Weihnachten in Aleppo

Das dritte Mal schon feiern sie Weihnachten im Krieg. Immer noch schlagen Bomben und Granaten ein zwischen ihren Häusern.
Luca Fiore

Eine Stunde pro Tag gibt es Strom. Sie haben ihre Arbeit verloren, ihr Zuhause. Viele auch Angehörige. Wer flieht, weiß nicht, ob in das Leben oder in den Tod. Aber Hana bleibt dort, sie erwartet ein Kind ... Stimmen aus einem Land, das sich nach Frieden sehnt.
Am 25. Dezember werden es zwei Jahre, fünf Monate und neun Tage sein. Aleppo kann nicht mehr, es hofft nur, dass die „Mutter aller Schlachten“ endlich zu Ende geht. Vor dem Krieg hatte die Stadt drei Millionen Einwohner, heute ist es noch knapp die Hälfte. Sie ist in zwei konzentrische Kreise geteilt: der äußere befindet sich in der Hand der Rebellen, den Inneren kontrolliert die syrische Armee. Eingeschlossen ist sie allerdings nicht mehr, da es einen Korridor nach draußen gibt. Er verbindet das Zentrum der Stadt mit dem Rest des Landes. 10.000 Tote hat Aleppo nach Schätzungen schon zu beklagen, 4.500 Menschen sind vermisst. Die Front verläuft seit Monaten quer durch die Straßen und zerschneidet mit ihren Barrikaden und Checkpoints die ganze Stadt. In der Umgebung gehen derweil die Kämpfe weiter. Immer wieder schlagen Mörser und Granaten auch zwischen den Wohnblocks ein. Strom gibt es nur eine Stunde am Tag. Glücklich kann sich schätzen, wer einen eigenen Generator hat, und den nötigen Treibstoff, um ihn zu betreiben. An Obst und Gemüse fehlt es nicht. Die Läden werden regelmäßig beliefert. Aber die Preise steigen ständig. Letzten Sommer war die Innenstadt über Wochen ohne Wasser, da die Rebellen Wasserleitungen gesprengt hatten. Brunnen wurden zum wertvollsten Gut. Jetzt gibt es wieder Wasser. Aber für wie lange?

Aleppo war die syrische Stadt mit den meisten Christen, nämlich 200.000. Geblieben sind ungefähr 100.000. Für sie wird es das dritte Weihnachten im Krieg. Letztes Jahr schwebten sie Weihnachten in größter Gefahr. Zwischen dem 15. und dem 28. Dezember 2013 flog die syrische Luftwaffe regelmäßig Angriffe auf Aleppo, die etwa 500 Menschen das Leben gekostet haben. Inzwischen sind die Luftschläge seltener geworden, aber die Angst ist geblieben. 20 Kilometer vor der Stadt stehen die Kämpfer des IS. Wenn Assads Truppen weichen müssten, könnte Aleppo das gleiche Schicksal erleiden wie Mossul.

Was denken die Christen, die noch geblieben sind? Wie leben sie? Und wie bereiten sie sich auf das Fest vor, das im Rest der Welt für Frieden und Freude steht?

Elias Machek musste am Karfreitag 2013 aus seinem Haus fliehen. An dem Morgen weckten ihn Gewehrschüsse, begleitet von dem Ruf „Allahu Akbar“. Er raffte das wenige, was er zu fassen bekam, zusammen und versuchte, in ein sicheres Stadtviertel zu gelangen. „Die Straßen waren voll von Flüchtlingen. Ich sah, wie ein Mann von einer Kugel getroffen wurde und auf der Straße zusammenbrach. Keiner konnte ihm zu Hilfe eilen. Es wurde weiter geschossen. Heute noch höre ich den Schrei seiner Frau und das Weinen der Kinder. Wenn ich an diese Augenblicke zurückdenke, fallen mir die Hände Gottes ein, die uns getragen und uns den Weg gewiesen haben. Betet für uns, dass wir nicht in Versuchung geraten, unseren Glauben zu verleugnen ...“

 Die „blauen Maristen“. Hana Krir ist 25 Jahre alt und hat im Juli letzten Jahres Elias geheiratet. Auf Facebook kann man ein Foto von ihrer Hochzeit sehen. Es macht nicht den Eindruck, als sei es unter Bombenhagel entstanden. Im Augenblick wohnen sie bei Verwandten. Die Miete für eine eigene Wohnung können sie sich nicht leisten. Aber es gibt eine gute Nachricht: Sie erwarten ein Kind. Doch auch hier ist die Freude mit Sorge vermischt: „Im Krankenhaus haben sie mir gesagt, sie wüssten noch nicht, ob sie mir beistehen könnten. Wir werden sehen.“ Hana unterrichtet Englisch an einer katholischen Schule. „Die Schüler haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Jeder von uns hat mindestens einen Verwandten im Krieg verloren.“ Und was ist mit Weihnachten? „In Weihnachtsstimmung sind wir ganz und gar nicht. Wir haben so viele Probleme … Auch reiche Leute können nicht einmal ihre elementarsten Bedürfnisse befriedigen. Zum Glück gibt es die Caritas, die uns hilft. Sie bringt uns Gas, damit wir kochen können, und ein bisschen was zu essen …Wie ich mein Kind nennen werde? Wenn es ein Junge wird, Abed Allah. So heißt mein Schwiegervater, und es bedeutet „Diener Gottes“. Wird es ein Mädchen, weiß ich es noch nicht.“

Eine Gruppe von Flüchtlingen, die die Maristenbrüder aufgenommen haben.
„Wir würden gerne schön Weihnachten feiern. Aber wie soll das gehen? Wir leben in ständiger Angst“, sagt Mia Asal. „Vor ein paar Tagen hat eine Granate unser Haus getroffen.“ Mia ist mit Umit verheiratet. Beide haben durch den Krieg ihre Arbeit verloren. Sie arbeitete in einer Bank, er als Fremdenführer. Sie haben zwei Töchter, 20 und 16 Jahre alt. „Sie gehen noch zur Schule, aber auch sie leben unter großer Spannung. Wir haben überlegt wegzugehen, aber wir haben nicht genug Geld dafür. Ich würde mir wünschen, dass meine Töchter wieder lachen können. Um was ich Jesus bitte, wenn er kommt? Um Frieden für Aleppo und für Syrien. Aber ich weiß nicht recht, was ich sagen soll. Ich bin einfach traurig und fühle mich vom Glück verlassen.“

„Diesmal habe ich einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Er ist ja ein Symbol für das Leben.“ Antonia Raouik erzählt die Geschichte ihrer Familie. Vor einem Jahr sind sie aus Jabal el Saydeh geflohen, einem gutbürgerlichen Wohnviertel von Aleppo. Im Sommer 2012 hatten sie dort Flüchtlinge aus anderen von Rebellen eroberten Gegenden der Stadt aufgenommen. Nicht alle ihre Nachbarn waren bereit, das auch zu tun. Einer meinte, man solle Muslimen nicht helfen. „Mein Mann und ich sahen in ihnen vor allem Menschen, die alles verloren hatten. Eines Morgens wurden wir von Gewehrfeuer und dem Geschrei der Rebellen geweckt. Meine ältere Tochter geriet in Panik. Die Kleine sprach nicht mehr.“ Am nächsten Tag sind sie geflohen. Die Straßen des Stadtviertels waren voller Leute. „Uns war nicht klar, ob wir Richtung Tod oder Leben flüchteten. An diesem nicht enden wollenden Tag  hatte ich die ganze Zeit die Worte des Psalms im Kopf: ‚Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Vor wem sollte ich mich fürchten?‘ Schließlich kamen wir in einem sicheren Stadtteil an, wo wir Freunde hatten, die uns erwarteten.“ Für Antonia und ihre Familie folgten sehr schwere Monate. Es war mühsam, wieder Kraft zu schöpfen und neu anzufangen, sich bewusst zu machen, dass sie davongekommen waren. Das Viertel, in dem sie geboren und aufgewachsen ist, gibt es nicht mehr. Trotzdem sagt sie: „Nach und nach haben wir wieder die Gegenwart des Herrn erfahren. Wir haben Solidarität erlebt, die unschätzbare Hilfe von Bruder Georges Sabe und der anderen ‚blauen Maristen‘. Auch wenn wir momentan keine Zukunftsperspektiven haben, führt Maria uns in unserem Herzen einen Weg der Hoffnung. Trotz allem wird auch dieses Jahr Weihnachten das Leben wieder neu geboren.“

Die Maristenbrüder sind eine wichtige Präsenz in Aleppo. Sie sorgen jeden Tag dafür, dass ungefähr 350 Menschen eine warme Mahlzeit erhalten. Für 45 Familien zahlen sie die Miete. Verwundete Zivilisten versorgen sie umsonst, da die beiden Krankenhäuser der Stadt kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Auch um die Jüngsten kümmern sie sich: Für 280 Kinder haben sie einen christlich-islamischen Kindergarten organisiert. 20 Kinder im Alter zwischen 7 und 13 Jahren, die aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Schule gehen können, unterrichten und betreuen sie. Aline, Laila und Mony arbeiten bei ihnen. Jede von ihnen hat ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Fragen. So erzählt Aline: „Wir haben alles verloren. Aber am meisten tut mir weh , dass ich nicht verstehe, warum und wozu das alles geschieht. So viel Schreckliches ist passiert. Ich bitte Gott: ‚Tu doch etwas!‘ Klar bin ich gläubig, aber ich habe inzwischen den Eindruck, dass ich meinen Glauben langsam verliere. Ich frage mich, ob es überhaupt noch Sinn hat, Weihnachten zu feiern.“ Laila beschreibt mit Gegensatzpaaren, wie es ist, wenn man seit zweieinhalb Jahren mit den Bomben lebt: „Krieg und Frieden, Hoffnung und Verzweiflung, Ungeduld und Erwartung, Glaube und Zweifel. Ich kenne mich selbst nicht mehr in letzter Zeit und sage mit dem heiligen Paulus: Ich tue nicht das Gute, das ich eigentlich will. Der Schmerz hat von meinem Leben Besitz ergriffen. Soll ich bleiben oder weggehen? Ich habe keine Antwort.“ Mony spricht von ihrem Kampf, nicht der Logik des Krieges anheimzufallen, in die Falle zu tappen, sich ganz davon beherrschen zu lassen. „Der Glaube gibt meinen Entscheidungen Licht. Er führt dazu, dass ich mich den anderen zuwende, Leuten, die anders sind als ich, aber auch verletzt. Heute bin ich so weit, dass ich mein Leben durch die Erfahrung des Kreuzes lesen kann. Manchmal scheint der Weg des Glaubens utopisch zu sein. Doch selbst wenn alles auf das Gegenteil hindeutet, kann man auch heute in einer Haltung des Friedens, der Versöhnung und der Solidarität leben.“

Die Jugend von Homs. 170 km südlich von Aleppo erschüttert der Krieg auch Homs. Die Belagerung der Altstadt ist seit Mai zu Ende, aber die Gefechte gehen weiter. Gewiss wird es ein ruhigeres Weihnachtsfest als im Vorjahr, aber nur in militärischer Hinsicht. „Wie wir uns auf das Kommen Jesu vorbereiten? Vor allem körperlich. Es wird sehr kalt sein und es gibt kein Heizöl. Hier kann es leicht minus fünf Grad werden.“ Pater Ziad Hilal, der Direktor des Jesuit Refugee Service, kommt gleich zum Punkt. „Das Embargo trifft nicht nur die Regierung in Damaskus, sondern vor allem die Bevölkerung.“ Er muss es wissen. Die Organisation, die er leitet, versorgt 3.000 bedürftige Menschen mit Essen und den nötigsten Hilfsgütern. Unter seiner Leitung steht auch eine medizinische Ambulanz, eine Einrichtung, die 85 geistig Behinderte betreut, und eine für Kriegsinvaliden. Und damit noch nicht genug: Jeden Tag kommen um die 2.000 christliche und muslimische Kinder in die von den Jesuiten geführten Zentren, um gemeinsam zu lernen und zu spielen.

Vor seinem Büro treffen wir auf Nara Nasseif. Sie ist 22 Jahre alt und Studentin im vierten Semester. Nachmittags arbeitet sie bei den Jesuiten, um ihre Familie zu unterstützen. „Bei mir kommen die Leute an, die um Hilfe bitten. Ich muss rauskriegen, was sie brauchen, und sie dann in eines unserer Zentren schicken. Es sind erschöpfte Menschen, oft wütend. Manchmal schreien sie und wollen, dass wir ihre Forderungen sofort erfüllen. Es ist nicht leicht. Ich nehme sie in Empfang und versuche sie zu beruhigen. Am Anfang war es wirklich schwer. Wenn ich nach Hause kam, betete ich zu Gott, er möge mir Leidenschaft für diese Menschen schenken. Ich habe versucht, die Erfahrungen, die ich als Kind in der Pfarrei gemacht habe, in meine Arbeit einzubringen.“

Vielleicht hatte sie da Menschen wie Josef kennengelernt. Er ist 23 Jahre alt, studiert Pharmazie und hilft den Jesuiten bei der Katechese für die Grundschüler. „Man könnte meinen, Homs sei eine tote Stadt. Aber wenn man hierherkommt und sieht, was alles getan wird, dann erkennt man, dass sie lebt“, sagt er. „Ich bin von klein auf christlich erzogen worden. Ich hatte auch schwierige Phasen und Zweifel an meinem Glauben. Aber jedes Mal, wenn ich hierher kam, sah ich Pater Ziad und die anderen. Das war wie ein Licht, das es nirgendwo anders gab. Auch heute ist es noch so. Das ist kein bloßer Gedanke, sondern etwas, das ich spüre und erlebe.“

Als Christus auf die Welt kam, gab es auch keine Elektrizität und keine Heizung. Ihm war kalt, genau wie uns.

Auf den Straßen erkennt man nicht, dass auch in Homs bald Weihnachten gefeiert wird. Es gibt keine Festbeleuchtung oder geschmückte Christbäume in der Stadt. „Wir haben den Advent damit eingeläutet, dass wir den Kindern das Geheimnis von Mariä Verkündigung erklärt haben“, fährt Josef fort. „So versuchen auch wir, diese Botschaft in unser Herz aufzunehmen.“ Dieses Jahr wird Pater Ziad dank einer Spende aus Europa zum ersten Mal jedem der 5.000 Kinder ein Geschenk kaufen können. Schokolade, Bonbons, T-Shirts, Schlafanzüge. „Das wird wieder ein komisches Weihnachten werden. Aber ich kann sagen, dass wir glücklich sind. Als Christus auf die Welt kam, gab es auch keine Elektrizität und keine Heizung. Ihm war kalt, genau wie uns. Das hat ihn nicht daran gehindert, denen, die er traf, zum Freund zu werden.“