NIGERIA. VOR WEM
FÜRCHTET SICH BOKO HARAM
Das größte und reichste Land Afrikas wird vom Terror erschüttert: 300 Mädchen wurden entführt und zum Islam zwangskonvertiert, Bomben, Tote, Racheakte ... Es geht um Macht und um Erdöl.Die Zeche zahlen Menschen wie Rabia und Zainab, die Medizin studieren wollen, und ihre Familien, die es wagen, sie zur Schule zu schicken.
Rabia Mura ist erst 16 Jahre alt, aber die Terroristen von Boko Haram, die Schülerinnen entführen und Schüler abschlachten, haben sie nicht dazu gebracht, ihren Sinn zu ändern: „Eines Tages werde ich Ärztin in einem Krankenhaus sein. Dieses Land braucht uns, wenn es sich entwickeln und genesen will.“
Rabia ist Schülerin der Maitama-Sule-Sekundarschule in Kano, der größten Stadt im Norden Nigerias, die mit zweieinhalb Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes ist (nach Lagos mit 11 Millionen). Vierhundert Mädchen und vierzig Jungen, Muslime und Christen lernen dort Seite an Seite, Bank an Bank. Damit fordern sie die Terroristen von Boko Haram heraus, die verhindern wollen, dass junge Leute zur Schule gehen.
Mitte April haben sie in Chibok über zweihundert 16 –17-jährige Mädchen in der Nacht vor ihren Prüfungen verschleppt. Seitdem wurden in vielen Schulen des Landes die Sicherheitsmaßnamen verschärft. Trozdem ist der Entschluss junger Leute wie Rabia und vieler Eltern, ihre Kinder weiterhin morgens in die Schule zu schicken, alles andere als selbstverständlich.
Seit vor einem Jahr im Nordosten von Nigeria der Notstand ausgerufen wurde, sind die Städte in diesem Gebiet von Militär geradezu belagert. Doch niemand kann sich sicher fühlen. Auch in großen Zentren wie Kano leben die Menschen weiter in Angst. An einem Sonntag Mitte Mai sprengte ein Selbstmordattentäter im christlichen Viertel Sabon Gari, zwischen den Restaurants und Bars in der Gold Coast Street, ein mit Sprengstoff beladenes Auto in die Luft.
Narben. Restaurants, Schulen, Kirchen: Überall findet man die Narben, die die muslimische Extremistengruppe dem Land geschlagen hat. Sie will einen islamistischen Staat schaffen auf Basis einer rigiden Auslegung der Scharia, die schon Gesetz in zwölf Staaten des Nordens ist. „Mit 12 Jahren sollten Mädchen heiraten und nicht zur Schule gehen.“ Mit diesen Worten versuchte der Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, die Massenentführung von Chibok zu rechtfertigen. Nicht nur die Eltern und Lehrer von Rabia und ihre Kameraden waren entsetzt, sondern Millionen Menschen in aller Welt, die sich der Kampgne „Bring Back Our Girls“ angeschlossen haben.
An einem einzigen Tag brachten die „nigerianischen Taliban“ 2012 in Kano 185 Menschen um. Der Rektor der Maitama-Sule-Schule, Martin Felix (46), erzählt von seiner siebenjähigen Tochter: „Noch heute ruft sie, wenn sie ein lautes Geräusch hört, erschreckt: ‚Papa, Bomben‘.“
Auch die Kathedrale Unserer Lieben Frau von Fatima in Kano ist von Stacheldraht umgeben. Um hineinzugelangen, müssen die Gläubigen durch einen Metalldetektor gehen. Kirchen wie Festungen, aber sie blühen: Die Zahl der Katholiken in Afrika ist von 2005 bis 2010 um 21 Prozent gestiegen, die der Priesterweihen um 16 Prozent. Nigeria, Ghana und die Demokratische Republik Kongo haben die größte Zahl an Gläubigen. In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land des Kontinents, gibt es über 70 Millionen Christen, etwa die Hälfte der Einwohner. Die Mehrheit lebt im Süden. In der katholischen Christkönigskirche in Lagos werden jeden Sonntag sechs Messen gefeiert mit insgesamt 10 000 Teilnehmern; samstags empfangen jeweils um die 100 Kinder die Taufe.
Blühende Kirchen, die brennen: Nach den Daten der nigerianischen Bischofskonferenz sind seit 2007 mindestens 700 Kirchen angegriffen worden. In dem Dorf Wada Chakawa im Bundesstaat Adamawa sagte nach dem zigsten Überfall im Januar ein Überlebender Journalisten: „Sie haben meinem Bruder die Kehle durchgeschnitten, wie man es mit Ziegenböcken macht. Sie haben alle unsere Häuser in Brand gesteckt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Dorf zu verlassen.“ Neben diesem verzweifelten Mann stand eine verstummte Frau, die bei dem Massaker in der Kirche nicht nur ihre Sprache verloren hatte, sondern auch ihren Mann und ihren Sohn. Eine Verheißung des Lebens war ihr geblieben: ein Kind, mit dem sie schwanger war. Doch wo soll sie es großziehen?
Von den viertausend Opfern der Boko Haram seit 2009 sind etwa ein Viertel Christen. Das ist ein besonders hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, dass im Norden die Mehrheit muslimisch ist. In den drei Staaten, die am meisten betroffen sind, Borno, Yobe und Adamawa, machen Muslime mehr als 80 Prozent der Bevölkerung aus. Aber es gibt ganze Dörfer, die mehrheitlich christlich sind, viele andere sind „gemischt“ – oder waren es, bevor die Terroristen sie dem Erdboden gleichgemacht haben. Ein großer Teil der in Chibok im Bundesstaat Borno entführten Schülerinnen kommt aus christlichen Familien. In einem Video sagte Shekau verächtlich: „Da ihr euch so sehr um ihre Befreiung sorgt, haben wir uns darum gekümmert, sie zu befreien. Indem wir sie zum Islam bekehrt haben.“
Der Exodus der Christen aus der Hölle der Boko Haram hat nicht viele follower auf Twitter. Chibok hat zwar traurige Berühmtheit erlangt in aller Welt, aber nur wenige haben jemals von dem kleinen Städtchen Gashua an der Grenze zwischen Nigeria und Niger gehört. In den letzten drei Jahren ist die dortige katholische Minderheit fast ganz verschwunden. Einige sind tot, andere geflohen. Von den dreitausend Seelen blieben weniger als 200. Pater John Bakeni (38) hat der britischen Tageszeitung Daily Telegraph erzählt, was er in der Pfarrei Saint Joseph erlebt hat. „Es verging keine Nacht, ohne dass uns jemand den Kopf eines toten Tieres zur Warnung über die Mauer warf. Oft kamen sie und klopften: ‚Ungläubige, haut ab oder wir bringen euch um.‘“
Der Exodus. Im Vergleich zu den Grausamkeiten, die Boko Haram begangen hat, mag das gering erscheinen, aber der Bericht von Pater Bakeni gibt einen Eindruck von der Situation, die jedenfalls sehr schwierig ist und einen Nährboden für Gewalt darstellt. Diese Drohungen kommen von den Almaijiri, den jungen Schülern der örtlichen Koranschule, die gezwungen werden, zwei Jahre lang bettelnd durch die Straßen zu ziehen. Die Absicht dahinter ist, den Geist zu stärken und den Jungen verständlich zu machen, was es heißt, arm zu sein. Ziemlich überflüssig in einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag leben und diese Kinderbettler zu einer leichten Beute für Boko Haram werden. Pater Bakeni hütet sich jedenfalls davor, mit dem Finger auf den Islam als solchen zu zeigen: „Es ist wahr, die Christen sind im Schussfeld. Aber auch die Muslime sind Opfer der Extremisten.“
Und nicht nur dieser. Nigeria gehört zu den korruptesten Ländern der Welt. Die Regionen im Norden kommen nicht in den Genuss des Öl-Booms, der den Süden überschwemmt hat, wenn auch unter tausenderlei Schwierigkeiten und mit Verzögernung: Die erste Wirtschaftsmacht des Kontinents produziert weniger Strom als das kaum bewohnte North Dakota oder Bangladesh, das ungefähr die gleiche Einwohnerzahl hat. (Übrigens ein aufstrebendes muslimisches Land, das mehr auf die Bildung von Frauen gesetzt hat als das desaströse Pakistan, von dem es sich vor mehr als einem halben Jahrhundert getrennt hat.)
Ein Bild aus dem Video, das die entführten und zwangskonvertierten Mädchen zeigt.
Prioritäten. Apropos Schule: Bildung zählt gewiss nicht zu den Prioritäten der Regierung von Präsident Goodluck Jonathan. Etwa 4,5 Millionen Mädchen im Schulalter in Nigeria erhalten nicht die nötige Bildung. Und Boko Haram ist nicht der Hauptverantwortliche dafür, auch wenn es alles dafür tut, es zu werden. In Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno, wo diese Bewegung 2002 entstand, bietet die Future Prowess Islamic Foundation kostenlose Bildung und Frühstück für 110 Waisen, die einen oder beide Eltern durch die Hand von Extremisten verloren haben. Wie die Kinder von Habiba (26) und Abdullahi, der Mechaniker war. Oder die von Aisha und Mohammed, der Polizist war. In Maiduguri rief nach der Entführung von Chibok die Rektorin des Government Girls College ihre über zweitausend Schülerinnen zusammen und erklärte ihnen, dass die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt worden seien. (Zehn Wächter an den Toren führen zumindest dazu, dass man sich nicht verlassen fühlt.) Zainab Abdujiibr (18) erklärte Christina Lamb von der Sunday Times: „Ich will Chirurg werden. Wir haben zwar Angst, aber wir sind entschlossen. Wir wissen: Einen Mann zu erziehen, bedeutet eine Person zu erziehen, eine Frau zu erziehen, bedeutet eine Nation zu erziehen.“
Das Geheimnis liegt bisweilen in solchen Sätzen. So erklärt Bischof Charles Hammawa von Jalingo mit ruhiger Stimme am Telefon, dass „die Christen von Nigeria den Weg der Hoffnung nicht verlassen“ werden. Er fügt hinzu: „Wir müssen alles tun, damit die Jungen und Mädchen weiterhin zur Schule gehen können. Die Zusammenarbeit zwischen Christen und Muslimen in dieser Hinsicht ist wichtig. Der Fall der Schülerinnen von Chibok führt zu Verunsicherung. Die Regierung muss die Familien überzeugen, dass die Schulen ein sicherer Ort sind.“
Das Problem ist nicht nur Boko Haram. Die Dichterin und Lehrerin Lola Shoneyin erinnert daran, dass es Staaten wie Zamfara gibt, wo nur 5 Prozent der Mädchen zwischen 5 und 16 Jahren lesen und schreiben können. Zamfara war der erste der nördlichen Bundesstaaten, die die Scharia wiedereingeführt haben. Acht Jahre lang wurde er von einem Gouverneur, Ahmed Yerima, regiert, der, nachdem er Senator geworden war, seine vierte Frau (die auch erst 17 war) durch eine dreizehnjährige Ägypterin ersetzt hat. Die Zeremonie fand in der zentralen Moschee von Abuja statt, viele Senatoren waren eingeladen und es gab keinerlei internationalen Protest. Bring back that girl ...