Eine Frau fegt den Boden in der Nikolaus-Kirche von Artemiwsk.

UKraine: DER WIDERSTAND
DES HERZENS

Zwölf Monate Krieg. Und nun eine brüchige Waffenruhe. Aber ein anderer Kampf geht weiter: der im Inneren jedes Menschen.
Luca Fiore

Pater Mychajlo Dymyd, der auf dem Majdan die Zeltkapelle aufgebaut hatte, sagt: Was die Christen tun können, beginnt Zuhause und hat die Gestalt eines veränderten Lebens.

Am 12. Februar wurde in Minsk das zweite Waffenstillstandsabkommen unterschrieben. Aber vom Frieden ist die Ostukraine noch weit entfernt. Es wird weiter geschossen und gestorben. Seit den Demonstrationen auf dem Majdan sind erst gut 12 Monate vergangen, doch das scheint eine Ewigkeit her zu sein. Der Sturz des Präsidenten Wiktor Janukowytsch führte zunächst zur Annexion der Krim durch Russland und dann zum Krieg im Donbass, wo auch mit Hilfe von Soldaten und Waffen aus Moskau gekämpft wird. Die bisherige Bilanz: 5.000 Tote und eine Million Flüchtlinge.

Was ist aus der Energie geworden, die zu den friedlichen Protesten auf dem Majdan geführt hat? Wurde sie unter den Trümmern von Donezk begraben? So denkt nicht jeder. Zum Beispiel Pater Mychajlo Dymyd nicht, der griechisch-katholische Geistliche, der Anfang November 2013 eine Zeltkapelle auf dem Platz in Kiew aufgestellt hatte. Anschließend erklärte er, der Aufstand vom Majdan sei ein „Aufstand des Geistes“ gewesen. Aber wenn der geistige Kampf aufhöre, würde er zur Gewalt. „Die Leute vom Majdan werden sich, wenn alles vorbei ist, wenn sie wieder zu Hause sind, an die Erfahrung erinnern, die sie in Kiew gemacht haben“, schrieb er, bevor der Krieg im Osten ausbrach. „Und sie können sich ihrer Menschlichkeit gemäß verhalten. Das ist der Kampf, der jetzt beginnt, und er wird am schwersten zu gewinnen sein.“

Pater Dymyd, wie ist der Kampf verlaufen, von dem Sie vor einem Jahr gesprochen haben? Sind die Menschen daran gewachsen?
Was ich in den letzten Monaten gemerkt habe, ist, dass alle Probleme der ukrainischen und der russischen Gesellschaft aufgedeckt wurden. Das ist an sich gut, wenn auch schmerzhaft. Wir verstehen heute nämlich besser, was geschieht. Die Erfahrung des Majdan hat einen Großteil der Gesellschaft verantwortungsbewusster im Bezug auf das gemacht, was im Land vor sich geht. Viele Leute fühlen sich persönlich verantwortlich für die Zukunft. Für die Zukunft der Ukraine, aber auch für die Zukunft Russlands und Europas. Früher waren sie viel träger und zeigten weniger Interesse an der Realität. Heute ist ein Krieg im Gange, der nicht zwischen der Ukraine und Russland geführt wird, sondern vor allem zwischen Gut und Böse. Das Schlachtfeld ist weiterhin das Herz jedes Menschen.

In Wuhlehirsk, Stadt zwischen Luhansk und Donezk. ©RTR4P1RW

Die Zeitungen schreiben allerdings etwas anderes. Die Majdan-Bewegung soll sich aufgelöst haben.
Wo vor einem Jahr die Zelte und die Barrikaden standen, haben sich jetzt „Berufsrevolutionäre“ breitgemacht. Aber die eigentliche Bewegung hat sich verlagert, die Freiwilligen, die Unterstützer … Die Mobilisierung geht weiter. Die Leute engagieren sich in ihrem unmittelbaren Umfeld, in ihrem Viertel, in ihrer Stadt. Es ist eine Bewegung zum Nächsten hin.

Es gibt auch Freiwillige, die gegen die prorussischen Separatisten kämpfen …
Natürlich, manche ziehen in den Krieg. Auch die Kirche kennt ja das Recht, sich zu verteidigen. Mein Sohn beispielsweise ist als Freiwilliger losgezogen. Ich wollte nicht, dass er das tut, aber ich konnte ihn nicht aufhalten. Aber es gibt noch mehr Leute, die Flüchtlinge aufnehmen, sich um Verletzte kümmern, die Menschen trösten und begleiten, die Angehörige im Krieg verloren haben. Wir spüren eine geistliche und auch materielle Wärme, die aus der Gesellschaft kommt, nicht vom Staat.

Sie haben eben von den Problemen gesprochen, die die ukrainische und die russische Gesellschaft gleichermaßen haben. Welche sind das?
Kurzgefasst würde ich sagen: alles, was von der Vergötterung Lenins herrührt. Dass in vielen Städten noch heute sein Denkmal auf dem Hauptplatz steht, spricht Bände.

Wieso?
Die sowjetische Tradition hat einen Wohlfahrtsstaat geschaffen, der den Vater, die Mutter und Gott ersetzen wollte. In der Ukraine bewegt sich, im Gegensatz zu Russland, jetzt etwas in die entgegengesetzte Richtung. Im Jahr 2014 sind 1.000 Lenin-Statuen gestürzt worden. Jetzt gibt es noch 1.500. Was bedeutet es, dass in einem kleinen Ort in der Ukraine zwei, drei, fünf Leute sich die Mühe machen, ein Denkmal abzubauen? Es bedeutet, dass diese Menschen den Geist der Freiheit wiedergefunden haben. Sie haben sich für das Gute entschieden, denn frei zu sein bedeutet, das Gute zu suchen. Diese Bewegung von innen heraus kann die Gesellschaft verändern – nicht die Politiker in Kiew, Moskau oder Brüssel.

Welche Rolle spielen die Kirchen und die christlichen Gemeinschaften?
Die christlichen Gemeinschaften (auch wenn ich lieber von religiösen Gemeinschaften sprechen würde, weil auch die Juden und Muslime hier beteiligt sind) sind betroffen von dem, was geschieht, und haben begonnen, über die Ereignisse im Land nachzudenken. Das ist für uns nicht selbstverständlich. Die Kirchen als Institutionen sind hierbei von ihren eigenen Gemeinden überholt worden, die in dieser Hinsicht viel weiter sind. Früher wurden keine Waffen eingesetzt, aber wir waren trotzdem in einer Art Kriegszustand. Wir lebten mit einer Reihe von Kompromissen, die zu dem aktuellen Krieg geführt haben. Jetzt müssen wir nicht nur die Waffen zum Schweigen bringen, sondern auch versuchen, unseren Glauben in den alltäglichen Umständen authentisch zu leben.

Was hat der gelebte Glaube mit dem Frieden zu tun?
Mir scheint, dass die Christen langsam verstehen, dass das Böse, was viele hier mit Wladimir Putin identifizieren, kein anderes Böse ist als das, das jeder von uns in seinem Herzen trägt. Man muss das Böse ausgehend von seinem eigenen Leben bekämpfen, in seiner eigenen Gemeinschaft, unter den verschiedenen Gemeinschaften, unter den unterschiedlichen Religionen. Das hilft zum wahren Frieden. Den Glauben zu vertiefen hilft außerdem auch den Soldaten.

In welchem Sinne?
Es ist sehr wichtig, dass die Soldaten an der Front auch geistlich begleitet werden. Von ihrer moralischen Gesundheit hängt ihr Verhalten im Kampf stark ab. Auch sie können zum Frieden beitragen.

Wladimir Putin, Francois Hollande, Angela Merkel und Petro Poroschenko bei den Verhandlungen in Minsk. ©REUTERS/M

Was wünschen Sie sich für sich selbst und für Ihr Land?
Heute Morgen habe ich den Herrn gebeten: Hilf mir, den Geist des Majdan in meinem Haus und in meiner Familie zu leben. Es ist leichter, für Menschen in der Ferne Verständnis aufzubringen als für die eigenen Angehörigen. Über seine Frau oder seine Kinder ärgert man sich leicht. Wenn ich beginne, sie anders anzuschauen, dann ist das das erste, womit ich allen helfen kann. In der gegenwärtigen Situation ist das sehr wichtig. Die Spannung ist wirklich groß, auch in den Gebieten, in denen nicht gekämpft wird.

Woran merkt man das?
Nach Epiphanias bin ich bei 600 Familien in Lemberg gewesen, um ihre Häuser zu segnen. Bei allen spürte ich ein Gefühl von Beklommenheit angesichts dessen, was gegenwärtig geschieht. Ich möchte nur klarmachen, dass man seinen Beitrag zum Guten auch dadurch leisten kann, dass man einfach seine Arbeit verrichtet, egal, wo man hingestellt ist. Man kann zum Frieden beitragen, indem man das Leid, das einen trifft, annimmt und es aufopfert für jemanden, der es nötiger braucht.

Was hilft einem dabei besonders?
Das Zeugnis. Das Zeugnis ist ansteckend. Man sollte den Leuten durch sein Leben den Blick zeigen, wie ihn Jesus auf dem Weg nach Golgatha hatte. Dieser Blick hilft beispielsweise, all das Gute zu sehen, was uns in den letzten Monaten widerfahren ist. Eine große Welle von gutem Willen, Hoffnung und Gebet. Die Menschen haben sich geöffnet, haben begonnen, sich aufrichtige und existentielle Fragen zu stellen. Jetzt suchen sie Antworten. Für mich ist das ein großer Schritt voran.