es war das Berchet-Gymnasium, an das ich beordert wurde.


Die erste Unterrichtsstunde fand in der Oberstufe statt? Wie gingen Sie vor?


Ich legte vor allem Wert darauf, den Schülern den Glauben zu vermitteln, den ich selbst innerhalb des christlichen Volkes vermittelt bekommen hatte. Damit wollte ich sie für den Glauben begeistern. Das zumindest hatte ich mir an jenem ersten Schultag vorgenommen. Und die Jugendlichen interessierten sich auch gleich für mich, einige zeigten geradezu brennendes Interesse.


Wie das?


Nun, als sie mich während des Unterrichts so reden hörten, wurde ihnen bewußt, daß ‚Religion’ überraschend viel mit den Fragen nach der allumfassenden Bedeutung des Daseins zu tun hat. Das erstaunte sie. Denn daß da ein lebendiger Zusammenhang bestand, war ihnen in ihrer oft nicht unproblematischen Lage bisher ohne eigenes Verschulden verborgen geblieben. Ich bat die Gottesmutter, mir die Gnade zu schenken, diesen Jugendlichen zeigen zu können, wie tief die Religiosität in die menschliche Erfahrung hineinreicht.


War man Ihnen gegenüber voreingenommen?


Ich erinnere mich noch wie heute an den Spott und den Hohn, der mir förmlich entgegenschlug, kaum daß ich die erste Frage gestellt hatte, die sich die Schüler so nicht von mir erwartet hätten. Ein Schüler in der letzten Reihe hielt mir entgegen, daß Glaube und Vernunft in zwei völlig unterschiedliche Bereich gehören würden, daß ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen ihnen bestehen würde. Er sprach von windschiefen Parallelen, die sich niemals berühren könnten.


Wie antworten Sie auf solche Einwände?


Ich ließ mich davon leiten, die Dinge mit einer Leidenschaft anzugehen, liebend an sie heranzugehen, mich für sie zu öffnen. Ich wollte nicht einfach drauf loslegen, sondern die Beziehung suchen. Man kann eine Situation, in der es um das Leben als solches geht, nicht angehen, ohne daß dabei etwas aus den Fugen gerät, daß es Überraschungen gibt. Angesichts des Staunens, das in den Jugendlichen dabei hervorgerufen wird, fällt es dann nicht mehr schwer, sie im Gespräch zu begeistern und, bei allem Eifer, den man an den Tag legt, bleibt doch die Vernunft tonangebend: denn es wäre doch töricht, jemandem zu folgen, wenn er keine Gründe angäbe. Das menschliche Denken kommt ohne eine Klärung der Sinnfrage nicht aus. D.h. würde man nicht – entgegen den Erwartungen – bei der Wirklichkeit ansetzen, dann liefe alles darauf hinaus, etwas bestimmtes bewirken zu müssen (es fragt sich freilich, was das denn sein könne?). Und das engt mehr oder weniger ein. Was auch immer der Mensch anfangen würde, es müßte ihm vergeblich vorkommen.


Der Säkularismus scheint nun aber in Europa an Einfluß zu gewinnen. Wie kann man da noch vom Glauben sprechen?


Vor allem sollte man den Glauben nicht so auffassen, wie man das für gewöhnlich tut. Eine Erneuerung der christlichen Erfahrung – und mit ihr die Erneuerung einer jeden Beziehung – ist nicht mit kulturellen Mitteln zu bewerkstelligen, als ginge es darum, eine Theorie in die Tat umzusetzen. Vielmehr muß man erst selbst Erfahrung machen, muß selbst über persönliche Erfahrung verfügen. Der Glaube ist nicht Frucht einer abstrakt aufgefaßten Kultur, ihm geht stets ein Ereignis voraus, er ist Ereignis. Glaube ist Bewußtwerdung von etwas, das geschehen ist und weiterhin geschieht, Bewußtwerdung einer Neuheit, aus der sich alles Weitere ergibt. Es geht um ein Leben und nicht um eine Theorie über das Leben. Hat nicht Christus mit allem begonnen, indem Er im Bauch einer Frau „herumgetollt“ hat!?


Ist es das, was heute nicht mehr vermittelt wird?


Ja, in den letzten Jahrhunderten hat man aufgehört, das Christentum und die Kirche als ein Leben zu begreifen. In der Folge ist der Quellgrund für eine Antwort auf die Fragen der Jugendlichen versiegt. Es scheint keinen Zusammenhang mehr zu geben mit dem Problem, das sich einem jeden Menschen in seiner Eigenschaft als Mensch stellt: eine Antwort zu finden auf die drängenden Fragen der Vernunft. Jungen Menschen oder Erwachsenen vom Glauben zu sprechen kann daher nur heißen, ihnen eine Erfahrung mitzuteilen, nicht aber irgendwelche Gedanken über die Religion auszubreiten – und seien sie noch so richtig.


Stehen sich Vertreter laikaler und religiöser Kultur nicht mit wechselseitigen Vorbehalten gegenüber?


Auf unserer Seite gibt es da keinerlei Vorbehalte. Worüber wir uns jedoch sehr wohl im Klaren sind, ist die äußerst dramatische Situation, in der wir uns befinden. Der Dichter Carducci hat sie, wie ich finde, treffend beschrieben, wenn er sagt: „... wenn sich unsere Nachkommenschaft erschöpfen wird und das letzte Menschenpaar sich in seiner Zufluchtsstätte unterhalb des Äquators, inmitten der Bergruinen und der abgestorbenen Wälder, im fahlen Schein des Tageslichts noch einmal erheben wird, um der entschwindenden Wärme Tribut zu zollen, dann wird es versteinerten Blickes gewahren, wie du, o Sonne, im endlosen Eismeer versinkst“ (aus: Su Monte Mario).


Ein trostloses Bild …


Es beschriebt das Ende der Menschheit. Und das steht unweigerlich bevor, wenn unser Verständnis vom Menschen negativ ist, wenn menschliche Sensibilität und Intelligenz sich nicht voll entfalten können.


Gehören Sie zu denen, die in Europa eine antikatholische Tendenz heraufziehen sehen?


Die Menschen leiden heute unter einer Art existentieller Verstimmung, elementare Funktionen sind beeinträchtigt. Das entfremdet sie einander wie das Menschenpaar in Carduccis Gedicht: in dem Moment, da ihnen das Bewußtsein vom gemeinsamen Ursprung verloren geht, sind sie getrennte Leute, sie kommen nicht einmal mehr am Ende zusammen. Sie brauchen nur an ein Kunstwerk zu denken, das jemand hervorgebracht hat: man sieht darin unvermittelt und ausschließlich die eigene Leistung des Künstlers. Gleiches gilt von der Arbeit oder der Liebe zur Frau. In ganz vielen Bereichen denkt man so.


Doch was wäre die Alternative?


Noch vor allem Tun anzuerkennen, daß nichts sich selbst verdankt. Dies würde unseren Zugang zum Menschen verändern. Leopardi sprach vom „sanften, mächtigen Beherrscher meines innersten Gemüts“. Mitten in die erbarmungslose Einsamkeit, zu der sich der Mensch verurteilt, gleichsam um sich vor unliebsamen Erschütterungen zu schützen, bricht das Christentum herein – als Ereignis, das sein sonst unabwendbar unglückliches Schicksal wendet. Gott handelt immer am Menschen, indem er seine Freiheit zur Großzügigkeit herausfordert. Der moderne Einwand, daß das Christentum und die Kirche die Freiheit des Menschen einschränkten, wird von dem Abenteuer der Beziehung, die Gott mit dem Menschen eingeht, entkräftet. Aufgrund einer verkürzten Sicht der Freiheit ist es nach Meinung der Menschen von heute unmöglich, daß Gott sich auf die Begrenztheit einer Beziehung mit dem Menschen einlassen und sich dabei gleichsam selbst in unser Nichts stürzen würde. Es liegt eine gewisse Tragik darin, daß der Mensch mehr darum besorgt ist, die eigene Freiheit zu verteidigen, als die Großherzigkeit Gottes ihm gegenüber anzuerkennen. Denn sie alleine bestimmt das Maß, in dem wir Anteil an der Wirklichkeit nehmen können, und damit, wie frei wir sind.


(Aus Corriere della Sera, 15. Oktober 2004)