Die Herausforderung eines echten Dialogs nach den Attentaten von Paris

aus Corriere della Sera, 13. Februar 2015
Julián Carrón


Das Zeugnis. Wenn Europa weiterhin ein Raum der Freiheit sein will, sollte es eine Begegnung zwischen den unterschiedlichen Antworten auf die Sinnfrage ermöglichen. Das wäre eine Chance für alle, auch für die Christen.

Die Herausforderung eines echten Dialogs nach den Attentaten von Paris

Von Julián Carrón

Sehr geehrter Herr Chefredakteur, es ist inzwischen viel über die Ereignisse von Paris gesprochen worden. Alle waren irgendwie ratlos oder verängstigt. Zahlreiche Analysen haben interessante Ansätze für das Verständnis eines so komplexen Phänomens erbracht. Aber was ist einen Monat später davon noch übrig, nachdem wir wieder zur Routine des Alltags zurückgekehrt sind? Was kann verhindern, dass diese erschütternden Ereignisse so schnell aus unserem Gedächtnis verschwinden? Um sie wachzuhalten, müsste man sich klarmachen, worin die Herausforderung, die die Attentate von Paris darstellen, wirklich besteht.
Wir heutigen Europäer haben das, wonach sich unsere Väter sehnten: ein Europa, das einen Raum der Freiheit bildet, in dem jeder so sein darf, wie er möchte. Der alte Kontinent ist ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen, Religionen und Weltanschauungen geworden.
Die Ereignisse von Paris zeigen jedoch, dass dieser Raum der Freiheit sich nicht von alleine erhält. Er kann bedroht werden durch diejenigen, die Angst vor der Freiheit haben und ihre Sicht der Welt mit Gewalt durchsetzen wollen. Wie sollten wir auf diese Drohung antworten? Gewiss sollten wir diesen Freiheitsraum mit allen legalen und politischen Mitteln verteidigen. Zunächst durch einen Dialog mit den arabischen Ländern, die bereit sind, einer Katastrophe entgegenzuwirken, die auch ihnen schaden würde. Man sollte außerdem für einen angemessenen gesetzlichen Rahmen sorgen, der wirkliche religiöse Freiheit für alle gewährleistet. All dies reicht aber offensichtlich nicht aus. Die Täter von Paris kamen nicht aus dem Ausland. Sie waren Einwanderer der zweiten Generation, in Europa geboren, zu europäischen Stadtbürgern erzogen, wie viele andere, die schon lange in unseren Ländern leben. Das ist ein neues Phänomen, das noch zunehmen wird aufgrund der anhaltenden Zuwanderung und der demographischen Entwicklung in aller Welt. Von Armut und Not getrieben, werden immer mehr Menschen zu uns kommen.
Daher ist das Problem vor allem ein innereuropäisches und muss auch innerhalb Europas gelöst werden. Die eigentliche Herausforderung ist kultureller Art und spielt sich in unserem Alltag ab. Diejenigen, die ihre Länder verlassen und zu uns kommen, tun dies, weil sie nach einem besseren Leben streben. Wenn ihre Kinder im Westen geboren werden und aufwachsen, was erleben sie dann? Finden sie etwas, was menschlich anziehend ist, was ihre Vernunft und ihre Freiheit herausfordert? Das gleiche Problem stellt sich in der Beziehung zu unseren eigenen Kindern: Haben wir ihnen etwas zu bieten, das der Sehnsucht nach Erfüllung und Sinn entspricht, die sie in sich vorfinden? Bei vielen Jugendlichen, die in der sogenannten westlichen Welt aufwachsen, herrscht vollkommener Nihilismus, eine tiefe Leere vor, die Ursache jener Verzweiflung ist, die am Ende in Gewalt umschlägt. Denken wir nur an diejenigen, die von Europa aus in den Nahen Osten reisen, um in terroristischen Organisationen zu kämpfen. Oder an das verzettelte und orientierungslose Leben so vieler junger Menschen in unseren Städten. Auf diese zerstörerische Leere, dieses sich ausbreitende Nichts muss man eine Antwort geben.
Angesichts der Ereignisse in Paris ist jedes Sich-Berufen auf eine Idee, mag sie auch noch so richtig sein, nutzlos. Wir haben inzwischen gelernt, nachdem wir einen langen Weg zurückgelegt haben, dass es keinen anderen Zugang zur Wahrheit gibt als die Freiheit. Deswegen haben wir beschlossen, auf die Gewalt zu verzichten, die ja immerhin verschiedene Epochen unserer Geschichte gekennzeichnet hat. Heutzutage bildet sich niemand von uns mehr ein, auf eine Provokation damit antworten zu können, dass er anderen eine Wahrheit aufzwingt, egal welche es sei. Für uns ist Europa ein Raum der Freiheit. Damit meinen wir nicht einen leeren Raum, der keinerlei Vorschlag für das Leben macht. Denn von Leere kann man nicht leben. Niemand kann bestehen und eine konstruktive Beziehung zur Wirklichkeit aufbauen ohne etwas, für das es sich zu leben lohnt, ohne die Hypothese eines Sinns.
Das wird über die Zukunft Europas entscheiden: Ob es endlich der Ort wird für eine wirkliche Begegnung zwischen den verschiedenen Sinnhypothesen, wie viele und wie unterschiedlich sie auch sein mögen, oder nicht. So war es jahrhundertelang in einigen Ländern des Nahen Ostens, in denen unterschiedliche Kulturen und Religionen friedlich zusammenlebten. Jetzt aber sehen sich Christen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil die Umstände ihnen dort das Leben unmöglich machen. So wird das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben.
Jetzt beginnt die Bewährungsprobe für Europa. Freiheitsraum meint einen Raum, in dem jeder einzelne und jede Gruppe öffentlich sagen kann, was er oder sie denkt. Jeder möge allen seine Sicht der Welt und seine Lebensweise vorschlagen. Sich das gegenseitig mitzuteilen, wird zu Begegnungen führen, die auf der realen Erfahrung des einzelnen basieren, und nicht auf ideologischen Vorurteilen, die einen echten Dialog verhindern. Wie Papst Franziskus sagt: „Am Anfang des Dialogs steht die Begegnung. Daraus entsteht die erste Kenntnis des anderen. Denn wenn man von der Voraussetzung der gemeinsamen Zugehörigkeit zur menschlichen Natur ausgeht, dann können Vorurteile und Unwahrheiten überwunden werden, und man kann beginnen, den anderen unter einer neuen Perspektive zu verstehen.“
Die derzeitige historische Situation stellt eine außergewöhnliche Chance für alle dar, auch für die Christen. Europa kann zu einem großen Raum für uns alle werden, einem Raum für das Zeugnis eines anderen, sinnvollen Lebens, das auch den Anderen und Andersartigen annehmen kann und seine Menschlichkeit aufrichten durch Gesten voller Dankbarkeit.
Papst Franziskus hat die Christen dazu aufgefordert, persönlich Zeugnis abzulegen, und betont, nur so könne man „die befreiende Botschaft der Liebe Gottes und der Erlösung durch Christus in ihrer Kraft, Schönheit und Einfachheit verkünden“. Aber glauben wir Christen noch, dass der Glaube, der uns geschenkt wurde, eine Anziehungskraft ausüben kann auf die Menschen, denen wir begegnen? Glauben wir an die Faszination seiner wehrlosen Schönheit?

Präsident der Fraternität von Comunione e Liberazione