Barcelona, Sagrada Familia

Die Weihnacht der Gläubigen – menschliche Gesten, die das Herz bewegen

"Barmherzigkeit. Die Liebe erreicht uns durch unbekannte Gesichter, die uns mit ihrer Freude unser Leben und den Plan Gottes zurückgeben". Brief des Präsidenten der Fraternität von CL an den Corriere della Sera (23. Dezember 2015)
Julián Carrón

Lieber Herr Chefredakteur,

es passiert immer häufiger, dass sich Menschen über einfache menschliche Gesten freuen, die für uns praktisch keinen Wert mehr haben, so normal und alltäglich erscheinen sie uns. In einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge spricht ein ehrenamtlicher Helfer einen Pakistani mit seinem Namen an. Er fragt ihn, ob er die Pasta lieber mit Tomatensauce oder mit Butter, mit Fleisch oder Fisch möchte. Da kommen dem Mann plötzlich die Tränen, so gerührt ist er.

Ein junger Mann schickt einem Bulgaren, den er erst kurz zuvor kennengelernt hat, eine SMS: „Wie geht es dir?“ Der Mann wundert sich, dass ein Unbekannter sich für ihn interessiert. Ich könnte unendlich viele solcher Geschichten erzählen. Es mögen einfache Gesten wie diese sein, oder auch ganz außergewöhnliche. Denken wir zum Beispiel an die Deutschen und Österreicher, die sich aufgemacht haben, um an Bahnhöfen und Grenzorten die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Oder an die unzähligen Menschen, die an den Küsten Italiens täglich Migranten beistehen. Das scheint unbedeutend angesichts der riesigen Probleme, aber die Wirkung ist für die Betroffenen genauso enorm, wie sie uns, die wir es von außen betrachten, banal, unbedeutend und selbstverständlich scheint.

Kann etwas so Einfaches, das man tut, weil man gut erzogen ist, ein solches Staunen erklären? Um einen Flüchtling so zu betrachten und sich einem Fremden so zuzuwenden, braucht es etwas, das wir schon fast vergessen haben. Der Pakistani berichtet unter Tränen von den Jahren in einem anderen Erdteil, wo sein Arbeitgeber ihn nie beim Namen gerufen hat. Zu essen hatte er immer nur eine Schüssel Reis. Hier spricht ihn jemand mit seinem Namen an und fragt ihn sogar, was er lieber essen würde. Schon allzu lange ist uns nicht mehr bewusst, wo ein solcher Blick auf den Menschen seinen Ursprung hat. Deshalb sind für uns auch die Gesten, die daraus entspringen, nicht mehr normal. Daher brauchen wir andere, die uns durch ihr erstauntes Gesicht unsere Geschichte und was sie mit sich bringt wieder neu bewusst machen.

Was hat diesen Blick auf den anderen hervorgebracht, diese Wertschätzung, über die er sich so wundert? Es liegt sicher nicht daran, dass wir „besser“ wären. Wir stehen schlicht und einfach in einer Geschichte, die mit dem Volk Israel begann. Diese Geschichte hat uns geprägt und uns deutlich gemacht, wie sehr Gott uns liebt, völlig unabhängig von unseren Verdiensten. Der Prophet Jesaia sagt: „Freu dich, du Unfruchtbare, die nie gebar, du, die nie in Wehen lag, brich in Jubel aus und jauchze!“ Gott sagt uns trotz unserer Fehler immer wieder: „Die Schande in deiner Jugend wirst du vergessen, an die Schmach deiner Witwenschaft wirst du nicht mehr denken.“ Wer möchte nicht so angeschaut werden? „Einen Augenblick nur verbarg ich vor dir mein Gesicht in aufwallendem Zorn; aber mit ewiger Huld habe ich Erbarmen mit dir“ (Jes 54,1 ff.). Diese Liebe, diese Leidenschaft gilt deinem Leben, nicht der Menschheit im allgemeinen, sondern dir. Meinem Leben gelten diese Worte, wie uns Papst Franziskus erinnert: „Zu euch, zu dir, zu dir, zu mir. Eine tätige, echte Liebe. Eine Liebe, die heilt, vergibt, aufrichtet und pflegt.“ (10. Juli 2015)

Dass wir keine Angst zu haben brauchen, nicht von dem bestimmt sind, wessen wir uns schämen müssten, unserer Unfruchtbarkeit, wird uns nur wirklich klar, wenn wir uns bewusst machen: „Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen und die Hügel zu wanken beginnen – meine Huld wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht der Herr, der Erbarmen hat mit dir.“ (Jes 54,10)

Ist uns klar, dass hinter scheinbar so einfachen Gesten diese Geschichte der Liebe Gottes zu uns steht? Diese Liebe, die Israel erfuhr, als es aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurde, erlaubte ihm, Fremde auf eine Art anzuschauen, die damals nicht üblich war: „Auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Dtn 10,19). Diese Liebe erreichte ihren Hohepunkt, als das Wort Fleisch wurde und unter uns seinen Wohnsitz nahm. Und sie schafft im Leben der Kirche ein Subjekt, das auf den anderen mit einem tiefen Interesse für seine Bestimmung schaut. Ohne das Bewusstsein jenes Blickes voller Liebe für mich und für dich gäbe es kein Weihnachten! Es gäbe nur einen formalen Ritus, wie so viele Dinge, die wir ohne Begeisterung tun.

Weihnachten wäre nicht der neue Ursprung dieser großen Geschichte eines wahren Menschseins, an der wir teilhaben, sondern nur das teilnahmslose Wiederholen einer Tradition, die unser Herz nicht aufrütteln und jene menschlichen Gesten nicht hervorbringen könnte, über die sich andere so wundern. Deswegen sind wir dem Papst zutiefst dankbar, weil er verstanden hat, wie bedürftig wir sind. Das Jahr der Barmherzigkeit bedeutet, dass jener Blick sich heute wieder ereignet. Jene Liebe, die uns da erreicht, wo wir sind, und so, wie wir sind. Und zwar durch unbekannte Gesichter, die uns wieder zum Leben erwecken durch ihre Freude, wie Johannes der Täufer im Schoss Elisabeths. Sie laden uns ein, den Plan Gottes wieder zu erkennen – dieses „beinahe Nichts“, das der Plan Gottes zu sein scheint –, der uns seit 2.000 Jahren begegnet durch ein Gesicht: „Gott, das Geheimnis, die menschgewordene Bestimmung, wird jetzt gegenwärtig – für mich, für dich, für alle Menschen, die dazu berufen sind, ihn zu sehen, ihn zu erkennen, und zwar in einem Antlitz: einem neuen menschlichen Gesicht, dem man begegnet.“ (Don Giussani) Ein Gesicht, das uns mit entwaffnender Einfachheit fragt: „Wie heißt du? Wie geht es dir?“ Und uns zu Freudentränen rührt.

Zu erkennen, wie Gott uns ruft – durch ein Gesicht, das wir überhaupt nicht kennen –, ist die einzige Möglichkeit, um Seinen barmherzigen Plan mit uns nicht zu durchkreuzen und auch fürderhin Zeugen jenes Blickes zu sein, der sich auf uns richtet und uns frei macht, in welcher Situation auch immer wir uns befinden.

*Präsident der Fraternität
von Comunione e Liberazione