Ratzingers Kreuz

aus La Repubblica, 15. Februar 2013
Julián Carrón

Sehr geehrter Herr Chefredakteur,

Ihr Editorial über die Rücktrittsankündigung von Papst Benedikt XVI. beschreibt die Situation, in der wir uns alle seit Montagvormittag vorfinden: „Es ist eine Nachricht die alle betrifft, die um die Welt geht und alle überrascht. (…) Wehe man tut so, als sei nichts geschehen.“
Für einen Augenblick stand die Welt still. Wir alle, gleich wo wir waren, hielten einen Augenblick inne und schauten in das ebenso erstaunte Gesicht dessen, der neben uns stand. In jener Minute der Stille lag alles. Keine Kommunikationsstrategie hätte eine solche Wirkung erzielen können. Wir standen vor einem ebenso unglaublichen wie realen Faktum, das uns durch seine Evidenz mitriss, so dass wir unsere Blicke von den alltäglichen Dingen erhoben.
Was konnte die Welt so plötzlich mit Stille erfüllen?
In dieser überraschenden Minute lösten sich mit einem Schlag alle Vorstellungen auf, die wir normalerweise vom Christentum haben: ein Ereignis der Vergangenheit, eine weltliche Organisation, ein Geflecht bestimmter Rollen, eine moralische Instanz für Dinge, die es zu tun oder zu lassen gilt. Nein, dies alles reicht nicht aus, um angemessen zu begründen, was am 11. Februar geschah. Den Grund muss man woanders suchen.
Deshalb dachte ich angesichts der Ankündigung des Papstes: Sicher wird man sich jetzt fragen, wer Christus für Joseph Ratzinger ist, wenn diese Beziehung ihn zu einem so überraschenden Akt der Freiheit führt, den alle – ob gläubig oder nicht – als außergewöhnlich und zutiefst menschlich begreifen. Wenn wir dieser Frage aus dem Weg gehen würden, bliebe uns das Geschehene unerklärlich, ja schlimmer noch, das Wertvollste dieses Zeugnisses entginge uns. Denn es ruft uns ins Bewusstsein, wie real die Person Jesu Christi im Leben des Papstes ist, wie machtvoll sie ihm gegenwärtig sein muss, um einen solchen Akt der Freiheit gegenüber allem und allen zu vollziehen, eine solche dem Menschen unmögliche, unerhörte Neuheit hervorzurufen. Wer bist Du, der Du einen Menschen so faszinierst, dass er frei wird und dadurch in uns den Wunsch weckt, genau so frei zu sein? „Christus ergreift mich ganz in seiner Schönheit“, rief Jacopone da Todi, ein anderer leidenschaftlicher Anhänger Jesu, aus. Eine andere Erklärung für diesen Schritt konnte ich nicht finden.
Mit seiner Initiative hat Papst Benedikt ein so bedeutendes Zeugnis für Christus abgelegt, dass dessen ganzes Wirken machtvoll aufleuchtet und uns alle gewissermaßen ergreift. Wir standen vor einem Geheimnis, dass unsere Aufmerksamkeit fesselte. Wie selten geschieht es, dass ein Zeugnis die Welt zwingt, zumindest für einen Augenblick still zu sein!
Sicherlich, die Zerstreuung führte uns schon im nächsten Augenblick woanders hin, wie wir an vielen Reaktionen sehen konnten. Man wich sofort in die Niederungen der Interpretationen und der kirchenpolitischen Kalküle aus. So konnten wir nicht erkennen, was uns wirklich ergriffen hatte. Dennoch kann niemand mehr jenen unendlichen Augenblick der Stille aus seinem Sein tilgen.
Nicht nur die Freiheit des Papstes, sondern auch seine Fähigkeit, die Wirklichkeit zu verstehen und die Zeichen der Zeit zu deuten, verweist machtvoll auf die Gegenwart Jesu. Der heilige Augustinus sagte über den Zöllner Zachäus, der auf einen Feigenbaum gestiegen war, um Jesus sehen zu können: „Der Herr schaute gerade Zachäus an. Er wurde angeschaut und so konnte er sehen. Wäre er nicht angeschaut worden, so hätte er nicht sehen können.“ Der Papst hat uns gezeigt, dass nur die Erfahrung des gegenwärtigen Christus uns das „Sehen“ ermöglicht. Das heißt, wir müssen unsere Vernunft mit Hellsichtigkeit gebrauchen, um schließlich zu einem vollkommen überzeugenden Urteil über den geschichtlichen Augenblick zu gelangen. Nur so können wir uns eine Geste vorstellen, wie er sie vollzogen hat. „Ich habe dies in voller Freiheit zum Wohl der Kirche getan, nachdem ich lange gebetet und vor Gott mein Gewissen geprüft habe. Ich bin mir des Ernstes dieses Aktes sehr bewusst, aber ich bin mir ebenso bewusst, nicht mehr in der Lage zu sein, das Petrusamt mit der dafür erforderlichen Kraft auszuüben.“ Welch ein unerhörter Realismus! Wo aber kommt der her? „Mich trägt und erleuchtet die Gewissheit, dass es die Kirche Christi ist und der Herr es ihr nie an Seiner Leitung und Sorge fehlen lassen wird.“ (Generalaudienz, 13. Februar 2013).
Der letzte Akt dieses Pontifikats scheint mir der äußerste Gestus eines Vaters zu sein, der allen, in und außerhalb der Kirche, zeigt, wo sich die Gewissheit findet, die uns wirklich von den Ängsten befreit, die uns fesseln. Er tut dies mit einem symbolischen Gestus, wie die Propheten im alten Israel. Um dem Volk die Gewissheit einer Rückkehr aus dem Exil zu vermitteln, machten sie etwas scheinbar Absurdes: Sie kauften Land. Auch Papst Benedikt ist so gewiss, das es Christus nicht an Seiner Führung und Fürsorge für die Kirche fehlen lassen wird, dass er, um dies deutlich zu machen, einen scheinbar absurden Schritt tut: Er tritt zurück, um Christus den Raum zu geben, dass Er der Kirche eine neue Leitung schenkt, die die notwendige Kraft für diesen Dienst besitzt.
Das beschränkt die Bedeutung dieses Gestus jedoch nicht auf die Kirche. Durch die Sorge der Kirche setzt Christus nach Seinem geheimnisvollen Plan ein Zeichen für die Welt, durch das alle sehen können, dass sie in ihrer Ohnmacht nicht alleine sind. In einer „Welt, die sich so schnell verändert [… und die] durch Fragen, die für das Leben des Glaubens von großer Bedeutung sind, hin- und hergeworfen“ wird, Fragen, die oft Verwirrung und Ohnmacht hervorrufen, bietet der Papst dem Menschen einen Fels an, an dem er seine Hoffnung festmachen kann, so dass er die Stürme des Alltags nicht zu fürchten braucht und vertrauensvoll in die Zukunft schauen kann.

Der Autor des Beitrags ist Präsident der
Fraternität von Comunione e Liberazione