WO MAN DIE FREIHEIT TÖTET

Die Korrespondentin von La Stampa, Autorin eines Buches über die Verfolgungen, berichtet über die „globale Dimension“ des Angriffs auf die Christen
Francesca Paci

„Wir stehen unter Beschuss. Die ganze christliche Gemeinde von Aleppo, das fundamentalistische Kräfte der Al-Nusra-Front und des Islamischen Staats von drei Seiten belagern. Doch die allerletzte Neuigkeit betrifft uns Armenier: Während der Papst mutig den Völkermord von 1915 anprangert, nimmt uns die islamistische Miliz der Al-Nusra-Front ins Visier, die de facto von der Türkei Beistand erhält. Seit Tagen zielen Raketengeschosse, die seit Ostern das christliche Viertel Sulaimaniyah bombardieren, direkt auf unsere Kirche, die Straße der Armenier, unsere Häuser. Bei der Bombardierung einer Wohnsiedlung wurden 26 Menschen getötet.“

Der 51 Jahre alte Geistliche, der darum bittet, nur als Seraphim ausgewiesen zu werden, lebt in der  syrischen Stadt Aleppo, der äußersten Grenze der Offensive gegen die Christen, die nach dem Auftreten des Islamischen Staats zu Beginn des letzten Jahres auf unkontrollierte Weise entbrannt ist.

Der letzte Bericht von Open Doors International über Christenverfolgungen auf der Welt bezeichnet das Jahr 2014 als das schwärzeste Jahr aller Zeiten: mindestens 4.344 Menschen wurden wegen ihres Glaubens an Jesus getötet, mehr als tausend Kultorte zerstört (doppelt so viel, wie im Vorjahr). Der verzeichnete Gewaltanstieg hat viel mit dem selbstherrlichen Auftreten neuer oder wenig bekannter Akteure zu tun: Syrien, einstmals ein Ort friedlichen Zusammenlebens verschiedener Religionen, wenn auch um den Preis einer mit Pjöngjang vergleichbaren Diktatur; der Irak, wo das Vordringen des nahen „Kalifats“ die Fanatiker elektrisiert und das 2003 begonnene Sich-Leeren der Kirchen beschleunigt hat; neue dschihadistische Gruppen von Libyen über den ägyptischen Sinai bis nach Somalia mit seinen Shabaab-Milizen. Alle diese Gruppen sehen in der ideologischen Nähe zu den Schlächtern von al-Baghdadi die Befreiung aus einer geografischen und geopolitischen Marginalität, was durch ständig neue Gewalt besiegelt wird; Nigeria, wo die auch vorher schon furchterregenden Killer von Boko Haram ein neues Niveau erreicht haben, indem sie Mädchen entführen und als Sklavinnen verkaufen, unschuldigen Kindern Kamikaze-Anschläge anvertrauen und Bomben im Herzen der am stärksten bevölkerten Marktplätze hochgehen lassen.

Francesca Paci

„Wir kommen wieder.“ Auch wer bereits 2010 vor einem Anstieg des sektiererischen Hasses gewarnt hat, der sich dem Pew-Forschungszentrum zufolge schon zu diesem Zeitpunkt auf die Christen konzentrierte (sie stellen siebzig Prozent der aus religiösen Gründen Verfolgten), hätte sich dennoch die darauf folgende Steigerung schwerlich vorstellen können. Der arabische Frühling im Jahr 2011 hat die Hoffnung auf eine neue Allianz zwischen Völkern entzündet, die dem Glauben nach getrennt, aber in ihrem Wunsch nach Demokratie vereint waren. Die Fahnen auf dem Tahrir-Platz in Kairo – das koptische Kreuz an der Seite des islamischen Halbmonds – ließen auf eine Wende im Prozess der allmählichen Zerstörung der Kirchen im Nahen Osten hoffen, in dem das Christentum einst entstanden ist.

„Wir sind schnell wieder aufgewacht: In dem Jahr, in dem Präsident Mursi und die Muslimbrüder regierten, haben sich die Dinge radikal verschlimmert, sogar unsere islamischen Freunde haben uns scherzhaft geraten, die Koffer zu packen, weil man uns früher oder später enteignen würde“, erzählt Francis Sheada, der als Katholik zu einer Minderheit innerhalb der christlichen Minderheit in Ägypten gehört, die heute wie ein Mann hinter Präsident Al Sisi steht. Der Geistliche Seraphim, der seit mehr als siebzehn Jahren der armenisch-evangelischen Kirche in Aleppo vorsteht, bezieht keine politische Position (außer gegen die Türkei), sondern beschreibt eine Gemeinschaft, die auf der Kippe zum Abgrund steht und deren Grundbedürfnisse er nur unzureichend (mit der Hilfe von Vereinigungen wie „Porte Aperte“) zu befriedigen vermag: „Das Elternhaus in meinem Geburtsort ist verbrannt worden und auf den Wänden prangt der Schriftzug: ,Wir kommen wieder’. Obwohl die armenische Kirche drei Anschläge hinter sich hat, war sie während der letzten vier Jahre jeden Sonntag geöffnet. Und auch wenn Bomben fallen, feiern wir mit etwa 250 Gläubigen die Messe, einschließlich der Katholiken und der Orthodoxen, die keine Kirche mehr haben. Wir fordern sie nicht auf, zu kommen, aber sie kommen. Nach der schrecklichen Eskalation während des orthodoxen Osterfestes hat mir eine 82 Jahre alte Dame gesagt, sie sei dort, weil es besser sei, unter dem Altar zu sterben als in der Küche.“ Siebzig Prozent der Christen haben ein Aleppo ohne Elektrizitätsversorgung verlassen und leben in den syrischen Flüchtlingslagern, die zwischen der Türkei und Jordanien verstreut liegen; die Hälfte der Zelte ist von getauften Männern und Frauen besetzt. Wer ein Gefangener der Geschichte ist, trauert in seinem Herzen dem Regime von Assad nach.

Die Töchter des Reverends. Der Angriff auf die Christen hat eine globale Dimension. Unter den fünf schlimmsten Ländern des Jahres 2014 steht Nordkorea an erster Stelle. Fernab zwar vom Krisenherd der neuen dschihadistischen Gruppen ist es nach Aussagen von Menschen, die sich nach Seoul flüchten konnten, ein Land mit Konzentrationslagern, in denen sich unter anderen „Oppositionsgegnern“ siebzehntausend Christen befinden sollen. Es folgen Syrien, Nigeria, die Zentralafrikanische Republik, Kenia und dann der Irak, Pakistan, das von den Botschaftern des Kalifats überschattete Libyen: Staaten, in denen es unabhängig vom Kräfteverhältnis (in Kenia etwa bilden die Christen die Mehrheit) so aussieht, als sei der Religionskrieg das Kennzeichen der Postmoderne.



„Meine Töchter gehören zu den verschwundenen Mädchen. Ich empfinde tiefen Schmerz, der mich jeden Tag begleitet“, flüstert Reverend Enock mit kaum hörbarer Stimme. Er ist Vater von zweien der 232 Schülerinnen von Chibok (von denen mindestens 165 dem christlichen Glauben angehörten), die vor einem Jahr von den Schwadronen von Boko Haram verschleppt wurden. Seitdem sich die afrikanischen Taliban dem Islamischen Staat angeschlossen haben, wird Nigeria – zusätzlich zu der äußerst harten Konfrontation zwischen den Volksstämmen, den ländlichen und islamischen im Norden und denen des christlichen und Handel treibenden Südens – nun auch von einem Graben des Hasses durchzogen. Amnesty International zufolge hat Boko Haram in Nigeria zu Beginn des Jahres 2014 mindestens zweitausend Frauen und Mädchen verschleppt, um sie zu Sklavinnen oder zu Kamikaze-Kindern zu machen. Die Terrorgruppe hat mehr als 5.500 Zivilisten getötet; sie hat ganze Dörfer zerstört, darunter Bama, wo ein Vertreter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen über ein Massengrab mit mindestens 550 Frauenleichen berichtet hat, unter denen die Mädchen von Chibok sein könnten.

Auge um Auge. Beobachter des World Watch Monitor schätzen, dass im letzten Jahr in elf Ländern der Druck auf die Kirchen abgenommen hat (darunter im indischen Bundesstaat Orissa, Schauplatz des Pogroms gegen Christen im Jahr 2007, wo die Spannungen nachgelassen haben, wie Pater Joseph bestätigt, auch wenn die Kirchen aufgrund des Glaubenswechsels von Hindus zum Christentum im Visier stehen), in sieben Ländern gleich geblieben ist und in 29 Ländern zugenommen hat. Unter den zurückgestuften Ländern befindet sich Pakistan, wo sich nach dem Fall von Asia Bibi, die 2009 unter der Beschuldigung, das Blasphemiegesetz verletzt zu haben, festgenommen und zum Tod durch Erhängen verurteilt wurde, eine zunehmend düstere Schattenzone ausbreitet.

„Die Situation war schwierig, aber jetzt ist sie noch schwieriger, weil einige Christen beginnen, zu reagieren. Und das liefert dem Hass der Muslime ein auf sozialer Ebene leicht verwendbares Alibi“, sagt Pater Nadim aus Lahore, wo der vierzehn Jahre alte Nauman Masih möglicherweise deswegen von einer Gruppe gleichaltriger Muslime getötet und den Flammen übergeben wurde, weil sie die Lynchjustiz an zwei ihrer Leute nach dem Attentat am 15. März auf zwei Kirchen von Youhanabad rächen wollten.

Ruine einer zerstörten Kirche in Orissa. ©All India Christian Council

Auge um Auge, und die Welt wurde blind, heißt es in volkstümlichen Sprichwörtern. Und dennoch haben auch Christen in der Ebene von Ninive im Irak, wo sie schon nach dem zweiten Golfkrieg nur noch drei Prozent ausmachten – ein Schatten von dem, was sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren –, eine Brigade aufgestellt, die bereit ist, an der Seite der Kurden gegen den Vormarsch des Kalifats zu kämpfen. Etwas Ähnliches ist bereits in der Zentralafrikanischen Republik geschehen, wo 2014 die christliche Anti-Balaka-Miliz und die Animisten Tausende von Muslimen bei einer Abrechnung getötet haben, so dass bei der UNO von Genozid die Rede war.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich in Afrika, wo man so leicht für das sterben kann, was man tut, für das getötet werden könnte, was ich bin. Aber während ich beschließen kann, ein Kleid nicht anzuziehen oder kein Kreuz am Hals zu tragen, so kann ich nicht beschließen, kein Christ zu sein“, erklärt eine 25-Jährige aus Nairobi am Telefon, die heute mehr denn je empfindet, dass sie eine der Studenten des Campus in Garissa hätte sein können, die von den somalischen Shabaab nach einer makabren religiösen Selektion kaltgemacht wurden. Unterschwellig ist das düstere Echo der Kriegstrommeln zu hören.