Eine Hypothese, die nicht mehr bloß Hypothese ist
Aus Luigi Giussani, Am Ursprung des christlichen Anspruchs, Eos Verlag, St. Ottilien 2011, S. 43-44Stellen wir uns die Welt als eine unermesslich weite Ebene vor, auf der sich unzählige Gruppen von Menschen unter der Leitung ihrer Ingenieure und Architekten bemühen, nach den verschiedenartigsten Plänen Brücken zu bauen, die mit Tausenden von Bogen eine Verbindung zwischen Himmel und Erde herstellen sollen, um den Ort der vergänglichen Wohnsitze des Menschen mit dem „Stern“ der Bestimmung zu verbinden. Die Ebene ist übersät von unzähligen Baustellen, auf denen eine fieberhafte Tätigkeit entfaltet wird. Da kommt auf einmal ein Mensch daher, wirft einen Blick auf diese angestrengte Bautätigkeit und ruft laut: „Haltet ein!“ Die Zunächststehenden und nach und nach auch alle anderen legen ihre Arbeit nieder und schauen ihn an. Er erklärt ihnen: „Ihr seid groß und voller Edelmut, ihr habt euch auf hervorragende, doch beklagenswerte Weise bemüht, denn es wird euch niemals gelingen, diese Brücke zu bauen, die eure Erde mit dem ‚Stern des letzten Geheimnisses‘ verbindet. Lasst ab von euren Plänen, legt eure Werkzeuge nieder! Die Bestimmung hat sich eurer erbarmt, folgt mir: Ich werde die Brücke bauen, ich nämlich bin die Bestimmung.“ Versuchen wir uns die Reaktion der Leute auf diese Behauptung vorzustellen. Alle, zuerst die Architekten, dann die Bauleiter und die Vorarbeiter, würden bestimmt ihren Leuten zurufen: „Nein, die Arbeit wird nicht eingestellt. Auf, machen wir uns wieder an die Arbeit. Merkt ihr denn nicht, dass dieser Mensch verrückt ist?“ Und die Menge würde ihnen beipflichten: „Natürlich ist er verrückt, man sieht doch, dass er verrückt ist!“ Und dann würden sie den Anordnungen ihrer Chefs folgen und ihre Arbeit wieder aufnehmen. Nur einige wenige wären von diesem Menschen zutiefst beeindruckt und würden ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden. Sie würden nicht wie die große Masse ihren Vorgesetzten gehorchen, sondern ihm folgen. Diese gleichnishafte Erzählung beschreibt das, was sich in der Geschichte ereignet hat und was sich weiterhin in ihr ereignet.
Wir stehen nun nicht mehr vor einem Problem theoretischer (philosophischer oder moralischer) Art, sondern vor einem geschichtlichen Problem. Die erste Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, lautet nicht: Ist das, was die christliche Verkündigung sagt, vernünftig und richtig? Sondern: Stimmt es oder stimmt es nicht, dass sich dies ereignet hat? Ist es wahr, dass Gott in die Geschichte eingegriffen hat?
Ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Methode, die bei der Auseinandersetzung mit der „neuen“ Frage erforderlich ist, sich grundlegend von der bisherigen unterscheidet. Während der Mensch die Existenz eines geheimnisvollen quid – Gottes – durch die Analyse seiner Erfahrung der Wirklichkeit entdecken kann und wird (wir haben gesehen, mit welcher Fülle von Dokumenten die Geschichte belegt, dass dies immer wieder geschieht), kann das sich uns jetzt stellende Problem – da es sich um ein geschichtliches Faktum handelt – nicht durch eine analytische Reflexion über die Struktur der menschlichen Beziehung zur Wirklichkeit verifiziert werden. Es geht darum, ob sich ein Faktum in der Geschichte ereignet hat oder nicht. Entweder gibt es dieses Faktum, oder es gibt es nicht. Entweder ist es geschehen, oder nicht. Entweder ist es tatsächlich ein Ereignis, das im Leben des Menschen sichtbar geworden ist und daher danach verlangt, als Faktum anerkannt zu werden, oder es bleibt eine bloße Idee. Die Methode kann also hier nur darin bestehen festzustellen, ob es ein objektives historisches Faktum ist.
Wer die Frage beantworten will, ob Gott tatsächlich in die Geschichte eingegriffen hat, muss sich also in erster Linie mit diesem ungeheuren Anspruch auseinandersetzen, den die christliche Botschaft stellt. Er muss sich mit der Frage beschäftigen: Wer ist Jesus Christus? Das Christentum ist die Antwort auf diese Frage.