"Eine große Enttäuschung, aber CL ist das genaue Gegenteil"

Interview mit Julián Carrón
Paolo Rodari

Rom. „Die Enttäuschung ist schmerzhaft. Das Ideal der Bewegung von Comunione e Liberazione ist das genaue Gegenteil der Korruption, die in den Ermittlungen gegen die Hauptstadtmafia zum Vorschein kommt. Und dass unter den Beschuldigten Leute der Bewegung sind, bedauern wir alle zutiefst.“

Drei Jahre nach seinem Brief an La Repubblica, in dem er schrieb, es habe ihn „tief geschmerzt zu sehen, was wir aus der uns geschenkten Gnade gemacht haben“ (damals waren einige mit CL verbundene Politiker aus der Lombardei angeklagt worden), fühlt sich Don Julián Carrón, der Präsident der Fraternität von CL, wiederum verpflichtet, Stellung zu beziehen. Es wird nämlich aufgrund der abgehörten Telefongespräche auch gegen die Kooperative La Cascina ermittelt, zu der auch einige Vertreter der Bewegung gehören.

Don Carrón, wiederholt sich die Geschichte?
„Lassen wir die Justiz ihre Arbeit tun. Die gerichtlichen Ermittlungen werden zeigen, ob die Vorwürfe stichhaltig sind. Aber schon allein die Möglichkeit, dass ein karitatives Werk, das sich um so verzweifelte Menschen kümmert, durch korrupte Machenschaften und persönliche Bereicherung beschmutzt werden könnte, ist inakzeptabel und beschädigt die Substanz der Barmherzigkeit und christlichen Liebe selbst. Papst Franziskus ruft in seinen Stellungnahmen gegen die Korruption immer wieder dazu auf, ‚unsere Hoffnung nicht auf das Geld oder die Macht‘ zu setzen.“

Die Ermittler gehen davon aus, dass La Cascina Schmiergeld gezahlt hat, um den Zuschlag für Dienstleistungen im Flüchtlingslager Cara di Mineo zu erhalten.
„Falls sich das bestätigen sollte, wären das sehr schwerwiegende Taten und rückhaltlos zu verurteilen, egal wer sie begangen haben mag. Nicht nur wegen des erschütternden Ausmaßes an Korruption und Missbrauch öffentlicher Gelder, das die Ermittlungen aufzudecken zu scheinen, sondern vor allem, weil das auf Kosten der Schwächsten geschehen wäre.“

Man fragt sich, wozu CL erzieht.
„Die Bewegung erzieht zu einem Verständnis von Nächstenliebe, das das genaue Gegenteil der Verhaltensweisen ist, von denen hier berichtet wird. CL schlägt jedem, egal ob er Schüler, Student oder Berufstätiger ist, Gesten der Nächstenliebe vor, eben um die Leute dazu zu erziehen, dass sie unentgeltlich ihre Zeit zur Verfügung stellen, um Schwachen, Armen, Alten, Kranken, Behinderten, Flüchtlingen ... zu helfen. Vielleicht erregt ein eventuelles Fehlverhalten von Leuten, die zu CL gehören, gerade deshalb größeres Aufsehen, weil es dem Vorschlag der Bewegung diametral entgegensteht und daher viele enttäuscht, die uns kennen.“


Aber warum taucht Ihrer Meinung nach der Name CL immer wieder im Zusammenhang mit solchem Fehlverhalten auf?
„Wir sind Sünder wie alle. Aber ich bin sicher, dass niemand, der in der Bewegung erzogen wurde und ihr angehört, auch nur im Entferntesten denken kann, es sei gerechtfertigt, die Caritas zu seinem eigenen Vorteil auszunützen. Wir wollen Erwachsene zu ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl erziehen. Doch das funktioniert nicht mechanisch, denn all unsere Vorschläge richten sich an die Freiheit der Person, die sie annehmen und ihnen folgen kann, oder sie ablehnen und ihre eigenen Projekte und Interessen verfolgen.“

Sagen Sie damit, dass die Zugehörigkeit zur Bewegung das eine ist, aber das persönliche Handeln etwas anderes?
„Die Verantwortung für ein Werk liegt bei dem, der es macht. CL mischt sich nicht ein, wenn ein Mitglied sich entscheidet, etwas in der Gesellschaft zu tun. Ebenso wenig mischen wir uns in die Führung eines Werkes ein, die ganz in der Verantwortung desjenigen liegt, der es macht. Ich muss aber feststellen, dass oft alles, was ein Mitglied von CL tut, direkt der Bewegung zugeschrieben wird. CL hält unwiderruflich immer eine kritische Distanz, nicht nur gegenüber der Politik, sondern auch gegenüber den Werken, die von ihren Mitgliedern initiiert werden.“

Wie kommt man dann von einer gelebten Zugehörigkeit mit einem Sich-Ausstrecken nach dem Ideal zu einer gewissen Degeneration?
„Das ist eine Frage, die ich mir oft gestellt habe. Manchmal geschieht es aufgrund eines Zusammenbruchs der Sehnsucht nach dem Ideal; ein anderes Mal gelangt man bei dem Bemühen, auf die so unendliche Not zu antworten, die wir um uns herum sehen, zu der Meinung, die gute Absicht rechtfertige alles.“

Wie schafft man es dann, der Versuchung der Korruption nicht zu erliegen?
„Wir alle wissen, dass es nicht reicht, sich zu bemühen. Die einzige Möglichkeit ist, dass man einen größeren Schatz hat, der einem mehr Befriedigung verschafft als die Häppchen der Macht. Nur wenn man eine größere Fülle erfährt und erlebt, kann man die Versuchung besiegen.“