DAS LEBENDIGE ERBE VON JOHANNES XXIII. UND JOHANNES PAUL II.

Beitrag von Julián Carrón in der italienischen Zeitung Avvenire, 27. April 2014
Julián Carrón

ZEUGEN, DIE DAS WESENTLICHE SICHTBAR GEMACHT HABEN

Man muss sich in die Situation der Kirche in den Fünfzigerjahren zurückversetzen, um die historische Tragweite der beiden Päpste zu verstehen, die heute heiliggesprochen werden. Die Kirche war damals in Gefahr, sich in sich selbst zu verschließen, und es gelang ihr nur schwer, in eine angemessene Beziehung mit dem modernen Denken zu treten. Es bedurfte einer epochalen Wende, um Christus den Menschen unserer Zeit wieder überzeugend und anziehend zu verkünden.

„Die barmherzige Nachsicht Gottes, die den Menschen erlöst“. Mit diesen Worten hat Don Giussani das Zeugnis des „Papa buono“, des „gütigen Papstes“ einmal zusammengefasst, der in Pacem in Terris geahnt hatte, dass der „Bruch“ zwischen dem Glauben und dem Leben der Getauften daher rührt, „dass sie in christlicher Lebensführung und christlicher Lehre nicht genügend gebildet sind. […] [Die religiöse Bildung] muss also notwendig umfassend sein, [und] ununterbrochen fortgesetzt […] werden.“ (Nr. 80)

Wer hätte sich auch nur kurz zuvor ein Ereignis wie das Zweite Vatikanische Konzil vorstellen können? Es bedurfte einer einfachen Persönlichkeit wie Johannes XXIII., um die Verantwortung auf sich zu nehmen, ein ökumenisches Konzil einzuberufen. Und auch wenn schließlich Paul VI. die Arbeiten der Vollversammlung zu Ende führte, der Verdienst, es einberufen und die ersten Schritte getan zu haben, wird immer bei Roncalli liegen. Wie Joseph Ratzinger schon 1968 beobachtete, gehörte Johannes XXIII. „zu den wenigen wirklich großen Persönlichkeiten, die alle Schemata überwinden und selber auf kreative, neue Weise das leben, was am Ursprung steht, die Wahrheit selbst, und es schaffen, dies wieder offenbar zu machen“. Man meint hier einen der vielen Aufrufe zum Wesentlichen von Papst Franziskus zu lesen.

Während Johannes XXIII. das Verdienst zukommt, das Konzil einberufen zu haben, ist es dem anderen Papst, der heiliggesprochen wird, Johannes Paul II. zu verdanken, dass er den Auftrag des Konzils und die Sorge um dessen Umsetzung, die Paul VI. bewegte, weitergeführt hat. Nach Jahren der sogenannten „nachkonziliaren Krise“ (Montini sprach von einem „Tag des Nebels, des Sturmes, des Dunkels, der Suche und der Unsicherheit“), in denen man klar sah, was ausgedient hatte, aber gleichzeitig noch auf der Suche nach dem war, was wirklich auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten konnte, stellte Johannes Paul II. einen frischen Windstoß für die Kirche dar.

Vielleicht wird uns jetzt erst langsam bewusst, wie sehr seine Wahl das Leben der Kirche geprägt hat. „Mit der Kraft eines Riesen – die er von Gott erhalten hat – hat er eine Tendenz umgedreht, die unumkehrbar erscheinen mochte, [...] [und] den Christen auf der ganzen Welt geholfen, keine Angst zu haben, sich Christen zu nennen, zur Kirche zu gehören und vom Evangelium zu sprechen.“ (Benedikt XVI., Predigt anlässlich der Seligsprechung von Johannes Paul II., 1. Mai 2011) Papst Wojtyla verkörperte, wie es Don Giussani ausgedrückt hat, „die eindeutige Gewissheit darüber, was der Inhalt der christlichen Botschaft auch für die Geschichte dieser Welt bedeutete, nämlich der Glaube an den menschgewordenen Gott und der daraus folgende Enthusiasmus für diesen Gottmenschen, auf den sich alle Hoffnung des Einzelnen und der ganzen Welt richten kann.“

Wer erinnert sich nicht an die wichtige programmatische Enzyklika Redemptor Hominis?

„Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. […] Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will – nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins –, muss sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. Er muss sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muss sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung ‚aneignen‘ und assimilieren, um sich selbst zu finden.“ (Nr. 10)

Mit seinem persönlichen Zeugnis eines mit einzigartigem Bewusstsein und Mut gelebten Christentums hat Johannes Paul II. auf geniale Art und Weise das theologische Fundament des katholischen Glaubens in seinen drei „trinitarischen“ Enzykliken neu vorgeschlagen: Christus, die Mitte des Kosmos und der Geschichte (Redemptor Hominis); Gott, der barmherzige Vater (Dives in Misericordia); der Heilige Geist, der Herr ist und lebendig macht  (Dominum et Vivificantem). Gleichzeitig hat er auch alle anthropologischen und kulturellen Implikationen des christlichen Glaubens für das Leben des Menschen aufgezeigt: die Vernunft, die durch den Glauben aufgewertet und geheilt wird (Fides et Ratio); die Abhängigkeit der Moral vom Glauben (Veritatis Splendor); den Beitrag des Glaubens zu Fragen der Wirtschaft und der Arbeit (Sozialenzykliken); die missionarische Natur des Glaubens (Redemptoris Missio); die Fähigkeit des Glaubens, das Geheimnis des Schmerzes (Salvifici Doloris), des menschlichen Lebens (Evangelium Vitae) und der Familie (Familiaris Consortio) zu erleuchten. In diesen Texten erfährt der Mensch, welche Verheißung der christliche Glaube darstellt und wie er auf seine Sehnsucht nach Erfüllung in jedem Aspekt des Lebens antwortet.

Bei einer Gedenkrede auf Johannes Paul II. im Jahr 2005 sagte der damalige Kardinal Jorge Mario Bergoglio, dieser sei „ein Mensch, der sein ganzes Ich ins Spiel bringt. Und mit seiner ganzen Person, mit seinem gesamten Leben, mit seiner Transparenz bestätigt er das, was er predigt.“ Ein Zeuge, der das Wesentliche sichtbar gemacht hat, nämlich Jesus Christus, den Einzigen, der das Menschliche rettet und das „unruhige Herz“ jedes Menschen mit wahrer Freude erfüllt.