Syrische Flüchtlinge am Hauptbahnhof von Mailand. ©ANSA/ DANIELE MASCOLO

FLÜCHTLINGE AUS SYRIEN: UNSERE GROSSE REISE

Der Flüchtlingsstrom aus Syrien nimmt kein Ende. Ganze Familien versuchen über Land oder Wasser nach Europa zu gelangen. Manchmal sind sie schon vor mehr als einem Jahr aufgebrochen.
Alessandra Stoppa

Wir haben einige Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien in Mailand getroffen. Um der Zukunft ihrer Kinder willen wagen sie alles. Auch Italien ist nur eine Etappe für sie auf der Suche nach einem Ort, an dem sie leben können.

Er ist vielleicht vier Jahre alt. Sein Weinen hallt durch die leeren Gänge der ehemaligen Schule. Die Tränen tropfen ihm auf das Hemd. Er seufzt. Wer weiß, was er erlebt hat auf der Flucht vor dem Krieg, in seinem zarten Alter. „Seine Schwester hat ihm eine Ohrfeige gegeben. Deshalb ist er beleidigt.“ Ein Freiwilliger lüftet lächelnd das Geheimnis. Die Kinder haben keine Angst vor diesem ganz anderen Leben, solange die Eltern bei ihnen sind. Die Männer unterhalten sich leise, telefonieren und wirken besorgt. Wenn ihnen ein Blick begegnet, grüßen sie mit einem Kopfnicken. Die Frauen schauen schweigend den spielenden Kindern zu. Sie sehen elegant aus mit ihren Kopf- und Schultertüchern. Alle sind aus Syrien geflohen. Viele gerade, weil sie Mütter und Väter sind.

„Ich musste weggehen, um ihrer Zukunft willen“. Suleiman streicht über die Locken der süßen kleinen Tochter, die er auf dem Arm hält. Sie ist die jüngste seiner drei Kinder. Vor ein paar Wochen ist er in Sizilien angekommen. Mailand ist nur eine weitere Durchgangsstation auf seiner Reise. Besser gesagt: in seinem Leben. Vor anderthalb Jahren ist er in Damaskus aufgebrochen. Er zeigt die Zahl auch mit den Händen, um sicherzugehen, dass wir es verstanden haben. Seit zwei Tagen ist er in dem Aufnahmezentrum in Mailand. Sobald er kann, will er weiter, Richtung Norden. Er weiß noch nicht genau, wohin: Deutschland, Holland, Schweden … Jedenfalls will er nicht in Italien bleiben. Wie fast alle Syrer, die seit Oktober nach Mailand gekommen sind. Allein die Zentren der Caritas haben 3.000 Flüchtlinge aufgenommen. „Davon haben nur sieben einen Asylantrag gestellt. Und das auch nur, weil sie angezeigt worden sind“, sagt Desio De Meo, der das Projekt „Notfall Syrien“ koordiniert. „Wer ankommt, ist verpflichtet, sich innerhalb von acht Tagen bei der Polizei zu melden und sich registrieren zu lassen. Doch dann wäre er gezwungen, Asyl zu beantragen, und Italien würde es ihm gewähren.“

Flüchtlinge in den Auffangzentren der Caritas.

Öffnung. Also bleiben sie lieber in den Flüchtlingszentren. Oder auch nicht. Sie bleiben so lange, wie sie brauchen, um Kräfte zu sammeln, sich Geld schicken zu lassen und die Weiterreise zu organisieren. Die erste Frage, wenn sie ankommen, ist: „Wo ist die nächste Western Union?“ Dann entschuldigen sie sich und sagen: „Italien ist wunderschön. Danke, Italien!“ Aber: „Hier gibt es keine Arbeit und die Bürokratie arbeitet zu langsam.“ Hinzu kommt, dass schon immer viele Syrer nach West- und Nordeuropa ausgewandert sind und viele dort Bekannte und Verwandte haben.

Die Caritas betreibt dieses Zentrum in der Via Salerio im Auftrag der Stadt Mailand. Es liegt in einem ungenutzten Teil des „Nazareth-Hauses“, einer ehemals von Schwestern geleiteten Mädchenschule. Der Orden hat sich von dem Appell des Papstes zur Öffnung angesprochen gefühlt und das Gebäude zur Verfügung gestellt. Die hundert Plätze sind immer belegt. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Die Flüchtlinge kommen am Hauptbahnhof an und werden von dort auf die verschiedenen Auffangzentren verteilt, je nachdem, wo gerade Platz ist. Allein in der Via Salerio kommen täglich 20 bis 30 Menschen an. Heute Nachmittag hat der Bus 26 gebracht. Junge Männer mit Kindern auf dem Arm, viel zu dicken Jacken und zu kleinen Reisetaschen. Dahinter die Frauen, müde, aber lächelnd.

Meistens sind es kinderreiche und verhältnismäßig wohlhabende Familien. Es kommen Ingenieure, Ärzte, Lehrer. Wer Syrien verlassen will, muss es sich leisten können, und den Mut aufbringen zu einer so großen Reise. „Dieser Mut“, sagt De Meo, „hat mit der Kultur und der Erziehung zu tun. Nicht alle haben ihn.“ In dem Auffangzentrum ist es auffallend ruhig. Nur die Kinder laufen herum und haben ihren Spaß. „Nach vielen anstrengenden Monaten ist dies der erste Ort, wo sie sich wirklich ausruhen können. Die Betreuer verlangen so wenig wie möglich von ihnen. „Wenn sie ankommen, haben wir nicht gleich Papier und Stift bereit, um sie zu registrieren. Das machen wir bewusst so. Als erstes bieten wir ihnen Tee an. Das ist für sie sehr wichtig, es ist wie zu Hause. Dann bekommen sie etwas zu essen, wenn sie wollen. Dann die Zimmer und Kleidung“, erklärt Aldayeb, der Übersetzer, der aus dem Jemen stammt. „Jeden Tag frage ich mich: Wie würde ich aufgenommen werden wollen? Das bedeutet für mich, dem anderen zum Nächsten zu werden.“



Überfahrt. Die Ruhe ist sofort vorbei, als einer der Flüchtlinge anfängt, seine Geschichte zu erzählen. Da zeigt sich, unter welcher Anspannung sie stehen. Alle reden durcheinander, es wird unruhig. Jeder will die Aufmerksamkeit des Übersetzers erhaschen. Sie diskutieren aufgeregt untereinander. Manche weinen, wollen aber nicht, dass man es sieht. Das erste, von dem sie erzählen, ist die Überfahrt über das Mittelmeer. Nach vielen Versuchen gelingt es, von Al Zawara an der libyschen Küste aufzubrechen. Das kostet 1.000 Dollar pro Person. Die Kinder zahlen nichts. Einige konnten die Überfahrt sofort antreten, andere erst nach Monaten. Dort am Strand in Libyen passiert alles Mögliche: Misshandlungen, Festnahmen, sehr viele werden ausgeraubt. Aber was immer auch geschehen mag, auf diese Reise können sie nicht verzichten. Bashir hat ein Stück der Überfahrt mit seinem Handy aufgenommen und zeigt es uns. 370 Menschen auf einem 16 Meter langen Schlauchboot. Unendlich viele Gesichter, alle starr vor Schreck. „Die Reise hat 14 Stunden gedauert, aber dann haben wir noch 15 Stunden auf das italienische Schiff gewartet, das uns an Land brachte.“

Suleiman hat beschlossen, aus Syrien auszuwandern, nachdem auf einem Platz in der Nähe seines Hauses siebzehn Menschen getötet wurden. Nachdem es keine Arbeit mehr gab, das Salz 20 Euro pro Kilo kostete und die Leute anfingen, Katzen und Hunde zu essen. Bashir hat mit seinem Handy auch einen Abschiedsgruß via Skype von seinen Eltern aufgenommen. So kann er sie immer sehen, wenn er will. Es ist ein verwackeltes Bild, zwei alte Leute auf einem Sofa, die sich mit wenigen Worten verabschieden. Die Gesichter sagen alles. „Sie konnten leider nicht mitkommen. Und ich weiß nicht, ob ich sie jemals wieder in die Arme schließen werde.“ Alle würden sich wünschen, nach Syrien zurückkehren zu können. Jeder von ihnen hat Verwandte und Freunde zurückgelassen. „Allein aus der Gegend von Damaskus sind drei Millionen Menschen geflohen. Andere sind in ihren Dörfern eingekesselt.“ Und wieder andere sind im Gefängnis. Shahir ist 30 Jahre alt, hat eine Frau und zwei Kinder mitgebracht. In Duma verkaufte er Gebrauchtwagen. Sein Bruder war Soldat in der Armee von Assad. Er ist desertiert und sitzt seit Beginn des Krieges im Gefängnis. „Seit sieben Monaten haben wir keine Nachrichten mehr von ihm.“

Alle sind mehr oder weniger über die gleichen Flüchtlingsrouten gekommen. Von Syrien ging es zunächst in die Flüchtlingslager im Libanon. Aber dort seien die Bedingungen „unmenschlich“ gewesen. „Mit einer Familie kann man dort nicht bleiben.“ Sie sind verärgert über die Golfstaaten. „Die Emirate, Dubai, Qatar!“, schreit Muhafaq, „die arabischen Staaten sollten unsere Brüder sein. Aber wir fliehen vor dem Krieg und sie lassen uns nicht rein.“ „Europa ist anders. Danke, Europa. Nur hierher können wir kommen.“ Kaum in Ägypten angekommen, mussten sie das Land schon wieder verlassen. Seit der Entmachtung von Mursi sind Syrer dort nicht mehr willkommen. Also ging es mit dem Bus weiter nach Libyen. Dort herrscht das totale Chaos, und niemand kümmert sich um sie. Dort blieben sie fast ein Jahr. Sie hatten ein Haus gemietet, einige hatten Arbeit gefunden. Aber sie hatten immer Angst vor der Gewalt in diesem Land, das außer Kontrolle geraten ist. Vor allem aber sorgten sie sich um die Kinder. „Sie gingen schon zu lange nicht mehr zur Schule.“ Einige von ihnen hatten in Syrien den Aufständischen nahegestanden und unterstützten sie auch noch aus der Ferne. „Wir wollten Geld und Lebensmittel nach Syrien schicken“, erzählt Suleiman. „Doch dann schickte Assad seine Männer auf Rachefeldzüge. Es wurde gefährlich, aus dem Haus zu gehen.“

Bashir ist Maurer. Er zieht seine Schuhe aus und zeigt uns seinen verstümmelten und vernarbten Fuß. „Eine Bombe.“ Er schüttelt den Kopf. „Das war auf einer Kundgebung für die Freiheit. Niemand hat sich vorstellen können, dass so etwas geschieht. Wir haben immer friedlich zusammengelebt. „Ich habe sie gesehen, mit meinen eigenen Augen!“, ereifert sich jetzt Muhafaq. Er meint Iraner, Russen, die Hisbollah. „Die alle waren da und haben gekämpft. Die Regierung hat ihr eigenes Volk angegriffen; die haben angefangen.“ Jemand widerspricht. Die Diskussion wird heftiger. „Einige revolutionäre Gruppen sind nichts als Mörder, sie töten für Geld.“ Einer ruft: „Irak, Irak!“ Wie bitte? „Syrien ist am Ende, wie der Irak.“

Und worauf hofft ihr? „Wir hoffen auf einen Ort, an dem wir leben können“, antwortet Shahir. Dann sind alle still. Sie denken wieder daran, wie es weitergehen soll. Mit dem Zug, oder indem man Schleuser bezahlt. Suleiman hatte in Mailand jemanden gefunden, der ihn nach Deutschland bringen sollte. „Ich habe ihm 1.000 Euro gegeben und ihn dann nie wieder gesehen. Ich hatte 5.000 Dollar, als ich losfuhr, jetzt habe ich nichts mehr. Was soll ich nun machen?“

Die Mitarbeiter und Freiwilligen tun alles in ihrer Macht Stehende für die Flüchtlinge. Manchmal helfen auch ganz normale Leute mit. Sie sammeln Kleider, verteilen Essen oder spielen mit den Kindern. De Meo ist von morgens bis abends hier. Sein Handy hat er immer in der Hand, um mit dem Bahnhof in Verbindung zu bleiben. Es macht ihn glücklich, wenn er für alle einen Schlafplatz gefunden hat, bevor er nach Hause geht. „Die Realität selbst bewahrt uns vor jedem Gefühl der Überheblichkeit. Nicht ich rette diese Menschen. Ich weiß nicht, was ihnen morgen zustößt. Aber heute Abend? Ich versuche, auf die Frage zu antworten, die sich mir heute Abend stellt: Was kann ich für sie tun?“ Einige wird er nicht einmal fortgehen sehen, denn die meisten brechen nachts auf.

Suraya. Wie die Familie von Suraya, dem ersten Kind von syrischen Flüchtlingen, das in Mailand geboren wurde und jetzt einem der Zentren seinen Namen gibt: „Hoffnung“. Sie kamen zu acht, in die Via Monluè, ein anderes Auffangzentrum in Mailand. „Die Mutter war hochschwanger. Deswegen haben wir sie von einer Frauenärztin untersuchen lassen. Jeden Tag schickt uns das „Werk des heiligen Franziskus“ einen Arzt. Dem Kind ging es nicht gut, aber die Eltern wollten nicht ins Krankenhaus. Aus Angst, dass sie sich dann offiziell anmelden müssten. „Ich habe mich sehr ins Zeug legen müssen, es war nicht einfach. Aber Suraya ist in jener Nacht kerngesund zur Welt gekommen.“ Einige Wochen später kam abends die Mutter auf ihn zu und legte ihm das Kind in die Arme, ohne ein Wort zu sagen. „Am nächsten Morgen waren sie nicht mehr da. Sie wollte, dass ich mich von dem Kind verabschiede.“

Das rührt De Meo, der sein Leben lang ehrenamtlich tätig war und sich nun, mit 68 Jahren, der Not der syrischen Flüchtlinge angenommen hat. „Es ist ein großes Glück, dass ich mich um sie kümmern darf. Das erfüllt mich. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber das hat für mich mit der Frage zu tun, wozu ich lebe und wozu ich sterbe.“ Er betont, seine Tätigkeit habe keine religiösen Motive. „Ich glaube nicht an Gott. Aber ich verstehe mich als ein Instrument. Es gibt Tage, da spiele ich schlecht, an anderen gut. Und an manchen Abenden frage ich mich, für wen ich gespielt habe.“