Ägypter nehmen an der Beerdigung eines Dutzend Polizisten und eines Zivilisten teil, der bei einer Explosion in einem Polizeipräsidium in der Nildelta-Stadt Mansoura getötet wurde. (AP Foto/Ahmed Omar)

WER KANN ÄGYPTEN HELFEN?

Die Lage in Ägypten ist widersprüchlich – zwischen der überwältigenden Zustimmung zur neuen Verfassung, dem Verbot der Muslimbrüder, gewaltsamen Auseinandersetzungen und der wachsenden Macht des Militärregimes. Interview mit Pater Jacques Pérennès.
Luca Fiore

Wo steht das Land am Nil drei Jahre nach dem Aufstand vom Tahrir-Platz? „Es gibt Schritte in die richtige Richtung“, sagt Pater JEAN JACQUES PÉRENNÈS der das Land gut kennt. „Aber die internationale Solidarität ist sehr wichtig.“

Man macht es sich zu einfach, wenn man meint, alles sei wieder wie unter Mubarak. Auch wenn die 98 Prozent Zustimmung bei der Volksabstimmung über die Verfassung an die Zeiten des alten Präsidenten erinnern. Ebenso wie das Verbot der Muslimbrüder, das Demonstrationsverbot und die Inhaftierung politischer Gegner. Das riecht nach Militärdiktatur. Aber es stimmt auch, dass vor Beginn der Revolution keine Bomben im Zentrum von Kairo explodierten und Demonstrationen nicht in einem Blutbad endeten, so wie am dritten Jahrestag der Absetzung von Mubarak. 30 Tote und 750 Festnahmen in zwei Tagen. Klingt fast wie ein Kriegsbulletin.

Ägypten hat sich verändert, viel ist geschehen. Immerhin hat das Land jetzt eine Verfassung, die besser ist als die von 2012, die die Muslimbrüder durchgedrückt hatten. Doch die Risiken bleiben und die Hoffnungen auf einen wirklichen Wandel könnten in den Machtkämpfen zerrieben werden.
Die beste Art, Dinge zu einem schlechten Ende zu führen, ist dass man glaubt, sie würden ein schlechtes Ende nehmen. Das gilt vor allem für die westliche Welt. Davon ist Pater Jean-Jacques Pérennès überzeugt. Er ist Direktor des Dominikanischen Instituts für  Orientalische Studien in Kairo und war lange Jahre Provinzialvikar seines Ordens für die arabische Welt.

Was für ein Land ist Ägypten nach dem Verfassungsreferendum?
Das Land ist müde. Seit drei Jahren versucht man vergeblich, ein politisches und wirtschaftliches Gleichgewicht herzustellen. Der Tourismus und die Investitionen aus dem Ausland sind eingebrochen, was enorme Auswirkungen auf die Beschäftigung hat. Hinzu kommt die mangelnde Sicherheit. Zu Zeiten Mubaraks war man in Ägypten völlig sicher, heute ist das nicht mehr so. Das Land ist müde und muss bald eine Lösung finden. Die Leute warten auf eine Art Wunder, auf den „Mann der Vorsehung“, der kommt, um das Land zu retten.

Pater Jean-Jacques Pérennès, O.P.

Heute ist es auch ein gespaltenes Land.
Ja, seit dem Fall der Regierung Mursi ist es tief gespalten. Ich glaube, dass die Führer der Muslimbruderschaft große Verantwortung dafür tragen, weil sie ihre Mitglieder aufgefordert haben, bis zum Martyrium Widerstand zu leisten. Sie wollen bis zum Äußersten gehen, zeigen keinerlei Verhandlungsbereitschaft. Auf der anderen Seite ist die „Tradition“ wiederaufgelebt, dass seit den Zeiten Nassers die Militärs regieren. Auch das ist nicht gesund. Wir befinden uns nicht in einer normalen politischen Auseinandersetzung.

In welchem Sinne?
Es gibt keine echte politische Debatte. Die Regierung hat die Muslimbrüder offiziell als „terroristische Vereinigung“ eingestuft. Manche von ihnen sind wirklich Terroristen, wie die Gewalttaten gezeigt haben. Aber nicht alle. Wenn man sie verbietet, bewirkt das keineswegs, dass sie weniger radikal werden. Und dann ist da noch die Tatsache, dass es in den Tagen vor dem Referendum praktisch unmöglich war, für ein Nein zu werben.

 „Das Land ist müde und muss bald eine Lösung finden. Die Leute warten auf eine Art Wunder.“

Die demokratischen Wahlen haben undemokratische Kräfte an die Macht gebracht. Die wurden dann im Namen der Demokratie wieder aus dem Amt gejagt und durch ein anderes nicht-demokratisches Regime ersetzt. Das ist wirklich paradox.
Ja. Die Leute haben auf die Gefahr reagiert, dass sich unter Mursi ein islamistisches Regime etablieren könnte, das die Macht dann nicht mehr hergibt. Den Muslimbrüdern die Macht zu nehmen entsprach dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Ägypter. Das ist außerhalb Ägyptens schwer zu vermitteln. Im Westen ist man entsetzt über den Militärputsch. Gewiss, die Militärs haben Mursi abgesetzt, aber es war das Volk, das ihn nicht mehr wollte.

Wie ist die neue Verfassung? Welche Unterschiede gibt es zu der von 2012?
Es ist ein ziemlich guter Text. Die Verfassung von Mursi trug dagegen eine stark islamistische Handschrift. Der Text war von religiösen Vorstellungen durchsetzt. Es gab nicht nur den Artikel 2 zur Rolle der Sharia, sondern auch den Artikel 219, der es den Verfassungsrichtern erlaubte, die Verfassung zu interpretieren, was eine islamistische Lesart des Rechts befürchten ließ. Das alles gibt es heute nicht mehr. Aber auch hier gilt: Im Westen meint man, die Macht der Militärs sei durch die neue Verfassung gestärkt worden. Das stimmt. Aber gleichzeitig ist die politische Vision nicht mehr so stark religiös gefärbt. Viel wird davon abhängen, wie die Prinzipien in die Praxis umgesetzt werden. Aber es ist ein Fortschritt, dass ein mehrheitlich muslimisches Land erklärt, es wolle keine islamistische Verfassung. Das ist interessant, da hält ein Stück Moderne Einzug.



Auch die Salafisten, die auf dem Papier fundamentalistischer sind als die Muslimbrüder, haben dem neuen Text zugestimmt. Warum?
Aus Opportunismus. Als die Muslimbrüder entschieden hatten, die politischen Prozesse auf allen Ebenen zu boykottieren, haben die Salafisten für sich große Spielräume gesehen. Sie sind überzeugt, dass die Ägypter ein religiös geprägtes Politikverständnis haben, und meinen, dass es sich lohnt, Kompromisse mit der Partei der Militärs einzugehen. Sie vertrauen darauf, dass das Volk ihnen folgen wird. Wir werden sehen. In der Kommission, die den Text der Verfassung erarbeitet hat, kam es zu einem Patt zwischen liberalen und islamistischen Positionen. Am Ende haben die Salafisten für ein Ja zur neuen Verfassung geworben.

Gibt es Chancen, dass die Muslimbrüder sich wieder am demokratischen Prozess beteiligen?
Ich weiß es nicht. Ihre Wut ist verständlich. Sie haben achtzig Jahre darauf gewartet, an die Macht zu kommen, und dann sind sie nach einem Jahr wieder in den Untergrund gedrängt worden. Ihre Führer waren im Gefängnis, sind verfolgt worden … Aber sie müssen auch selbstkritisch sein. Sie müssen verstehen, warum die Ägypter sie nicht mehr wollten. Meiner Meinung nach haben sie zwei Fehler gemacht: Sie haben ein Machtmonopol angestrebt. Und sie haben keine befriedigenden Antworten auf die Wünsche der Ägypter gegeben. Sie haben über Religion und Ideologie gesprochen, wo es den Leuten um Schulen, Krankenhäuser und Arbeit ging. Darüber müssen die Muslimbrüder nachdenken. Denn sie sind ein Teil der politischen Landschaft und es ist gut, wenn sie aktiv am politischen Leben des Landes teilnehmen.

Gibt es einen demokratischen Weg zur Befriedung des Landes?
Um zu einer Demokratie zu kommen, wie wir im Westen sie verstehen, wird es lange dauern. Manche haben gedacht, man könne in zwei oder drei Jahren ein System hinter sich lassen, dass mehr als vierzig Jahre in Funktion war. Es wird zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre dauern. Aber es gibt Schritte in die richtige Richtung. Zum Bespiel sind die Leute zur Wahl gegangen. Die Wahlbeteiligung war gut, man spricht von 38 Prozent. Wenn man berücksichtigt, dass die Muslimbrüder nicht gewählt haben, bedeutet das, dass etwa 55 bis 60 Prozent der Bevölkerung am politischen Prozess beteiligt sind. In der Vergangenheit ging niemand wählen, weil es nutzlos war, und die Wahlbeteiligung lag nur bei 10 bis 12 Prozent. Das scheint mir bemerkenswert: Die Leute interessieren sich für Politik. Sie streiken und demonstrieren. Das ist ein Zeichen der Freiheit. Ich denke, es bedarf einer Erziehung zur Politik, die nach und nach geschehen wird.

Die jungen Leute vom Tahir-Platz und die liberalen Parteien waren nicht vorbereitet auf die Wahlen, aus denen damals Mursi als Sieger hervorging. Gibt es Fortschritte im Bezug auf ihre Organisation und Unterstützung im Land?
Nein, ihre Stimme ist kaum zu vernehmen. Das ist schlimm. Sie werden nicht wirklich aktiv. Das ist nicht hilfreich. Alle meinen, General Al Sisi würde der nächste Präsident. Aber ich fürchte, wenn es in den nächsten Monaten nicht zu einer wirklichen Wende kommt, werden die Muslimbrüder leichtes Spiel haben und sagen können: „Seht ihr? Die Alternative zu uns funktioniert nicht.“ Das ist gefährlich, das Land könnte wieder ins Chaos stürzen.

„Es ist ein Fortschritt, dass ein mehrheitlich muslimisches Land erklärt, es wolle keine islamistische Verfassung.“

Wird die Wirtschaft der Schlüssel sein?
Ja. Und ich glaube, dass die internationale Solidarität sehr wichtig sein wird. In den letzten Monaten haben Europa und Nordamerika die Absetzung Mursis durch das Militär kritisiert und ihre Wirtschaftshilfe in Frage gestellt. Aber das ist ein Fehler. Der Westen muss Ägypten weiterhin helfen. Ich möchte nicht, dass nur noch die Golfstaaten, Saudi-Arabien, die Arabischen Emirate und Kuwait Ägypten unterstützen. Die Ägypter sind bereit, auf unsere Ratschläge zu hören. Aber nur wenn sie eine wirkliche Freundschaft sehen, wenn sie sehen, dass wir ihnen zur Seite stehen. In den letzten Monaten hat sich der Westen wie ein Lehrer benommen, der einen aufsässigen Schüler zurechtweist. So kann man das mit den Ägyptern nicht machen.

Und die Christen? Wie ist deren Lage? Sind sie sicher? Und wie beteiligen sie sich am politischen Prozess?
Die Christen haben die Absetzung Mursis unterstützt. Dafür haben sie einen sehr hohen Preis bezahlt. Letzten August wurden viele Kirchen Ziel von Anschlägen. Das war für viele ein großer Schock. Es gibt aber auch positive Zeichen. Dieses Jahr hat zum ersten Mal in der ägyptischen Geschichte der Präsident der Republik dem koptischen Kirchenoberhaupt Tawadros seine Glückwünsche übermittelt. Alle haben diese Geste positiv gewürdigt. Hoffen wir mal. Die acht Millionen Christen sind ein wichtiger Bestandteil des Landes. Die Lage ist nicht im ganzen Land gleich dramatisch. Es gibt sehr schwierige Situationen, wie zum Beispiel in Al-Minya in Mittelägypten. Aber hier in Kairo leben wir fast normal. Doch wir müssen dringend den politischen Dialog voranbringen: Das ist die einzige Alternative zur Gewalt.

IN ZAHLEN

98% der Wähler haben dem Text der neuenVerfassung zugestimmt.
38% der Wahlberechtigten nahmen an derVolksabstimmung vom 14./15. Januar teil.
247 Artikel hat die neue Verfassung. Sie schränkt die Rolle des Islam imöffentlichen Leben ein und stärkt die Macht der Militärs.