„Die einzigartige Stimme des Ideals“
Begegnung von Don Julián Carrón mit Jugendlichen von CL in RomLiebe Freunde, dies ist ein entscheidender Augenblick in eurem Leben, denn in uns, in jedem von uns, gibt es einen Kampf zwischen der „einzigartigen Stimme des Ideals“ (wie wir gesungen haben), die wir alle in uns wahrnehmen, und jenen Umständen, die allzu oft versuchen, diese Stimme zum Schweigen zu bringen. Deshalb wissen wir nicht, in welche Richtung wir gehen sollen. Diesen Kampf erlebt jeder von uns in sich. Deshalb ist dieser Augenblick besonders dramatisch. Denn Entscheidungen, wie jene, die ihr jetzt trefft, sind „lebensentscheidend“. Ihr beginnt, euch aller Faktoren bewusst zu werden, und seht, wie euer ganz eigenes Profil hervortritt: „Was mache ich in dieser Welt?“ Ich verstehe sehr gut das Drama, das fast jeder in dieser Zeit des Lebens durchmacht. Es ist eine Zeit, die einen zur Entscheidung drängt. Ihr schließt eine Lebensphase ab, und das verlangt jetzt Entscheidungen. Man muss eine Wahl treffen, denn das Leben wartet nicht. Man muss sich entscheiden, denn selbst wenn man sich nicht entscheidet, ist das auch eine Entscheidung. In der Tat treffen alle am Ende der Oberstufe eine Entscheidung und stellen sich dem Leben, mit ihrem ganz eigenen Profil, und dabei gibt es diesen Kampf. So heißt es auch in dem Lied: „Bleib nicht am Hof der Kleingeister, die nur alles nachmachen, aber nichts verstehen. Und steig nicht hinauf zur Burg der jungen Selbstgerechten, die nur die Sonne anbeten.“ Das Ideal lädt uns dagegen ein, gegen diese Verkürzungen anzukämpfen. Wir müssen uns also zunächst bewusst machen, dass es diesen Widerstreit gibt.
Die zweite Frage ist die nach dem Weg. Wir müssen den Weg kennen, um dieses Ideal zu erreichen. Denn „der Mensch bricht nur auf, wenn er weiß, wohin es geht.“
Don Giussani lehrt uns: „Nur in der Klarheit und in der Gewissheit über sein Ziel kann der Mensch die Energie zum Handeln aufbringen.“ Deshalb wollen wir uns helfen und klären, was wir brauchen, um leben zu können, um uns ins Leben stürzen zu können. Denn das ist die Herausforderung des Augenblicks, in dem ihr lebt, eine Notwendigkeit, die aus der Tiefe unseres Seins entsteht, aus der Entdeckung, dass das Leben Berufung ist.
1) Wofür lohnt es sich zu leben?
Die erste Frage zur Berufung, die wir uns stellen müssen, besteht aber nicht darin, was wir wählen müssen. Das ist dann die Konsequenz. Die erste Frage ist die, die unsere Herzen so oft bedrängt: „Wer bin ich? Weshalb bin ich auf der Welt? Wofür lohnt es sich zu leben? Wozu dient das Ich? Wozu dient mein Ich?“ Wie ihr seht, geht es um die Frage des Lebens. Es ist die grundlegende Frage für jeden von uns. Die allererste Entscheidung besteht also darin, diese Frage ernst zu nehmen, die uns bedrängt. Denn, wie Rainer Maria Rilke sagt, „alles ist einig, uns zu verschweigen“, um uns nach anderen Kriterien handeln zu lassen. Wenn wir diese Frage aber verdrängen, dann tun wir der Natur des Menschen Gewalt an. Wir töten die Natur des Menschen ab, wir blockieren unser Ich in seiner Ausspannung auf das Leben. Deshalb sind wir heute zusammengekommen, weil wir diese Frage nicht abwürgen, die Stimme des Ideals nicht zum Schweigen bringen wollen.
Stellen wir uns vor, dass ein Teil von irgendetwas, beispielsweise das Rad eines Autos, sich fragen würde: „Worin besteht mein Nutzen? Was tue ich hier?“ Die Antwort wird nur innerhalb einer Beziehung verständlich, in der Beziehung des Rads zum ganzen Auto. Wenn wir uns also fragen: „Wozu dient mein Leben? Was soll ich tun?“, dann geht es darum, das Kriterium zu finden, das uns mit allem verbindet. Wir müssen das Kriterium finden, „durch dessen Befolgung der Mensch sich selbst in der Welt nützlich macht, und zwar so, dass er seine Persönlichkeit immer mehr verwirklicht, auf sein Glück zugeht […] und sich nicht verliert“. Gebt acht, denn dieser Punkt ist entscheidend: Der Welt zu dienen bedeutet nicht, uns selbst zu verlieren. Im Gegenteil, im Dienst an der Welt gewinnen wir uns selbst, verwirklichen wir uns. Es ist grundlegend, dass wir das verstehen. Denn viele meinen, die einzige Weise, sich selbst zu verwirklichen, bestehe in der Selbstbehauptung (nicht in der Bejahung seiner selbst durch die Beziehung zum Ganzen, sondern durch die Beziehung zu sich selbst). Und dann stehen sie schließlich alleine in einer Sackgasse und fragen sich, welchen Sinn das Leben hat. Deshalb ist das so entscheidend. Zu meiner Selbstverwirklichung muss ich verstehen, wozu ich in der Welt bin. Ansonsten werde ich mich unvermeidlich verlieren. Wie kann ich das aber verstehen? Wie kann ich verstehen, was ich in der Welt tun soll? Wozu ich nützlich bin?
Um auf diese Frage antworten zu können, müssen wir verstehen, was der Sinn der Welt ist, was die Bedeutung der Welt ist. Und dies, meine Freunde, ist für uns geheimnisvoll: Was ist der Sinn des Ganzen? Was ist der Sinn der Welt, der Geschichte? Der heilige Paulus sagt: Gott „hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern.“ Es wäre wirklich schwer, den Sinn der Welt zu entdecken – oder, mit anderen Worten: Gott – und damit meine Nützlichkeit in der Welt, wenn wir im Dunkeln, in diesem Geheimnis blieben. „Dann bestünde für das ganze Leben das wahre moralische Gesetz darin, von den Andeutungen dieses unbekannten ‚Herren‘ abzuhängen, gespannt auf die Zeichen seines Willens zu warten, die uns allein durch die unmittelbaren Umstände erscheinen würden. Ich wiederhole: Der Mensch, das vernünftige Leben des Menschen, hinge vom Augenblick ab, wäre in jedem Augenblick abhängig von diesen scheinbar so willkürlichen Zeichen, so zufällig wie die Umstände.“ Der heilige Thomas von Aquin sagt es in gelehrten theologischen Worten: „Die Wahrheit, zu der die Vernunft hinsichtlich Gottes gelangen kann, ist wohl de facto nur für eine kleine Zahl zu erreichen, und erst nach viel Zeit, und nicht ohne Vermischung mit Irrtum.“
Doch das Geheimnis hatte Erbarmen mit uns. Als es uns so hilflos sah, hatte es Erbarmen mit uns und trat in unsere Geschichte ein, um uns das zu offenbaren, wozu wir aus eigener Kraft nie vordringen könnten. Es wurde Mensch, um den Menschen zu helfen, sie selbst zu werden, um den letzten Sinn der Welt zu enthüllen und den Menschen zu helfen, den Sinn des Lebens zu erkennen. Jesus Christus hat einen Ausdruck benutzt, der beschreibt, welche Bedeutung die Welt hat: das Reich Gottes. Der ganze Wert der Wirklichkeit besteht darin, das Reich Gottes aufzubauen und am Aufbau dieses Reiches teilzunehmen. Das heißt, teilzunehmen am Aufbau einer Welt, die dem Ideal entspricht, das Fleisch geworden ist. Das Geheimnis hat damit wesentlich dazu beigetragen, dass wir erkennen, welchen Platz wir in der Welt haben. Mein Wert und dein Wert hängen davon ab, in welchem Maße wir am Reich Gottes mitarbeiten, in welchem Maße wir der Menschheit helfen, auf ihr Glück zuzugehen. Denn nur wenn wir an diesem Reich teilhaben – das in der Anerkennung seiner Gegenwart unter uns besteht – kann der einzelne sein Glück und seine Erfüllung finden.
Ihr müsst euch bei jeder einzelnen meiner Aussagen fragen: Ist das wahr oder nicht? Es geht hier nicht darum, Sätze mit einer gewissen Logik zu wiederholen, und damit wäre das Problem gelöst. Nein! Ihr müsst euch aufrichtig der Frage stellen. Sonst versteht ihr die Tragweite dessen nicht, was wir uns sagen. Und dann entscheidet ihr auf Grundlage von Worthülsen, die ihr nicht verstanden habt. In diesen Gedanken, die ich hier ausgeführt habe, geht es wirklich um das Leben. Deshalb ist dies ein wichtiger Augenblick, um euch klarer bewusst zu werden, wer ihr selbst seid, was ihr in der Welt tut und was der Sinn der Welt ist.
„Für die Entscheidung über die Berufung gibt es also nur ein Kriterium: Wie kann ich, mit all dem was ich spirituell, intellektuell, charakterlich, durch meine Erziehung und physisch bin, am besten dem Reich Gottes dienen?“
2) Die Entdeckung der Berufung
Wie kann ich die Zeichen verstehen, die mir zeigen, wie ich am besten dem Reich Gottes dienen kann? Ich muss diesen „Organismus“ verstehen, der ich bin, um zu verstehen, wie ich all das, was ich besitze, all das, was ich in mir vorfinde und was mir geschenkt worden ist, sinnvoll für das Reich Gottes einsetzen kann.
Ich möchte das aufnehmen, was Don Giussani sagte, und es zum besseren Verständnis in drei große Kriterien unterteilen. Jeder von uns findet eine Reihe von Fähigkeiten, Wünschen, Neigungen und einen bestimmten Charakter in sich vor. Uns wurden all diese Gaben gegeben, damit wir sie für etwas im Leben benutzen. Wie kann ich all diese Gaben, die der Herr mir geschenkt hat, nutzen, um am besten dem Reich Gottes zu dienen? „Es gibt beispielsweise eine bestimmte Form der Intelligenz, die völlig dumm zu sein scheint, wenn man sie auf die Mathematik anwendet. Sie ist aber genial, wenn es darum geht, eine Erzählung zu entwickeln [...] Es ist ein schriftstellerisches Genie, das in der Mathematik scheinbar völlig dumm zu sein scheint. Zwinge ich also eine solche Person, die Technische Universität zu besuchen, dann verhindere ich, dass sich ihre Gabe für die Menschheit auszahlt.“ Wenn also Lehrer, Vater, Mutter, Geschwister, das Kindermädchen und der Haushund dir sagen: „Nein du musst die Technische Hochschule besuchen!“, dann „töten“ sie dich. Das scheint banal. Du wirst nie glücklich sein, du wirst es nie zu etwas bringen und nie zu etwas nutze sein. Du hast deinen Ort in der Welt nicht gefunden, und deshalb bist du betrogen worden. Denn du hast dich für etwas entschieden, ohne deine Begabungen zu berücksichtigen. „Es gibt beispielsweise jemanden, der in der Musik genial ist. Wenn ich ihn zwinge, Öffentliches und Privates Recht zu studieren, wird der Ertrag für die Menschheit sicherlich gering ausfallen. Und damit wird auch sein Lebensweg schwerer. Denn beides entspricht sich stets. Identität oder Schönheit ... Die Schönheit des Weges entspricht – da die Schönheit der Aufschein des Wahren ist – der Nützlichkeit, die wir in der Welt haben [...]. Die Schönheit des Weges entspricht der Verwirklichung unserer Bestimmung. Um also diese Bedingungen [dieses Bündel an Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten] zu verstehen, muss man vor allem aufmerksam für seine natürlichen Begabungen und Fähigkeiten sein [das, wohin es mich zieht, wofür ich eine gewisse Fertigkeit, eine Genialität besitze]. Wie heißt das Phänomen, das die Gaben hervorbringt, die natürlichen Fähigkeiten? Es ist die Neigung. [...] Die Natur führt uns in die Ideale ein, aber stets durch einen Geschmack oder durch eine Neigung, durch eine Freude oder ein Bedürfnis. [...] Deshalb besteht die erste große praktische Regel [...] in der Einfachheit“, in der Aufrichtigkeit, diese Gaben zu beachten, anzuerkennen und liebzugewinnen. Sie sind das erste Zeichen, das mir die Wirklichkeit anbietet, um mir zu zeigen, was ich in der Welt tun soll. Der größte Fehler, den wir bei der Entscheidung unserer Berufung machen können, besteht darin, „uns in einen Widerspruch zu unseren Neigungen, zum Geschmack, zur Lust zu bringen, sofern sie authentisch sind [...] sofern sie angeboren sind.“ Fassen wir zusammen: Wir müssen auf die Gaben, den Charakter, die Neigungen, die uns ausmachen, achten. Denn durch sie ruft uns das Geheimnis, das uns diese Fähigkeiten und Neigungen eingeschrieben hat. Es schickt uns keinen Engel, sondern formt uns im Inneren, um uns zu sagen, wozu es uns beruft. Denn Er hat uns so geschaffen. Deshalb muss auch die Berufswahl diesen angeborenen Neigungen Rechnung tragen, damit wir uns dorthin aufmachen, wohin uns Gott durch die Fähigkeiten, die er uns schenkt, ruft. Er ruft dich, aber nicht von außen, sondern indem er dir all diese Neigungen gibt.
Zweites Kriterium: die unvermeidlichen Bedingungen oder die unvermeidlichen Umstände. Don Giussani sagt, dass der „unvermeidliche Umstand gewissermaßen der größte Freund ist, den wir auf Erden haben, weil er der offensichtlichste Faktor unserer Existenz ist. Denn bei der Bewertung unserer Neigungen und Begabungen gibt es oft Unsicherheit oder Angst.“ Nicht alle sind ein Mozart, und nicht bei allen zeigen sich von Anfang an die Begabungen und Fähigkeiten mit solcher Klarheit. Manchmal ist dies nicht so offensichtlich, während die unvermeidlichen Umstände offensichtlich sind. Zugleich möchte jemand beispielsweise unbedingt Astronomie studieren, weil er dafür wirklich begabt ist. Aber er wird vielleicht daran gehindert, zum Beispiel aufgrund familiärer Umstände, mangelnder finanzieller Ressourcen, also wirklich unvermeidlicher Bedingungen. Vielleicht wurde die Familie durch die Wirtschaftskrise finanziell ruiniert und er muss unmittelbar eine Arbeit finden. Die unvermeidlichen Umstände bestimmen die Möglichkeit, gewisse Dinge zu tun. Jemand möchte gern Rad fahren oder an den Olympischen Spielen teilnehmen, weil er athletisch hoch begabt ist. Doch dann hat er einen Unfall und hinkt. Um zu verstehen, was er in der Welt machen soll, hilft ihm der Zorn nicht weiter. Es hilft nur, wenn er die unvermeidlichen Umstände akzeptiert. Stellt euch vor, der Hinkende ist dickköpfig und sagt trotz seiner Behinderung: „Ich möchte unbedingt zu den Olympischen Spielen.“ Das wäre doch verbohrt und unsinnig! Aus dem Blickwinkel der Berufung würde Don Giussani sagen: „Der unvermeidliche Umstand ist tausendprozentig, mit absoluter Gewissheit ein Hinweis für den Weg, den wir gehen sollen. Deshalb gibt es nichts, was uns freundlicher, freundschaftlicher gesinnt wäre, als der unvermeidliche Umstand.“ Ich möchte noch einen wichtigen Aspekt hinzufügen: Was ich hier sage, ist kein Fatalismus, die Bestimmung ist kein Schicksal! Alles, absolut alles, wird zu einem Instrument der Berufung! Bist du dir sicher, dass du deine Erfüllung und Befriedigung als Athlet besser finden könntest, als durch jenen unvermeidlichen Umstand? Nein. Wenn ich diesen Unfall als Teil meines Weges zur Bestimmung akzeptiere, dann erwarte ich gespannt, wie der Herr es schafft, mich mit dem hinkenden Bein zu meinem Glück zu führen. Es gibt keinen Zweifel: Ich werde nicht mein ganzes Leben klagen. Im Gegenteil: Dieser unvermeidliche Umstand wird zu einem grundlegenden Element, durch das mich das Geheimnis zur Bestimmung, zum Ideal, zum Glück führt. Wenn wir jedoch beim Zorn stehen bleiben, schaufeln wir uns unser eigenes Grab. Denn es können einem viele Umstände begegnen, die unvermeidlich sind. Wenn das Leben aber nicht auch weiterhin einen Sinn hätte (und wenn wir glaubten, dass nur bestimmte Personen mit bestimmten Fähigkeiten das Ziel erreichen können), dann hinge alles nur vom Zufall ab. Nein, jeder Umstand gehört zum Erreichen der Bestimmung, des Glücks dazu. Und das ist wirklich befreiend! Denn das Glück hängt nicht vom Erfolg im bürgerlichen Sinne ab, sondern von meinem Dienst am Ganzen, am Reich Gottes. Deshalb kann es denselben Wert haben, ob einer Pförtner oder Minister ist.
Drittes Kriterium: Das Bedürfnis der Gesellschaft, oder besser: das Bedürfnis der Welt und der christlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich die Welt in diesem geschichtlichen Augenblick anschauen: Was braucht sie? Was braucht die Kirche? Was braucht die christliche Gemeinschaft? Jeder muss schauen, was er für das Dringlichste hält. Denn es kann Epochen und Umstände geben, in denen eine vollkommene Hingabe an Gott dringlicher ist, und andere Zeiten, in denen es wichtiger ist, dass Menschen mitten in der Welt, in der Arbeit, in der Familie stehen und der Gesellschaft so bezeugen, was das Leben ist, welchen Sinn es hat, zu leben. Auch so können wir entdecken, wozu wir berufen sind.
„Das Urteil muss aus dem Zusammenhang dieser Faktoren hervorgehen. Doch dies führt zu einer anderen Beobachtung: Ohne Reflexion und ohne einen Vergleich – im Dialog – mit der Gemeinschaft und dem, der die Gemeinschaft führt, gehen wir unweigerlich instinktiv und mechanisch an die Sache heran. Wir denken über alles nach, aber bei der Frage, von der die Gestalt unseres ganzen Lebens in seiner persönlichsten Dimension abhängt, bleiben wir mechanisch und begnügen uns mit dem, was wir in uns spüren. Man muss sich aber Gedanken machen, und sich Gedanken zu machen bedeutet, sich mit seiner Bestimmung, seinem Ziel, mit Gott, dem Ziel des Lebens, zu vergleichen, mit dem Dienst am Reich Gottes. Für wen die Frage noch offen ist, der muss sich diese Kriterien zu eigen machen. Und wer unvermeidliche Umstände vorfindet, der muss ebenfalls von diesen Kriterien ausgehen, wenn auch in anderer Weise.“ Stellt euch vor, ihr gewinnt im Lotto ein paar Millionen. Normalerweise würde man jemanden, der sich auskennt, fragen, wo man das Geld investieren soll, damit man es nicht verliert, oder? Diese Frage stellt man nicht aus Pflicht, sondern aus Interesse: Mich interessiert dieser Vergleich, damit ich das Geld nicht verliere. Sicher entscheide am Ende ich, aber ich würde es gerne bewusst entscheiden, damit ich mein Geld am besten anlege. Wenn das beim Geld der Fall ist, wie viel mehr mit dem Leben: Ich möchte doch sicher sein, dass ich alle Faktoren berücksichtige, die mir eine möglichst fundierte Entscheidung erlauben. Die Vernunft ist schließlich das Berücksichtigen aller Faktoren.
3) Die Entscheidung der Berufung
All dies vorausgesetzt, gibt es zwei grundlegende Fragen zu entscheiden. Jeder von uns ist berufen, im Leben zwei grundlegende Entscheidungen zu treffen.
a) Die Berufung als Wahl des Lebensstandes
„Es gibt zwei grundlegende Lebensstände: der eine ist der ‚normale‘, ‚natürliche‘, sich durch die Vermittlung einer anderen Person vor Gott zu stellen.“ Was bedeutet es, sich Gott durch die Vermittlung einer anderen Person zu stellen? Dass – wenn du dich verliebst – die Person, die dich am meisten bewegt, die dich am meisten öffnet, die dich am meisten antreibt, die dich am meisten auf etwas anderes hin verweist, ein „Mittler“ zu Gott ist. Du bist dazu berufen, dich der ganzen Wirklichkeit durch dieses Faktum zu öffnen, das dir geschehen ist, das du vorfindest. Wenn Gott dir diese Person gibt, dann nicht, um dich zu blockieren, sondern um dich weit zu öffnen für das Geheimnis, um dich noch mehr für jene Totalität zu öffnen, für die du geschaffen bist. So erhältst du nach und nach Zeichen, durch welche Bestimmung dich Gott ruft. Du gehst auf Gott zu durch eine Vermittlung, in der Wegbegleitung, durch die Vermittlung eines anderen (oder einer anderen). In diesem Sinne folgt man dem großen Gesetz, das den Menschen mit Gott verbindet durch die irdische Wirklichkeit, und so sagt man: „Ich werde mit diesem Menschen bis an das Ende der Welt gehen.“ Ich gehe auf meine Bestimmung zu, ich bin dazu berufen, mit dieser Person meine Bestimmung zu erreichen, weil sie mich am meisten an das Ziel des Lebens erinnert. Nicht, dass diese Person mich glücklich machen könnte, denn das kann sie nicht. Und hier muss man wirklich aufpassen, weil bei dieser Frage meist falsche Vorstellungen herrschen. Meine Sehnsucht ist nämlich viel zu groß, und das wird gerade hier am deutlichsten: Keine Person wird deine Sehnsucht nach Glück so sehr wecken wie jene. Aber gleichzeitig ist keine Person so wenig in der Lage, diese Sehnsucht zu stillen. Deshalb darf man seinem Mann oder seiner Frau diese Unfähigkeit nicht vorhalten. Es muss einem vielmehr klar sein, dass dies Teil der Bestimmung ist. Jene Person ist dir gegeben, um dein ganzes Bedürfnis wachzurufen, und damit ihr gemeinsam auf den zugeht, der es erfüllen kann. (Deshalb ist die Ehe eine Berufung, weil sie dir die Möglichkeit eröffnet, deine Bestimmung zu erreichen.) Wenn du dagegen die Bestimmung mit jener Personen identifiziert, dann blockierst du dich und dir passiert dasselbe, wie allen, die denken: „Endlich weiß ich, wozu ich geboren wurde.“ Worin besteht aber dann in eurem Kopf die Nützlichkeit für die Welt? In dem Wunsch, diese Person zu besitzen, und Schluss! „Weshalb sollte ich darüber hinausgehen? Weshalb sollte ich mich anderen öffnen?“ Nach einer Weile erstickt ihr euch aber gegenseitig und trennt euch, weil ihr es nicht mehr aushaltet. Ihr seid so sehr füreinander geschaffen, dass ihr es nicht mehr miteinander aushaltet! Wenn wir diesen Fehler machen, dann werden wir so enden, wie wir es leider bei vielen sehen. Denn sie verstehen die Natur der menschlichen Liebe nicht, und warum uns das Geheimnis so geschaffen hat: um uns mehr für den zu öffnen, der das Leben erfüllen kann. „Im Bereich des Christlichen ist die Wirklichkeit dieses Lebensstandes [die Gründung einer Familie] grundlegend, weil ihm die Möglichkeit anvertraut ist, das Reich Gottes auszuweiten [durch die Kinder].“
Im Leben der Kirche gibt es aber noch einen anderen Lebensstand, den der Jungfräulichkeit, „und der hat ebenfalls eine grundlegende Funktion. Sie wird deutlicher, wenn wir auf den letzten und erschöpfenden Grund zurückkommen, weshalb man sich Gott hingibt: Der Grund ist die Nachahmung Christi [Christus, das Geheimnis, das Fleisch geworden ist, hat in der Geschichte eine Form eröffnet, dem Reich Gottes zu dienen, und für dieses Reich zu leben, sein Leben dafür hinzugeben, dass sich der Wille Gottes erfüllt. Genau das hat Jesus getan, der keine Familie gegründet hat. Er hat sein ganzes Leben dafür hin gegeben.] Die Nachahmung Christi ist das Gesetz aller Christen, aber wenn man diesen Lebensstand wählt, erreicht es objektiv seinen Höhepunkt [die Berufung zur Jungfräulichkeit stellt den Höhepunkt dar], denn sie ist die vollkommene Nachahmung des Lebensstandes Christi. Der Lebensstand Christi war in seiner Fülle die Beziehung zum Vater, die personal gesehen durch nichts vermittelt war [so wie in der Ehe die Beziehung mit dem Vater durch einen anderen vermittelt ist, ist hier die Beziehung zum Vater durch nichts vermittelt].“ Jene, die dazu berufen sind, sind zu einer einzigartigen, unmittelbaren, direkten Beziehung zum Geheimnis berufen. Darin besteht die Jungfräulichkeit: Gott beruft dich, Gott legt einen Samen in dein Leben, schenkt dir eine Erfahrung des Lebens, aufgrund derer er dich so erfüllt und dankbar macht, dass du sagst: „Ich will das!“ Und er schenkt dir die Freiheit, dein ganzes Leben hinzugeben – aber nicht um dir etwas wegzunehmen. Denn das geschieht um einer größeren Fülle und nicht in erster Linie um des Opfers willen. Aufgrund der Faszination für Christus empfindet jemand den Wunsch, ihm alles hinzugeben: „Ich bin für dich, Christus.“ Achtung! Niemand sollte an diesen Weg aus einem anderen Grund denken, als um dieser Fülle willen! Nicht weil es perfekter wäre, nicht weil es schöner wäre. Nein, weil jemand in dieser Fülle leben und sie um nichts in der Welt verlieren möchte. Es kommt auch vor, dass Menschen dies plötzlich empfinden, die zunächst an einen anderen Weg gedacht hatten. Sie hatten vielleicht nie an diesen Weg gedacht, und nun empfinden sie eine solche Fülle, dass sie sagen: „Dies ist zu groß, das ist zu schön, um ihm nicht zu folgen.“
Deshalb sagte Don Giussani: „Christus in seiner Jungfräulichkeit hat nichts gefehlt. Deshalb ist der Verzicht, in diesem Falle … keine Zurückweisung von etwas, sondern ein Wert, ein tieferer und endgültigerer Besitz der Dinge. Die Jungfräulichkeit Christi war eine tiefere Form des Besitzes der Frau, eine tiefere Form des Besitzes der Dinge. Dies fand schließlich seine Erfüllung in der Auferstehung, durch die Christus alle Dinge in Besitz nahm, so wie wir sie am Ende der Welt besitzen werden. In diesem Sinne ist die Jungfräulichkeit innerhalb der christlichen Gemeinschaft gewissermaßen der „ideale“ Zustand, auf den sich alle beziehen müssen.“
Gestern kam in einer Vorlesungspause an der Katholischen Universität eine Studentin zu mir und sagte mir, sie würde nach einer jahrlangen Beziehung mit ihrem Freund gerne „zum Anfang“ zurückkehren, zu jenem ersten Aufleuchten der Beziehung, als sie sich noch nicht berührt hatten. Das ist die Jungfräulichkeit! Weshalb hat diese junge Frau wohl nach Jahren noch Sehnsucht nach diesem Augenblick? Weil alles, was danach geschehen ist, nicht einmal einen Funken jener Fülle zurückgebracht hat, die sie damals empfand. Die Beziehung der beiden besteht fort. Und doch sehnt sich die Frau danach, ihren Freund so zu besitzen und von ihm so besessen zu werden, wie in diesem ersten bewegenden Augenblick. Die Jungfräulichkeit ist eine tiefere Weise, die Frau zu besitzen, eine tiefere Weise, die Dinge zu besitzen. Und heute, am Christi-Himmelfahrtstag, feiern wir das: dass der auferstandene Christus in die Tiefe der Dinge eingedrungen ist, um sie zu besitzen. Auch wir werden sie am Ende der Tage besitzen. Es wird auch im affektiven Sinne eine wahre Erfüllung sein, weil es das ist, wozu wir alle berufen sind. „Die Jungfräulichkeit stellt im Leben der Kirche [im Reich Gottes] die höchste Form dar. Deshalb hat die Kirchengeschichte das höchste Zeugnis für Christus mit zwei Dingen identifiziert: Jungfräulichkeit und Martyrium. Die Jungfräulichkeit steht in der christlichen Gemeinschaft in Funktion und als Zeugnis für das Ziel des Lebens.“ In diesem Sinne können wir alle ausrufen: „Der Grund, weshalb du deine Freundin oder deinen Freund liebst, weshalb du heiratest, weshalb du Kinder bekommst, hat einen Namen, den ich dir mit meinem Leben zurufe: Christus. Und das, wofür du geschaffen bist und Frau und Kinder hast, existiert, ich bezeuge es dir. Weshalb? Weil ich mein Leben dafür hingegeben habe. Und mein Leben gäbe es nicht, wenn es Ihn nicht gäbe.“ Solch ein Leben wäre unmöglich, wenn Christus nicht in die Geschichte eingetreten wäre und uns nicht so sehr fasziniert hätte, dass wir für ihn leben können.
Welchen der beiden Wege soll man also einschlagen? „Die Entscheidung für den einen oder anderen Weg können wir nicht selbst hervorbringen. Wir müssen sie vielmehr anerkennen. Wir müssen das anerkennen, wofür wir bestimmt sind. Es darf nicht unsere Entscheidung in dem Sinne sein, dass wir sie aus eigenem Willen hervorbringen, sondern es ist unsere Entscheidung in dem Sinne, dass unsere Freiheit den Zeichen zustimmt, die uns den Weg weisen.“ Das Wichtigste für die Entscheidung der Berufung ist also, uns auf das Geheimnis hin zu erziehen, uns dazu zu erziehen, dass wir ganz offen sind, ganz aufmerksam für jene Zeichen, durch die wir verstehen können, wozu wir berufen sind.
Und das, meine Freunde, ist oft nicht leicht. Denn wir alle sind für das „Eindeutige“, wir wollen Klarheit, und deshalb wollen wir den Weg beschleunigen, auch wenn er uns noch nicht völlig klar ist. Deshalb empfinden wir oft ein Unbehagen, sind ungeduldig. Da dieser Zustand unangenehm ist, möchten wir ihn sofort beenden. Und oft irren wir uns dabei. Anstatt abzuwarten, dass die Zeichen hervortreten, durch die uns das Geheimnis die Hinweise gibt, denen wir folgen können, entscheiden wir entweder selbst – oder lassen einen anderen entscheiden. Aber der Weg ist letztlich Gehorsam. Er ist ein Gehorsam, der alles in sich trägt, wofür ich geschaffen bin, der alle Faktoren berücksichtigt, die mich wirklich zu mir selbst führen. Doch es ist nicht „meine“ Entscheidung.
b) Die Berufung als Wahl des Berufes
Alles was wir bisher gesagt haben, hilft uns auch zu verstehen, welchen Weg wir bei der Wahl des Berufs einschlagen müssen. Ich möchte aber eine grundlegende Sache unterstreichen: „Das moderne Verständnis des Lebens ist nirgendwo so weit vom Geiste Christi entfernt, wie an diesem Punkt. Das Kriterium, mit dem die heutige Mentalität auf die Zukunft schaut, ist der Vorteil, den ich davon habe, ob ich Lust dazu habe oder nicht, ob es mich mehr oder weniger Mühe kostet, etwas zu erreichen. Welchen Weg man einschlägt, welche Menschen man liebt, welchen Beruf man ausübt, was man studiert, alles wird letztlich nur danach entschieden, welchen Nutzen es für einen hat. Und das scheint so offensichtlich und selbstverständlich, dass man den Aufruf zum Gegenteil für einen Verstoß gegen die guten Sitten, für eine Schwärmerei oder eine Übertreibung hält. Solche Einwände kommen auch von Lehrern, die sich als Christen verstehen, oder von Eltern, die nur das Beste für ihre Kinder wollen. Die privaten oder öffentlichen Urteile, die Ratschläge für ein gelungenes Leben, die Mahnungen und Warnungen, alles entspringt einem Blickwinkel, bei dem die Hingabe an das Ganze, die Sorge für das Reich Gottes überhaupt nicht vorkommen und die Wirklichkeit Christi vollkommen ausklammert wird.“ Wir können von Comunione e Liberazione sein, wir können Christus begegnet sein, aber im entscheidenden Augenblick, wenn wir die grundlegenden Entscheidungen treffen, spielt Er überhaupt keine Rolle. Deshalb ist dieser Augenblick dramatisch, und ich bekomme eine Gänsehaut (und ihr vielleicht erst recht, die ihr euch entscheiden müsst), so sehr steht die gesamte Mentalität, in die wir eingetaucht sind, dem entgegen.
Versteht ihr nun, um welchen Kampf es sich handelt? Der Kampf besteht darin, der einzigartigen Stimme des Ideals zu folgen (da sie es ist, die uns den Weg weist) – oder uns von der Mentalität der Welt verschlingen lassen. Wenn wir uns das nicht offen sagen, sind wir keine Freunde. Ich sage euch das, weil ich euer Freund bin. Denn bei dieser Frage geht es um das Ziel des Lebens. Es geht um die Frage, was wir hier tun. Wenn wir in diesem entscheidenden Moment die Berufswahl nicht mit dem verbinden, was wir hier tun, kommen wir vom Weg ab. „Was wird mir das alles bringen? Wie habe ich den größten Vorteil?“ Das sind die weltlichen Kriterien der vorherrschenden Mentalität und des sogenannten gesunden Menschenverstandes. Die christliche Mentalität dagegen kehrt diese Fragen um, sie widerspricht hier und unterstützt genau die umgekehrte Haltung: „Wie kann ich, mit dem was ich bin, dem Ganzen, dem Reich Gottes, Christus am besten dienen?“ Das ist das einzige Kriterium, das dem Menschen gemäß ist, der durch das Licht und die Macht des Geistes Christi erlöst wurde.
„In der Wahl der Arbeit und des Berufs kommt noch eine dritte Kategorie zum Tragen, [die ich bereits vorhin angesprochen habe]: die Bedürfnisse der Gesellschaft. Aber für den Christen können diese Kriterien nicht isoliert von einem anderen, tieferen Verständnis gesehen werden: den Bedürfnissen der christlichen Gemeinschaft.“ Was bedeutet also im letzten diese Verfügbarkeit, wenn nicht Offenheit gegenüber der Berufung? Wir müssen darum beten, dass der Herr uns die Gnade schenkt, alle Zeichen zu erkennen, die es uns erlauben, unsere Berufung in der Welt zu erkennen, so dass wir nicht den falschen Weg einschlagen. Und wir müssen darum beten, dass wir bereit sind. Denn manchmal erkennen wir die Dinge sonnenklar, sind aber nicht bereit, sie zu tun.
„Diese Bereitschaft, sein Leben in den Dienst am Ganzen zu stellen, ist äußerst wichtig, gerade damit wir verstehen, welche Funktion darin zu übernehmen wir berufen sind, welche persönliche Berufung wir haben.“ Denn die Berufung, meine Freunde, ist kein Befehl. Niemand verpflichtet euch hier, nicht einmal Christus hat einen Befehl erteilt. Es ist ein Ratschlag, eine Einladung, eine Möglichkeit, die euch alle Freiheit lässt. Nach allem, was wir gesagt haben, liegt also die ganze Freiheit in dramatischer Weise in euren Händen.