FLÜCHTLINGE IM IRAK
„Wir sind glücklich, denn Gott ist bei uns, wohin wir auch gehen“. Eine Gruppe sizilianischer Jugendlicher hat via Skype mit Myriam, dem elfjährigen Flüchtlingsmädchen in Erbil, und seinen Eltern gesprochen.Und dabei sich selbst neu entdeckt. In dem anschließenden Brief erklärt ihre Lehrerin, wie es zu der Begegnung kam.
Während der gemeinsamen Ferien sprach eine Gruppe Schüler der Mittelstufe aus Sizilien über Skype mit Myriam, dem irakischen Mädchen aus Qaraqosh, das dem arabischen Fernsehsender Sat7 über seine Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung berichtet hatte. Das Video mit Myriam hat viele Menschen in der westlichen Welt sehr beeindruckt. Heute lebt sie mit ihren Eltern im Einkaufszentrum Ainkawadi von Erbil, das zum Flüchtlingslager geworden ist. Wir dokumentieren hier das Gespräch, das die Jugendlichen mit ihr geführt haben.
Alessandra: Bist du wirklich glücklich da, wo du bist?
Myriam: Wir sind glücklich, wo wir sind. Denn Gott ist bei uns, wohin wir auch gehen.
Toti: Was würdest du als erstes tun, wenn du nach Qaraqosh zurückkehren könntest?
Myriam: Das erste, was ich tun würde, wenn ich nach Qaraqosh zurückkönnte, wäre beten. Denn als wir flüchten mussten, hat Gott uns gerettet. Und auch jetzt hier schickt Er uns Menschen, die sich um uns kümmern. Sie bringen uns etwas zu essen und was wir sonst brauchen. Deshalb wäre das erste, was ich täte, Ihm im Gebet zu danken.
Prospero: Gibt es jemanden, der wichtig ist für dich, dem du folgst?
Myriam: Mein wichtigster Führer ist Jesus.
Giacomo Fiordi (Mitarbeiter von AVSI): Was bedeutet das im Leben, in deiner Beziehung zu den anderen?
Myriam: Nach Jesus sind meine wichtigsten Führer mein Papa und meine Mama, meine Familie. Danach kommt die Gemeinschaft der Kirche, die mir sehr hilft, mein Leben zu verstehen.
Martina: Hast du jemals etwas wirklich Schönes gesehen, das dir gefallen hat?
Myriam: Das Schönste für mich sind Jesus und Maria. Ich achte nicht so sehr auf etwas anderes, denn sie sind das größte Geschenk, das ich bekommen habe im Leben.
Marcello: Ich möchte dir danken. Denn das, was du in dem Interview gesagt hast, hat mir sehr geholfen. Welchen Traum hast du im Leben?
Myriam: Mein Traum wäre, Ärztin zu werden und für „Ärzte ohne Grenzen“ zu arbeiten und um die Welt zu reisen, um anderen zu helfen.
Marco: Habt ihr keine Angst, euch weiterhin als Christen zu bekennen?
Alis (Myriams Mutter): Ich persönlich habe keine Angst, denn ich glaube an Gott und vertraue mich Ihm völlig an. Aufgrund meines Glaubens habe ich keine Angst, weil ich weiß, dass Gott mich liebt. Aus Qaraqosh sind die Menschen in zwei verschiedenen Phasen geflohen. Wir sind nicht mit der ersten Gruppe gegangen, weil ich keine Angst hatte. Gott hat mir Frieden ins Herz gelegt, so dass ich dort bleiben konnte.
Waleed (Myriams Vater): Wir sind nachts mit der zweiten Gruppe geflohen, weil ich von Gott ein Zeichen erhalten hatte, das mir sagte, wir sollten weggehen. Tatsächlich ist in jener Nacht dort in der Nähe eine Bombe explodiert und zwei Mädchen sind gestorben. Meine Töchter haben das von weitem beobachtet und Angst bekommen. Nicht weil wir Christen sind, sondern weil sie Angst hatten zu sterben. Als ich sah, dass meine Töchter Angst hatten, wurde mir klar, dass dies das Zeichen war, das Gott mir schickte, um mir zu sagen, ich solle weggehen.
Suami: Wie hilft euch der Glaube an Gott, euer Leben zu meistern?
Waleed (Myriams Vater): Ich lebe im Wort Gottes. Wenn man im Wort Gottes lebt, bedeutet das, dass man alles hat, was man braucht. Um zu leben reicht nicht nur Brot, sondern man braucht auch das Wort Gottes. Man kann die schönsten Kleider besitzen, das schönste Haus der Welt, alles Geld der Welt. Aber wenn der Moment kommt zu sterben, stirbt man trotzdem. Zu sterben ohne das Wort Gottes, bedeutet nicht gelebt zu haben.
Alis (Myriams Mutter): Der Glaube an Gott gibt mir viel Frieden ins Herz. Der Friede im Herzen bringt die Weisheit im Kopf. Und wenn man die Weisheit im Kopf hat, die aus dem Herzen kommt, dann hilft einem das, sein Leben zu führen und das Leben seiner Lieben und aller, die mit einem auf dem richtigen Weg sind. Dann lebt man in Freude. Wir können nicht genau erklären, warum wir so in Freude leben können. Doch das geschieht, wenn man sich anvertraut: Dann wird einem der Friede im Herzen geschenkt.
Chiara C.: Wie stellt ihr euch eure Zukunft vor?
Alis (Myriams Mutter): Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die Tatsache, dass ich an Gott glaube, beruhigt mich in Bezug auf die Zukunft. Weil ich durch meinen Glauben weiß, dass Gott uns nicht allein lässt und niemals allein lassen wird. Also ist meine Zukunft, die meines Mannes, meiner Töchter nicht in meiner, sondern in Gottes Hand. Ich bin sicher, wenn ich mich Ihm anvertraue, dann – wie soll ich sagen – wird Er mir und meiner Familie in Zukunft die schönsten Dinge schenken.
Chiara V.: Wie schafft man es, jemandem zu verzeihen, der einem Schlimmes angetan hat?
Alis (Myriams Mutter): Wenn alles in meiner Hand läge, wäre ich nicht in der Lage zu verzeihen. Doch ich glaube, Jesus will den Menschen die Gnade schenken, dass sie lernen, sich gegenseitig zu verzeihen. Nur durch Gott können wir lernen zu verzeihen. Denn sich zu verzeihen ist eine Gnade, die wir von Ihm bekommen. Das ist nichts rein Menschliches. Anderen zu vergeben ist schwierig, aber nicht unmöglich. Besonders dann, wenn man anderen vergibt, erhält man großen Frieden. Und den Frieden zu spüren, erlaubt einem, in seinem Leben voranzuschreiten.
Waleed (Myriams Vater): Ich danke Gott für das, was mir passiert ist, und dafür, dass ich aus meinem Zuhause fliehen musste. Ich danke den Terroristen des IS für das, was sie mir angetan haben, und dass sie uns dazu gebracht haben, zu fliehen. Denn früher, als ich in Qaraqosh lebte, war ich zwar ein guter Christ. Aber ich hatte etwas in mir verschlossen, ich war ein bisschen blind. Jetzt dagegen hat mir die Tatsache, dass ich mich in diesen Umständen befinde, mit all den Flüchtlingen, die Augen geöffnet. Das hat mir geholfen zu entdecken, was es bedeutet, anderen zu helfen, die in Not sind.
Giacomo Fiordi: Das bewegt mich sehr, denn ihr seid selber in Not und habt trotzdem das Bedürfnis, anderen zu helfen. Das ist eine große Lehre für mich.
Maria Concetta: Seit gestern Abend, seit wir von der Möglichkeit erfahren haben, mit dir zu sprechen, Myriam, haben wir überlegt, was wir dir schenken könnten, um dir für das Geschenk zu danken, das du uns gemacht hast. Auch heute hast du in einfacher Weise auf die Frage geantwortet, die über unseren Ferien steht: „Was ist das Glück?“ Wir sind dir, deiner Mutter und deinem Vater sehr dankbar. Ihr habt uns Jesus wieder vor Augen gestellt als das, was Er ist: eine Gegenwart, die unser ganzes Leben umarmt und trägt. Euer Zeugnis führt uns ins Leben zurück. Die eigentlichen Flüchtlinge sind wir.
Waleed (Myriams Vater): Danke euch allen!
Alis (Myriams Mutter): Ich danke euch sehr und werde für euch beten. Ich bin beeindruckt, denn als wir noch in Qaraqosh waren, gab es nicht so viele Leute, die sich für uns interessierten. Und nun erleben wir diese große Freundschaft vieler Menschen. Für uns ist das ein weiteres Zeugnis dafür, wie sehr Gott uns liebt. Die Ewigkeit bedeutet, dieses Glück mit Gott zu leben, sei es im Paradies oder auf der Erde.
Der folgende Brief von Maria Concetta, einer Lehrerin aus Termini Imerese, berichtet, wie es zu dem Gespräch mit Myriam und ihren Eltern kam.
Gemeinsame Ferien für Jugendliche vorzubereiten, ist nicht nur anstrengend, sondern auch ein Wagnis. Man kann mit seinem Vorschlag auch völlig daneben liegen. Dieses Jahr hatten die Erwachsenen, die die Jugendlichen von CL betreuen, beschlossen, sie vor die Herausforderung zu stellen: „Glücklich oder nur vergnügt?“
Während der Vorbereitungen, ein paar Wochen vor den Ferien, durchlebte ich eine schwere Zeit: Mein Sohn musste seine Abschlussarbeit schreiben und sich für eine Hochschule für den Master entscheiden, meine Tochter stand vor dem Abitur, mir ging es gesundheitlich nicht gut und mein Mann war teilweise überfordert von all dem.
Beim Seminar der Gemeinschaft am 17. Juni sprach Julián Carrón am Ende kurz über die Kundgebung für die Familie am 20. Juni, über die in diesen Tagen viel diskutiert wurde. Dann empfahl er uns, das Video des Interviews mit Myriam, einem zehnjährigen Flüchtlingsmädchen aus Qaraqosh, anzuschauen.
Es war, als hätte er mir gesagt: Du kannst dir Gesten überlegen, die dir besonders interessant oder hilfreich erscheinen, damit die Jugendlichen entdecken, was das wahre Glück ist. Aber du solltest nicht vergessen, dass das deutlichste Zeichen, das Christus dir gibt, um dein christliches Selbstbewusstsein zu stärken, das Zeugnis der verfolgten Christen ist. Und dass du in deinem Selbstbewusstsein als Christ wächst, ist das einzige, was du den Menschen geben kannst, die du am meisten liebst.
Mit dieser Hypothese die Ferien für die Jugendlichen vorzubereiten, meiner Familie zu begegnen, die Mühen eines plötzlich aufgetretenen physischen Leidens zu ertragen, hat vieles verändert. Es war ein „subversives“ Ereignis, das dazu führte, dass ich aufhörte, alles selber in Ordnung bringen zu wollen. Denn es gab etwas, das interessanter war: Jemandem zu folgen, der mich dazu berief, in Seinem Haus zu wohnen.
Zusammengefasst habe ich entdeckt, dass angesichts der Dinge und Fakten meines Lebens und vor allem im Angesicht meiner Kinder, meines Mannes, meiner Schüler, die eigentliche Frage nicht war: „Wer bin ich für sie?“, sondern: „Wer sind sie für mich?“ Diese Entdeckung war mir wie eine Gnade geschenkt worden, und den Unterschied merkte ich daran, ob ich Kraft hatte oder nicht.
Im ersten Fall wird alles zu einem Kraftakt. Auch das Hirn muss sich anstrengen und man muss sich wer weiß was ausdenken. Vor allem aber wird man einsam. Im zweiten Fall hingegen ist es ein „Abenteuer“, das deutlich macht, dass mir etwas fehlt. Und dieser „Mangel“ stellt mich wieder vor Gott, der als einziger diese Lücke füllen kann. Auch wenn Er sich nur nach und nach zeigt, erzeugt Er in mir das schwindelerregende Gefühl eines ungeahnten Glücks. Das Glück besteht darin, dass sich diese Beziehung „ereignet“.
Zwei Tage, bevor wir losfuhren, schickte Giacomo Fiordi, ein Mitarbeiter von AVSI, mir per WhatsApp ein Foto von sich mit Myriam und einem weiteren Mädchen. Dazu schrieb er, dass er in Erbil sei. Ich antwortete ihm sofort und bat ihn, Myriam für ihr Zeugnis zu danken, falls er sie wieder sähe, und ihr zu erzählen, dass wir mit rund 100 Jugendlichen Ferien machen und das Video mit ihrem Interview anschauen würden.
Während wir auf dem Weg nach Kalabrien waren, sah ich, dass Giacomo mir geschrieben hatte. Er fragte mich, ob wir Lust hätten, mit Myriam und ihren Eltern eine Videokonferenz zu machen. Ich sagte sofort zu, obwohl ich wusste, dass es in dem Hotel keine stabile Internetverbindung gab, dass keiner von uns Erwachsenen sich mit diesen Dingen auskannte und dass die Tage eh schon randvoll waren mit guten Vorschlägen und schönen Gesten.
Dann kam der Moment der Schaltung über Skype und es war wie ein Wunder. Siebenundvierzig Minuten ununterbrochen Fragen von unseren Jugendlichen und Antworten von Myriam, Waleed (ihrem Vater) und Alis (ihrer Mutter). Die gesamten Ferien und alle Teilnehmer standen plötzlich unter dem Blick eines Anderen.
Am letzten Tag meldeten sich bei der Versammlung rund dreißig Jugendliche zu Wort. Das war noch nie vorgekommen. Aber es ist nicht so sehr die Zahl, die mich bewegt, sondern vor allem das, was sie sagten. Viele Beiträge waren wie eine Chronik dieser Tage; manche sprachen davon, dass sie ihr Menschsein neu entdeckt hätten, andere dass sie anfingen, die Gegenwart eines Du zu erahnen – und damit die eigentliche Bedeutung unserer Freundschaft.
Bei allen konnte man sehen, dass etwas Neues begonnen hatte. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie sprachen, machte deutlich, dass sie das Leben teilen wollen und auf eine Präsenz antworten, die sie ruft. Nicht nur auf einen Vorschlag unsererseits, der mehr oder weniger gut sein kann, mehr oder weniger interessant, mehr oder weniger intelligent. Fast alle sprachen von der Begegnung mit Myriam, als hätten sie sie persönlich getroffen.
Auch uns Erwachsenen ging es so. Myriam und ihre Eltern haben uns Jesus wieder vor Augen gestellt als das, was Er ist: eine Gegenwart, die uns umarmt und unser ganzes Leben trägt. Ihr Zeugnis brachte uns gewissermaßen ins Leben zurück. Die eigentlichen Flüchtlinge waren wir gewesen.
Der Herr des Lebens ist verschwenderisch mit Seinen Gaben, wenn jemand sich auf den Weg macht. Selbst wenn er wankt, während sie ihm anvertraut werden. Aber der wahre Schatz bleibt das Ereignis der Begegnung mit Ihm.
Meine Tochter hat ihr Abitur hinter sich, mein Sohn sitzt noch an seiner Arbeit. Gesundheitlich geht es mir noch immer nicht gut, und in ein paar Tagen gehe ich wieder mit Jugendlichen in eine Freizeit. Warum? Aus demselben Grund, aus dem ich zu Hause bleiben würde, wenn die Umstände es erforderten: um mich immer wieder neu auf die Suche zu machen nach Dem, der mich schon erwartet.