Der moderne Mensch auf der Suche nach dem Licht

Der vom Chefredakteur von la Repubblica erbetene Beitrag Julián Carróns über den Dialog zwischen Papst Franziskus und dem Journalisten Eugenio Scalfari (la Repubblica, 18. September 2013).
Julián Carrón

Sehr geehrter Herr Chefredakteur,
mit einer ungewöhnlichen Geste – einem an die Zeitung la Repubblica gerichteten Brief – ging Papst Franziskus auf Fragen ein, die Eugenio Scalfari nach dem Erscheinen der Enzyklika Lumen fidei aufgeworfen hatte.
Was hat den Heiligen Vater dazu bewegt? Der Wunsch, „ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen“ und damit zugleich zu zeigen, wie weit er selbst in eigener Person eine „Kultur der Begegnung“ vorleben möchte. Was erlaubt es dem Papst, mit jemandem ein Stück des Weges zu gehen, der anderer Auffassung ist – in diesem Fall mit dem Gründer der Zeitung la Repubblica? Die Tatsache, dass beide als Person jenes Licht benötigen, welches es ermöglicht, so gut wie möglich als Mensch zu leben: „Auch ich würde mir wünschen, dass es dem Licht gelingt, die Finsternis zu durchdringen und sie zu vertreiben“ war die Antwort von Scalfari auf das Angebot von Papst Franziskus.
Es ist diese Sehnsucht nach einem Licht, das hilft, nicht vom Weg abzukommen, an der sich der Dialog unter uns Menschen bewerten lässt. Jedwede Erfahrung im Leben muss sich am Ende an diesem Bedürfnis messen, das wir immer mit uns herumtragen, das uns im Grunde zutiefst ausmacht. Wer dieser Sehnsucht aufrichtig gegenübersteht, den drängt es, in einen wahren Dialog zu treten, wenn man das eigene Leben ernst nimmt.
Der moderne Mensch hat versucht, auf das genannte Bedürfnis mit dem Licht der Rationalität zu antworten. Ist ein ehrlicher, ungekünstelter Dialog zwischen einem modernen Menschen mit seinem Stolz auf die eigene Autonomie und Vernunft und einem Nachfolger Petri überhaupt möglich?
Papst Franziskus und Eugenio Scalfari haben es gezeigt. Sie haben auch gezeigt, wo sich dieser Dialog abspielt: nicht in einer dialektischen Auseinandersetzung, sondern in der Begegnung zweier menschlicher Erfahrungen. Der Dialog ist möglich, aber nur dann, wenn jeder dazu bereit ist, die eigene Erfahrung, die er im Leben gemacht hat, ins Spiel zu bringen.
Papst Franziskus hat sich bereit erklärt, sich auf eine Auseinandersetzung auf dieser Ebene einzulassen und keine andere „Vollmacht“ anzuführen als seine persönliche Erfahrung als Mensch, der sich nach dem Licht sehnt: „Für mich entsteht der Glaube aus der Begegnung mit Jesus. Einer persönlichen Begegnung, die mein Herz angerührt und meinem Leben eine Richtung und einen neuen Sinn gegeben hat. Aber gleichzeitig eine Begegnung, die möglich wurde durch die Gemeinschaft des Glaubens, in der ich lebe“. Und er bekennt Scalfari: „Glauben Sie mir: Ohne die Kirche hätte ich Jesus nicht begegnen können, wenngleich mir klar ist, dass der Glaube ein unermessliches Geschenk ist, das in dem zerbrechlichen Gefäß unserer Menschlichkeit aufbewahrt wird.“

Anhand des Evangeliums beschreibt Papst Franziskus wie der Glaube vom Beginn des Christentums an als ein vernunftgemäßes Anhängen möglich war. Dieses Anhängen gründet allein darin, dass man die „Vollmacht” Jesu anerkennt, die „von innen her ausstrahlt und sich von selbst durchsetzt”, die ihm von Gott verliehen wurde, „damit er sie zum Wohl der Menschen verwende”. Die „Originalität des christlichen Glaubens” liegt in der „Inkarnation des Gottessohnes”, die „nicht geoffenbart wurde, um eine unüberwindliche Trennung zwischen Jesus und den anderen zu ziehen”. Im Gegenteil, so fährt der Papst fort, „die Einzigartigkeit Jesu dient der Kommunikation, nicht dem Ausschluss.”

Das bedeutet, dass es nur innerhalb einer Beziehung möglich ist, die Wahrheit des Glaubens zu erfassen und damit das Licht, dass die Finsternis vertreibt. Salvatore Veca hat scharfsinnig beobachtet: «Der Papst vertritt die Ansicht, dass die Wahrheit in einer Beziehung gründet”. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine wandelbare Wahrheit, aber man kann sie nicht isolieren, von Außenkontakten abschirmen, in Stein meißeln, denn sie lebt ausschließlich in der Beziehung und ist folglich von Natur aus aufgeschlossen» (Corriere della Sera, 12. September 2013).

Kann das Licht des Glaubens von Interesse sein für jemanden, der nicht gewillt ist, auf seine Vernunft und Freiheit zu verzichten? Wird er es nicht als Demütigung seines Menschseins empfinden müssen? Oder, um es mit Dostojewski zu sagen: „Kann ein gebildeter Mensch, ein Europäer unserer Tage glauben, wahrhaft glauben an die Gottheit des Gottessohnes Jesus Christus?”

Nietzsche beschuldigt den christlichen Glauben, wie der Papst in Lumen fidei schreibt, «die Reichweite des menschlichen Seins verringert zu haben, indem er dem Leben Neuheit und Abenteuer genommen habe. Demnach wäre der Glaube gleichsam eine Licht-Illusion, die unseren Weg als freie Menschen in die Zukunft behindert.» (Absatz 2). Die Enzyklika geht dieser Herausforderung nicht aus dem Weg, ja sie stellt sie geradezu neu: «Wenn das Licht fehlt, wird alles verworren, und es ist unmöglich, das Gute vom Bösen, den Weg, der zum Ziel führt, von dem zu unterscheiden, der uns richtungslos immer wieder im Kreis gehen lässt.» (Absatz 3).
Das Licht des Glaubens wird nur den interessieren, der seine eigene Menschlichkeit und seine eigene Sehnsucht nicht verkürzt. In dieser Hinsicht hat mich bewegt zu sehen, wie sich Franziskus und Scalfari über ihren Lebensweg als Menschen auseinandersetzen. Hierin liegt der Wert des vom Papst begonnenen Dialogs. Er ist ein Fingerzeig für die Kirche, wie es zu wahrer und authentischer Auseinandersetzung kommt. Denn ist es nicht Aufgabe der Christen und der Kirche, zu bezeugen, was für ein Licht der Glaube ins Leben bringt, um in diesem Licht die Angelegenheiten anzugehen, mit denen wir alle zu tun haben? Dann ist es Sache eines jeden, der ihnen begegnet, zu überprüfen, ob dieses Licht auch wirklich nützlich in ihrem Leben ist. Das ist das Wagnis, das Gott selbst eingegangen ist, als er einer von den Menschen wurde.
Der ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Dialog zwischen dem Papst und dem Journalisten ist eine große Hilfe auf dem Weg, den wir alle beschreiten müssen: jeder muss das, was er im Leben erfährt mit Blick auf das ersehnte Licht – Don Giussani würde sagen: mit Blick auf die ersehnte Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit, Glückseligkeit – mit Blick auf diese Sehnsucht, die uns ausmacht, bewerten. Können wir in unserer Erfahrung Anzeichen einer Antwort auf diese unausrottbare Sehnsucht aufspüren, die selbst unter Trümmerhaufen besteht und erstarkt?
Jean Guitton hat einmal gesagt, dass man jemanden dann als „vernünftig bezeichnet, wenn er seine eigene Vernunft der Erfahrung unterstellt“. Wie erhellend dies ist, hat der Bischof von Rom mit seinem Brief an die Zeitung la Repubblica allen vor Augen geführt. Wenn jemand bereit ist, auf der Ebene der eigenen Menschlichkeit ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen, was kann man sich mehr wünschen, als sich anzuschließen als Weggefährte?

Julián Carrón
Präsident der Fraternität
von Comunione e Liberazione

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