Sommerfreizeit der Studenten in den Dolomiten

Ferien in den Bergen - Bemerkungen von Don Giussani

Das Gebirge als Prophezeiung für den Weg des Menschen und für die christliche Verheißung der Erfüllung. Eine Reihe von Bemerkungen über das Gebirge, zusammengestellt aus verschiedenen Büchern und Beiträgen Don Giussanis.

Man ist im Gebirge. Wir machen den Aufstieg zum ersten Mal. Der Bergführer sagt uns: «Bleibt jetzt eng an der Felswand und schaut nicht zurück. Hangelt euch die Felswand entlang und macht dann vorsichtig einen größeren Schritt. Es besteht keine Gefahr. Dann geht normal weiter ...». So geht man voran; man folgt dem, was der Bergführer sagt: das ist der Gehorsam. Bei einem unbekannten Aufstieg im Gebirge tut man gut daran, dem Bergführer zu folgen, denn er ist einer, der den Aufstieg schon kennt oder jedenfalls etwas vom Bergsteigen versteht. Bei wie vielen Dingen im Leben ...
Aus: Si può (veramente?!) vivere cosi?, Biblioteca Universale Rizzoli 1996, S. 214


Das, was Er sagte, ließ einen aufatmen und den Kopf wieder erheben, es ließ einen hoffen, es führte einem den Grund des Lebens wieder vor Augen, es ließ einen verstehen, dass es für den Menschen auch in der Widersprüchlichkeit, der Mühe und den Schmerzen des Lebens ein Ziel gibt – so wie wenn man auf einen Berg klettert und sich die Hände aufschürft, müde wird, schwitzt, Durst hat und sich in einer ständigen Anspannung befindet: in all dem hat man ein Ziel, auf das man zugeht.
Aus: 30Giorni, Nr.2, Februar 1996, S. 38

Helfen wir uns also dabei, Klarheit zu gewinnen, denn es kann sein, dass man eine Sache zwar erahnt oder intuitiv erfasst oder auch im Großen und Ganzen verstanden hat, und doch ist sie noch nicht ganz klar. Je klarer sie dagegen ist, desto dauerhafter ist sie uns auch im Gedächtnis und ermöglicht es uns, treu zu sein und nachzufolgen: wenn eine Sache klar ist, bleibt sie im Gedächtnis, und man weiß besser, wem man zu folgen hat. Helfen wir uns also dabei, das zu klären, was wir in gewisser Weise schon verstanden oder erahnt oder intuitiv erfasst haben, denn auch die Wahrheit ist wie ein schönes Panorama, das man im Hochgebirge sieht: man geht mehr oder weniger langsam und mühsam, aber man kommt doch näher. Der Unterschied ist - doch das gilt auch für das Gebirge: das Näherkommen geht nie zu Ende! Wenn etwas wahr ist, so ist es unendlich.
Aus: Si può (veramente?!) vivere cosi?, S. 352

Es ist wie bei einer Bergtour auf den Pana da Selva im Grödnertal, wenn man auf die Berge schaut oder auf dem Boden nach Fossilien sucht – beides ist der gleiche Akt einer Suche, die von einer Positivität ausgeht, der Akt einer Bewunderung für die Natur und eines Staunens über die Schönheit. Die Wirklichkeit ist ein Weg, aber sie beginnt, zur Gemeinschaft zu werden. Wenn du dann mit zwei oder drei ganz vertrauten Freunden zusammen bist, wird sie zur Gemeinschaft, an der alles teilhat: wenn man mit zwei oder drei einander herzlich vertrauten Freunden zusammen ist, so hat auch die Natur daran teil. [...] Wenn du keinen Sinn für das Ziel hast und es negierst, so bist du negativ: die Natur ist für dich wie zu Eis erstarrt. Es ist wie wenn du zum Beispiel von Selva auf den Monte Pana hinaufsteigst und innerlich voller Angst bist, weil man dir gesagt hat, dass deine Mutter, die oben im Gasthof war, einen Schlaganfall hatte: du gehst mit einem derartigen Herzklopfen hoch, dass du die schönen Berge, das Longa-Tal oder den Sassolungo nicht einmal wahrnimmst.
Aus: Vivendo nella carne, Biblioteca Universale Rizzoli 1998, S. 86-87

Wenn du im Gebirge auf einen Gipfel gelangen willst und an einem bestimmten Punkt aufgeben willst, weil du ein Geröllfeld vor dir hast, so ist es die Vorstellung, am Gipfel anzukommen und den Sonnenaufgang zu sehen, die dich weitergehen lässt ... In entsprechender Weise muss das Ideal immer festere Gestalt in uns annehmen, so dass das Herz immer mehr erinnert wird. Dies nennt sich Gedächtnis: das Gedächtnis ermöglicht es, dass im Laufe der Zeit das Ideal immer vertrauter wird - wie eine stete Erinnerung und Begleitung – und dich immer mehr Geschmack gewinnen lässt.
Aus: Realtà e giovinezza. La sfida, Società Editrice Internazionale 1995, S. 72

Es ist kein Zufall, dass wir für unsere Ferien das Gebirge gewählt haben (wir haben nicht mit dem Meer begonnen, weil das Meer die Zerstreuung begünstigt). Die gesunde Umgebung und die imponierende Schönheit der Natur lassen uns stets von neuem danach fragen, was der Wirklichkeit ihr Sein, ihre Ordnung und ihre Schönheit verleiht.
Es ist eben zuallererst die Wirklichkeit, die den religiösen Sinn in uns weckt. Mit der nötigen Disziplin, auf die immer großer Wert gelegt wurde (die Disziplin ist wie ein Flussbett: das Wasser fließt darin reiner, klarer und schneller; die Disziplin ist notwendig, insofern der Sinn von allem anerkannt wird), wurden die Ferien im Gebirge in der Erfahrung der daran teilnehmenden Personen zu einer – wenn auch flüchtigen - Prophezeiung für die christliche Verheißung der Erfüllung, zu einem kleinen Vorgeschmack auf das Paradies, und jede Einzelheit sollte diese Verheißung in sich tragen und jenen Vorgeschmack vermitteln.
Aus:L’avvenimento cristiano, Biblioteca Universale Rizzoli 1993, S. 45-46

Der Monviso war höher als die anderen Gipfel, dann wurde die Silhouette des Gebirges immer größer, und hinter der Jungfrau in der Schweiz sah man den Monte Rosa. Wie konnte ein derartiges Gebirge entstehen? Das bleibt letztlich im Dunkeln. Wenn auch dies klar wäre, so würde man es gleichsam in der Hand haben. Doch all das bleibt im Dunkeln. Es ist das, was vom Sein im Dunkeln bleibt und sich Geheimnis nennt.
Dies ist der Greuel, der am Beginn der Geschichte steht, und der sich in den Ursprüngen der modernen Kultur wiederholt: der Mensch als Maß aller Dinge. Das ist die Lüge schlechthin; denn der Mensch als Maß aller Dinge beseitigt das Geheimnis, das heißt er beseitigt jenen geheimnisvollen Grund, auf dem sich der Gipfel des Monviso erhebt, jenen Grund, von dem man beim Betrachten des Monviso versteht, dass er völlig im Nebel und im Dunkeln bleibt. Die steinernen Wurzeln des Gebirges liegen darunter, sie werden im Dunkeln und im Nebel gleichsam verkleinert und einander gleich gemacht, und hieraus geht dieser phantastische Blickpunkt hervor, den man aus 300 oder 400 Kilometern Entfernung sieht, wenn man im Flugzeug aus Spanien kommt zum Beispiel, oder wenn man ihn vom Priesterseminar in Venegono aus betrachtet. Eben dort, wo jemand versteht, dass er die Person oder die Sache, die er vor sich hat, oder das gerade geschehende Ereignis nicht besitzt – denn er hat es ja nicht gemacht, und er kann auch nicht erhoffen, es zu besitzen, denn sein Leben ist kurz und das Maß seiner Kräfte reicht noch kürzer -, eben dort kann er sich ganz dem hingeben und anvertrauen, was diese Sache geschaffen hat, demjenigen, der den Monviso geschaffen hat, dem Geheimnis also, aus dem die Alpenkette hervorgeht und aus dem auch du selbst hervorgegangen bist. Man kann sich dann voller Sicherheit hingeben und anvertrauen, wenn einem eine Sache nicht gehört.
Aus: Si può (veramente?!) vivere cosi?, S. 408-410

Es ist wie bei den letzten Schritten einer Bergtour, wenn man plötzlich, nachdem man oben angekommen ist, das ganze Panorama vor sich hat: so unvorhergesehen wie das Panorama im Gebirge, so unvorhergesehen ist auch die Gnade.
In: Litterae Communionis, April 1990, S.VIII

Veröffentlicht in:Spuren Juli/august 2002