Wie die letzten Fragen erwachen

Aus Luigi Giussani, Der religiöse Sinn, Eos-Verlag 2011, S. 153-166
Luigi Giussani

Stellen wir uns vor, wir würden in unserem gegenwärtigen Alter, also mit unserem derzeitigen Entwicklung und Bewusstseinsstand, geboren zu werden. Was wäre die erste, die allererste Empfindung, das heißt der erste Faktor unserer Reaktion auf die Wirklichkeit? Wenn ich in diesem Augenblick, nach dem Hervortreten aus dem Schoß meiner Mutter, zum ersten Mal die Augen aufschlüge, wäre ich ergriffen von Staunen und Verwunderung über die Dinge, wie angesichts einer „Gegenwart“. Ich wäre über eine Gegenwart erstaunt und vom Abglanz dieser Gegenwart überwältigt, die man im üblichen Sprachgebrauch als „die Dinge“ bezeichnet. Das ist nichts anderes als die konkrete, und wenn man so will, banale Version des Wortes „Sein“. Das Sein, nicht als abstrakte Größe, sondern als Gegenwart, und zwar als eine Gegenwart, die ich nicht hervorbringe, sondern vorfinde, die sich mir also aufdrängt. Wer nicht an Gott glaubt, ist unentschuldbar, sagt Paulus im Römerbrief, denn er muss jenes ursprüngliche Phänomen, jene ursprüngliche Erfahrung des „Anderen“ verleugnen. Das Kind lebt diese Erfahrung, ohne sich ihrer bewusst zu werden, da es noch nicht im Vollbesitz des Bewusstseins ist. Aber der Erwachsene, der sie nicht erlebt oder als bewusster Mensch nicht wahrnimmt, ist weniger als ein Kind, er ist gleichsam verkümmert. Das Staunen über diese Gegenwart, die mich ergreift, die Verwunderung über diese Wirklichkeit, die auf mich eindringt, steht am Ursprung des Erwachens Wenn ich aufmerksam, das heißt reif bin, dann kann ich nicht bestreiten, dass die stärkste und tiefste Einsicht für mich darin besteht, dass ich mich nicht aus mir selbst schaffe, dass ich mich jetzt nicht selber mache. Ich gebe mir das Sein nicht, auch die Wirklichkeit nicht, die ich bin; ich bin mir „gegeben“. Dies ist der Augenblick der Reife, in dem ich mich selbst als von etwas anderem abhängig entdecke. Wenn ich in mich hineinblicke, bis auf den Grund, woher komme ich? Nicht aus mir selbst, aus etwas anderem. Ich erfahre mich als Strahl, der einem Springquell entspringt. Es gibt da etwas Anderes, das mehr ist als ich und von dem ich hervorgebracht wer- des menschlichen Bewusstseins. de. Wenn das aus einer Quelle fließende Wasser denken könnte, würde es auf dem Grund seines immer neuen Hervorsprudelns einen Ursprung wahrnehmen, den es nicht kennt, etwas von ihm Verschiedenes. Das ist eine Einsicht, die der menschliche Geist in seinen scharfsinnigsten Ausprägungen im Laufe der Geschichte immer wieder gemacht hat, nämlich die Intuition jener geheimnisvollen Wirklichkeit, die den Bestand seines flüchtigen Daseins, seines Ich allererst ermöglicht. Ich bin „der-Du-mich-machst“. Nur ist dieses „Du“ noch gänzlich ohne Antlitz. Und doch verwende ich dieses Wort „Du“, weil es in meiner menschlichen Erfahrung das am wenigsten unangemessene ist, um jene unbekannte Gegenwart zu bezeichnen, die vollkommen über meine menschliche Erfahrung hinausgeht. Was für ein anderes Wort sollte ich sonst verwenden? Wenn ich auf mich selbst schaue und erkenne, dass ich mich jetzt, in diesem Augenblick, nicht selbst schaffe, dann kann ich – ich, mit aller Bewusstheit und Zuneigung, die in diesem Wort mitschwingt – jenes Ding, das mich schafft, jene Quelle, aus der ich in jedem Augenblick hervorkomme, nicht anders ansprechen, als mit dem Wort „Du“. „Du, der du mich schaffst“ ist das, was die religiöse Überlieferung Gott nennt; das, was mehr ist als ich, was mehr ich ist als ich selbst; das, auf Grund dessen ich bin. Darum steht in der Bibel, Gott sei „tam pater nemo“, Vater wie sonst keiner. Denn der Vater, den wir aus Erfahrung kennen, ist der, der den Anstoß, den Beginn zu einem Leben gibt, das sich vom allerersten Augenblick an, da es ins Sein tritt, ablöst und eigene Wege geht. Als ich noch ein ganz junger Priester war, kam eine Frau regelmäßig zu mir beichten. Dann sah ich sie eine Zeit lang nicht mehr. Als sie wiederkam, sagte sie mir: „Ich habe ein zweites Töchterchen bekommen“. Und ohne dass ich ihr etwas erwidert hätte, fügte sie hinzu: „Wissen Sie, was mich zutiefst beeindruckt hat? Kaum war ich mir bewusst, dass ich entbunden hatte, dachte ich nicht etwa daran, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei, ob es gesund sei oder nicht, sondern mein erster Gedanke war: ‚Schau, es beginnt schon, sich davonzumachen!‘“ Gott aber ist Vater in jedem Augenblick, er bringt mich jetzt hervor. Kein Mensch ist Vater, Erzeuger in diesem Sinne. Das Selbstbewusstsein nimmt am Grund seiner selbst einen Anderen wahr. Darin besteht das Gebet: das tiefste Bewusstsein seiner selbst, das auf einen Anderen stößt. So ist das Gebet die einzige menschliche Gebärde, in der die Größe des Menschen vollkommen verwirklicht ist. Das Ich, der Mensch, ist die Stufe der Natur, auf der diese sich bewusst wird, dass sie sich nicht selbst schafft, so dass der gesamte Kosmos gleichsam die weite Peripherie meines Leibes bildet, in nahtloser Kontinuität. Man kann auch sagen: Der Mensch ist jene Stufe der Natur, auf der diese die Erfahrung der eigenen Kontingenz macht. Der Mensch erfährt sich als kontingent. Er hat Bestand durch etwas anderes, denn er schafft sich nicht selbst. Ich stehe aufrecht, weil ich mich auf einen anderen stütze. Ich bin, weil ich gemacht bin. So wie meine Stimme: Sie ist der Widerhall einer von mir hervorgerufenen Schwingung. Unterbreche ich diese Schwingung, so gibt es auch die Stimme nicht mehr. Oder wie Quellwasser, das ganz dem Quell entstammt. Oder wie eine Blume, die in allem von der Triebkraft der Wurzel abhängt. Also sage ich nur dann bewusst und meinem menschlichen Wesen voll entsprechend „ich bin“, wenn ich damit meine „ich bin geschaffen“. Davon hängt das ganze Gleichgewicht des Lebens ab. Da die natürliche Wahrheit des Menschen, wie wir gesehen haben, in seiner Geschöpflichkeit besteht, ist der Mensch ein Wesen, das da ist, weil es immer schon in Besitz genommen ist. Und nur wenn er anerkennt, dass er in Besitz genommen ist, atmet er auf, fühlt sich wohl und ist glücklich. Das wahre Selbstbewusstsein wird treffend dargestellt durch das Kind auf den Armen seines Vaters oder seiner Mutter. Dort kann es jeder Situation des Daseins in tiefer Ruhe und freudig ins Auge sehen. Keine Therapie kann das schaffen, ohne dabei den Menschen zu verstümmeln. Um sich vom Makel bestimmter Verwundungen zu befreien, unterdrückt der Mensch oft sein eigenes Menschsein. So dienen also alle Regungen der Menschen, sofern sie nach Frieden und Freude streben, der Suche nach Gott, nach dem, der vollkommener Bestand ihres Lebens ist.