Europäisches Parlament. Präsident Martin Schulz, Juli 2013 ©AFP PHOTO/FREDERICK FLORIN/Getty Images)

 EUROPA MUSS SICH ÄNDERN: INTERVIEW MIT  MARTIN SCHULZ

Sein Vater war Sozialist, seine Mutter Katholikin. Willy Brandt faszinierte ihn. Er hatte eine unruhige Jugend. Und das Meeting von Rimini hat ihn überrascht. Der Präsident des Europäischen Parlaments spricht über sich.
Davide Perillo

Martin Schulz erklärt in diesem Interview, wie er das Vertrauen der Menschen in der EU wieder gewinnen will. Denn „die Idee der Europäischen Union ist immer noch lebendig. Die Institutionen muss man verändern.“
„Ich war skeptisch, als ich hinkam, und zufrieden, als ich wieder wegging.“ Dazwischen ist offensichtlich etwas passiert. Martin Schulz – 58 Jahre alt, Sozialdemokrat aus Hehlrath bei Aachen, seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments – geht ausgerechnet von dem aus, was er beim Meeting in Rimini erlebt hat, wenn er über Europa sprechen soll, über die Krisen, die es zu bewältigen hat, und die Ideale, auf die es sich wieder mehr stützen muss. „Es hat mich ziemlich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass das ein so großes Event ist. Ehrlich gesagt dachte ich, das sei eine Art Kongress konservativer Katholiken. Doch dann sah ich jede Menge junge Leute aus aller Welt. Ich traf Menschen, mit denen man ganz ernsthaft über die heutigen Herausforderungen diskutieren konnte, die aber gleichzeitig einen unerschütterlichen Optimismus besaßen.“

Schulz ist keiner, der sich leicht beeindrucken lässt. Er hat in seiner langen Karriere schon alles Mögliche erlebt. In seiner Jugend hatte er eine Reihe von Problemen. (Nachdem wegen eines Kniebruchs sein Traum geplatzt war, Fußballer zu werden, begann er zu trinken. Ein Bruder, der Arzt ist, half ihm dann aber, die Sucht zu besiegen.) Das Gymnasium brach er vor dem Abitur ab, machte eine Ausbildung zum Buchhändler. Später gründete er seine eigene Buchhandlung in Würselen. Doch die Politik faszinierte ihn schließlich mehr. Schon mit 19 Jahren war er in die SPD eingetreten. Mit 31 wurde er zum damals jüngsten Bürgermeister Nordrhein-Westfalens gewählt. 1994 zog er als Abgeordneter ins Europäische Parlament.

In Italien wurde er berühmt wegen eines Wortgefechtes mit dem damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. (Nachdem Schulz ihn wegen seiner Prozesse und angeblicher Interessenkonflikte heftig kritisiert hatte, sagte Berlusconi, er werde ihn für die Rolle eines Kapo in einem SS-Film empfehlen.) Doch der Mensch, den wir im obersten Stockwerk des Louise Weiss-Gebäudes, dem Sitz der EU in Straßburg, treffen, macht einen sehr umgänglichen Eindruck. Er lächelt, als wir ihm Fotos zeigen, auf denen man ihn in Rimini beim Tänzchen mit einer Gruppe Freiwilliger sieht. („Das waren Australier, nicht wahr? Nein, jetzt fällt’s mir ein. Es waren Kanadier!“) Er macht gerne ironische Bemerkungen. Und man merkt, dass er nicht nur aus Höflichkeit über die jungen Leute beim Meeting  sagt: „Ich glaube, darin liegt der Unterschied zwischen alten und jungen Menschen, dass die jungen sich nicht vor Risiken fürchten, sie haben keine Angst. Wenn die jungen Menschen vor Risiken zurückschrecken würden, gäbe es keinen Fortschritt. Also, in Rimini habe ich Menschen gesehen, die keine Angst haben.“

 „Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir auf die Idee Europas verzichten, oder wollen wir die bürokratische Verwaltung ändern? Ich ziehe Letzteres vor.“

Dann lassen Sie uns von diesem Thema ausgehen, von Risiken und Angst. Vielen macht Europa Angst. Was bedeutet Europa für Sie?
Es ist natürlich immer noch eine Idee. Die Idee, dass einige Länder Grenzen überwinden und sich zu einer Institution zusammenschließen, weil sie wissen, dass sie nicht fortfahren können, sich gegenseitig zu bekriegen. Europa ist eine Idee, die ganz unterschiedliche Kompetenzen vereint, eine Art Mosaik aus verschiedenen Traditionen, Erfahrungen und Kulturen. Und diese Idee ist noch sehr lebendig. Wenn man mit den Leuten diskutiert, merkt man das. Aber es gibt auch ein Problem: Viele, vor allem unter den jungen Menschen, denken, diese Idee habe mit der Europäischen Union nichts zu tun. Mein Freund Wim Wenders, der Regisseur, hat einmal einen Satz gesagt, der diesen Eindruck gut zum Ausdruck bringt: „Aus der Idee Europas ist die Verwaltung geworden. Und jetzt halten die Leute die Verwaltung für die Idee.“ Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir auf diese Idee verzichten, oder wollen wir die bürokratische Verwaltung ändern? Ich ziehe Letzteres vor.

Wie kann man das Vertrauen der Leute wiedergewinnen? Hängt es bloß von der institutionellen Ordnung ab, oder sind noch andere Faktoren im Spiel? War die Diskussion über die verlorenen Wurzeln Europas – auch die christlichen – vielleicht doch nicht so abwegig?
Ich glaube, der Vertrauensverlust ist der Schlüssel zu vielen Problemen, sowohl in der EU als auch in den einzelnen Staaten. Wir sind nicht mehr so gut in der Lage, unsere Bürger zu schützen, ihnen Wohlergehen und Wohlstand zu garantieren. Ich mache ein persönliches Beispiel: Ich bin im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Der Staat forderte von meinen Eltern Opfer, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können: niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, hohe Steuern, kein Urlaub. Meine Eltern hatten fünf Kinder, und mein Vater war Polizist, kein Manager. Sie mussten unsere Ausbildung aus eigener Tasche bezahlen. Der Staat hatte kein Geld. Meine Eltern haben zum ersten Mal Urlaub gemacht, als mein Vater 60 war. 60! Aber warum nahm jene Generation all diese Opfer in Kauf? Ganz einfach: „Wir tun es für die Zukunft unserer Kinder, damit sie es besser haben als wir.“



 Und heute?
Heute verlangen wir, die wir an der Macht sind, von den Leuten wieder, mehr zu arbeiten, höhere Steuern zu bezahlen, Lohnverzicht zu leisten und sich mit weniger Dienstleistungen zufriedenzugeben. Aber wozu? Um die Banken zu retten. Nicht die Leute. So sehen es Millionen von Menschen. Es ist keine Überraschung, dass sie das Vertrauen in die Institutionen verloren haben und denken: Die kümmern sich um die Finanzkrise, aber nicht um mich. Eine junge Frau aus Spanien sagte mir kürzlich: „Europa hat 700 Milliarden ausgegeben, um die Banken zu retten. Sagen Sie mir, Herr Präsident, wie viel hat Europa für mich?“ Wenn wir den Eltern in Italien oder in Deutschland sagen könnten: Ihr müsst Opfer bringen, aber wir garantieren euch, dass eure Kinder dadurch ein besseres Leben haben werden. Dann würden alle das tun. Deswegen ist der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit so wichtig. Wenn wir jedem Schulabgänger oder Universitäts-Absolventen garantieren könnten, dass er am Arbeitsmarkt willkommen ist, dann wäre das eine riesige Errungenschaft. Die Leute würden ihr Vertrauen wieder finden. Auch in die Institutionen.

Aber auch hier: Wie soll das gehen? Der Wirtschaftsaufschwung kommt nur zögerlich. Wie kann man die Wirtschaft wieder ankurbeln? Und ist es nicht endlich Zeit, die Sparzwänge zu lockern?
Wir müssen den Leuten zeigen, dass wir das Ruder herumreißen wollen. Ich mache Ihnen drei Beispiele von Dingen, die man sofort angehen sollte. Erstens: Die meisten Jobs, auch für junge Menschen, werden von kleinen und mittelständischen Unternehmen geschaffen. Und das sind genau die Unternehmen, die die größten Schwierigkeiten haben, Kredite zu bekommen. Die Kreditklemme hat vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen in fast allen Ländern Europas schwer getroffen. Das sollte man als erstes versuchen zu ändern. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Wie schaffen wir das? Indem wir, zweitens, die Finanzmärkte stärker reglementieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Zentralbank den Zinssatz auf 0,25 Prozent senkt, und die Banken, die sich das Geld zu diesem Zinssatz leihen können, damit dann nicht die Wirtschaft finanzieren, sondern spekulieren und Gewinne erwirtschaften. Wir brauchen mehr Regeln und eine bessere Kontrolle des Finanzmarktes. Drittens: Wer in einer bestimmten Region Gewinne macht, muss dort auch Steuern zahlen. Das ist ein ganz einfaches Prinzip. Man braucht nicht erst ein europäisches Wirtschaftsministerium, um das zu erreichen. Schätzungen besagen, dass 1.000 Milliarden Euro an Steuern jährlich nicht gezahlt werden. Es gibt in Deutschland  Unternehmen wie Google, die jährlich drei Milliarden Euro erwirtschaften und keinen Cent Steuer bezahlen. Bei der Sparpolitik geht es nicht nur um Kürzungen, sondern auch um die Einnahmenseite. Deswegen brauchen wir eine bessere Steuerdisziplin in ganz Europa. Das sind drei einfache Dinge, aber sie funktionieren.

Ist es nicht paradox, dass sich bei uns Enttäuschung über Europa breitmacht, während in der Ukraine die Menschen seit Wochen unter den Fahnen der EU demonstrieren? Was erwarten die Ukrainer von Europa?
Vor allem, denke ich, suchen sie die westlichen Werte. Sie möchten an einer demokratischen Gemeinschaft teilhaben, die auf den Werten der Demokratie basiert. Das ist keine Auseinandersetzung zwischen Russland und der EU. Es handelt sich um einen internen Kampf um die Zukunft des Landes, die Auflehnung gegen eine Regierung, die autoritäre Strukturen und Maßnahmen wiedereinführen will. Janukowytsch muss die internationalen Standards der Demokratie beachten, wenn er zu einem relevanten Partner für uns werden will. Er muss auf die Demonstranten in Kiew hören. Als EU sollten wir ihnen helfen, ein Gleichgewicht von wirtschaftlicher, persönlicher und Rechts-Sicherheit zu finden. Wir halten die Freiheit für selbstverständlich, die uns durch unsere Geschichte und die europäischen Institutionen garantiert wird. Aber das ist sie nicht. Das müssten wir uns mehr bewusst machen.

 „Wie Millionen anderer Menschen auf der Welt, Gläubige und Nichtgläubige, bin ich tief berührt von dem, was Papst Franziskus sagt.“

In der Europäischen Union gibt es eine weitere problematische Grenze, die im Süden. Nach dem tragischen Unglück vor Lampedusa beginnt man nun langsam, den Flüchtlingsnotstand als ein europäisches und nicht nur italienisches Problem wahrzunehmen. Denken Sie nicht, dass es an einer Vision für die Beziehungen mit dem ganzen Mittelmeerraum fehlt?
Das ist eine meiner bittersten Erfahrungen der letzten Zeit: Wir unterschätzen die Bedeutung unserer Beziehungen zu Afrika. Libyen, Ägypten, Tunesien, Nigeria … das sind alles Länder mit einem großen Potential. Nicht nur im Bezug auf die Energie. Dort leben Millionen Menschen, die plötzlich den Sprung vom 19. ins 21. Jahrhundert machen müssen. Denken Sie nur an Kairo. 22 Millionen Einwohner, und das Wasser aus der Leitung kann man nicht trinken. Sie brauchen eine bessere Infrastruktur. Das sind riesige Investitionen, die großen Einfluss auf die Politik ausüben können. Es würde bedeuten, diesen Leuten nicht nur Nahrung, sondern auch Arbeit zu geben. Wer kann Partner für ein solches Unternehmen sein? Wer kann know how, Finanzierung und Ideen beisteuern? Italien, Frankreich, Spanien, Länder, die eine große Tradition der Beziehungen mit dieser Region haben. Die Probleme des Mittelmeerraumes anzugehen, heißt einen Teil der Probleme Europas anzugehen. Freilich, wir müssten dazu unsere Politik ändern.

Die Aufrichtigkeit, mit der Sie über Ihre schwierige Jugend (Alkohol, schulische Probleme) gesprochen haben, hat mich beeindruckt. Warum sind Sie in die Politik gegangen?
Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, wo es viel Bergbau und Industrie gab. In der Familie sprachen wir sehr viel über Politik. Meine Eltern hatten ganz unterschiedliche Meinungen. Mein Vater war Sozialdemokrat, meine Mutter eine aktive Katholikin, die CDU wählte. Aber die Liebe war stärker als die politischen Überzeugungen. Das hat mich geprägt. Ich habe mich für die Linke entschieden, wie meine Brüder; es war ja auch die Zeit von Willy Brandt. Wir hatten große Ideale. Ich war ein sehr unruhiger Mensch, sogar wütend, würde ich sagen. Heute habe ich meine Wut größtenteils abgelegt. Aber nicht die Ideale.

Apropos Ideale, vorhin sprachen Sie über das Meeting und jetzt von dem, was Sie in ihrer Familie erlebt haben. Was können Katholiken zur Überwindung der Krise beitragen?
Ich glaube nicht, dass ich die geeignete Person bin, um diese Frage zu beantworten. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich wie Millionen anderer Menschen auf der Welt, Gläubige und Nichtgläubige, von dem, was Papst Franziskus sagt, tief berührt bin, von seiner Demut, seiner echt ökumenischen Haltung, seiner Aufmerksamkeit für die Randgebiete der Welt, die materiellen wie die immateriellen. Auch die EU sollte da lernen, sich zu öffnen. Alle europäischen Institutionen leiden an zu viel Innenschau und Selbstbezug. Nicht selten laufen sie Gefahr, zu „Brüssel-zentrisch“ zu denken. Europa hat sich von einer Kraft im Dienst des Friedens zu einer Macht der Verwaltung und der Vorschriften gewandelt. Aber ohne fundierte Ideale, ohne Hingabe an seine Ziele und eine gemeinsame Mission wird es unabwendbar seine Legitimation verlieren. Ich glaube, dass sich ein Teil dieser Ideale auch in dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium findet: „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung“, „nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen“, und „nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt“.

Wie hat die Begegnung mit Papst Franziskus vor drei Monaten auf Sie gewirkt?
Er hat mir viel Energie eingeflößt. Und Vertrauen: in den Dialog, in die Solidarität und in die Werte, bei denen wir möglicherweise nicht immer übereinstimmen, aber über die wir immer im Dialog bleiben müssen.