Traditionelle Rechte und grundlegende Werte

„Der Gesetzentwurf 'Cirinnà' wird im Parlament vorgestellt. Woher kommt die Härte der Auseinandersetzung darüber?“ . Der Brief von Julián Carrón an die Zetung Corriere della Sera (24. Januar 2016)
Julián Carrón

Lieber Herr Chefredakteur,

nach monatelangen Diskussionen über die eheähnlichen Gemeinschaften ist der Gesetzentwurf von Frau Cirinnà im Parlament gelandet und hat neue Demonstrationen ausgelöst, eine dafür und eine dagegen. Diejenigen, die die Vorlage unterstützen, fordern die Anerkennung neuer Rechte, diejenigen, die sie bekämpfen, wollen traditionelle Rechte verteidigen.

Wieso wird die Auseinandersetzung so heftig geführt? Ein Teil der öffentlichen Meinung fordert diese neuen Rechte als einen Fortschritt der Zivilisation; das andere Lager betrachtet sie als einen Angriff auf die Werte, auf denen das Abendland gründet. Dadurch entstehen soziale Spaltungen und politische Konflikte, die unlösbar scheinen. Warum soviel Faszination und gleichzeitig soviel Widerstand?

Fragen wir uns, worin die sogenannten „neuen Rechte“ ihren Ursprung haben. Jedes von ihnen hat letzten Endes mit zutiefst menschlichen Bedürfnissen zu tun: dem Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, dem Wunsch, Vater oder Mutter zu werden, der Angst vor Leid und Tod, der Suche nach der eigenen Identität. Deshalb üben sie eine solche Faszination aus und werden immer weiter ausgebaut, in der insgeheimen Hoffnung, dass das Rechtssystem das Drama des Lebens lösen und gewissermaßen „von Rechts wegen“ die unerschöpflichen Bedürfnisse jedes Herzens befriedigen könnte.

In diesem Kontext ist der Cirinnà-Entwurf entstanden. Er möchte auf den Wunsch zweier gleichgeschlechtlicher Menschen nach affektiver Erfüllung antworten, die sich aneinander binden und damit neue soziale Formen schaffen wollen und deren Anerkennung fordern. Bei allem Respekt für die juristische Debatte ist es mir wichtig zu betonen, dass es hier immer um den Menschen und seine Erfüllung geht. Hinter jedem menschlichen Bemühen steht immer ein Schrei nach Erfüllung. Doch kann dieses Bemühen, wie aufrichtig es auch sein mag, ihn befriedigen?

Die zeitgenössische Kultur, an der wir alle Anteil haben, hat nicht immer die tiefsten Wünsche des Ichs im Blick und die unendliche Tragweite der grundlegenden Bedürfnisse, die den Menschen ausmachen. Sie bietet oft nur teilweise und damit unangemessene Antworten. Aber lässt sich die Sehnsucht des Menschen tatsächlich so leicht unterdrücken? Cesare Pavese hat uns gelehrt: „Was der Mensch in der Lust sucht, ist ein Unendliches, und niemand würde jemals die Hoffnung aufgeben, diese Unendlichkeit zu erringen.“ Ein Tropfen wird niemals das Glas des Lebens füllen können. Ein Beispiel dafür ist das Zeugnis eines Homosexuellen, von dem ich kürzlich gehört habe. Er arbeitet in der Modebranche, liebt seinen Beruf und hat einen Lebensgefährten. Einem uns befreundeten Ehepaar, das er zufällig kennengelernt hat, gesteht er, dass er nicht glücklich sei, und meint: „Ich habe den Eindruck, als fehle mir etwas, als lebte ich nur reaktiv und müsse mich gegen irgendetwas verteidigen. Das macht mich unruhig.“

Unruhig, wie alle. Wir alle neigen ständig dazu, unsere Sehnsucht zu verkürzen auf ein Bild, das wir uns selber machen. So meinen wir, die Lösung im Griff zu haben. Aber der reale Mensch wird sich damit nie zufriedengeben. Der Preis dafür ist im Gegenteil sehr hoch: Wir werden hinter den Gittern unseres selbstgebauten Gefängnisses ersticken. Kann man diese Unzufriedenheit überwinden, indem man ein Gesetz verabschiedet? Viele glauben das. Das erklärt den verbissenen Kampf um dieses Gesetz. Aber auch diejenigen, die meinen, dieses Gesetz untergrabe die Fundamente der Gesellschaft, treten oft mit ähnlicher Verbissenheit auf. Dabei gelingt es ihnen nicht im Geringsten, die Haltung, die sie bekämpfen, zu ändern, ja sie verstärken sie sogar.

„Wer wird uns aus dieser tödlichen Lage befreien?“, fragte schon der heilige Paulus. Nur eine lebendige Begegnung, die die Menschlichkeit der Person wieder weckt und ihre ursprüngliche Sehnsucht wieder aufrichtet, wird sie von der Diktatur ihrer verkürzten Wünsche befreien können und den Wunsch nach einem anderen Leben hervorrufen. Nur eine solche Begegnung kann eine angemessene Antwort auf die Verkürzungen sein, die wir immer wieder erleben, und gleichzeitig die Freiheit des anderen achten. Wie die freundschaftliche Beziehung, die jenes Ehepaar mit dem homosexuellen Mann angeknüpft hatte und die ihn sagen ließ: „Ich wäre froh, wenn ich meine Arbeit und meine Beziehungen so leben könnte wie Sie und Ihre Frau. Sie sind normal und doch irgendwie anders. Es ist schön, sich mit Ihnen zu unterhalten.“ Dann fragte er: „Wie kommt es, dass Sie so leben?“

Das ist ein Beispiel für das, was Don Giussani uns immer in Erinnerung gerufen hat: „In einer solchen Gesellschaft kann man nichts Neues hervorbringen, außer durch das Leben. Es gibt keine Struktur oder Organisation oder Initiative, die das schafft. Nur ein andersartiges, neues Leben kann alle Strukturen, Initiativen, Beziehungen, also alles revolutionieren.“

Genau das Leben, das den Durst der samaritanischen Frau weckte, den ihre fünf Männer nicht hatten stillen können.

Ist das nicht genau das, was alle von uns Christen erwarten? „Was fehlt, ist nicht so sehr, dass man die Botschaft wörtlich oder kulturell wiederholt. Der Mensch von heute erwartet, vielleicht unbewusst, die Erfahrung der Begegnung mit Menschen zu machen, für die das Faktum Christi eine so gegenwärtige Wirklichkeit ist, dass sich ihr Leben verändert hat. Was den Menschen von heute aufrütteln kann, ist eine menschliche Begegnung: ein Ereignis, das Echo des anfänglichen Ereignisses ist, als Jesus hochschaute und sagte: ‚Zachäus, steig sofort herunter, ich komme in dein Haus.‘“ (Don Giussani) Hier wird uns die Methode vor Augen geführt, durch die sich das Christentum ereignet hat und immer wieder ereignet. Mit anderen Worten: Christus ist nicht schmückendes Beiwerk einer Lösung, die man woanders suchen müsste, sondern der Schlüssel zur Lösung. Nur Christus als im Leben des Einzelnen gegenwärtiges Ereignis kann den Menschen aus seiner Verkürzung befreien und ihn jene Fülle ersehnen und erfahren lassen, für die er geschaffen ist. „Ich wäre froh, wenn ich meine Arbeit und meine Beziehungen so leben könnte wie Sie und Ihre Frau.“ Ohne eine solche befreiende Erfahrung wird jede vermeintlich „konkrete“ Antwort immer zu kurz greifen. Jeder von uns erfährt das in seinem eigenen Leben.

Was ist also der eigentliche Beitrag, den jeder von uns Christen zur gegenwärtigen Debatte leisten kann, in Treue zur Tradition der Kirche und ihren Lehren, die nicht infrage gestellt werden sollen? „Wir wissen, dass die beste Antwort auf die Konfliktgeladenheit des Menschen, wie Thomas Hobbes sie in seinem berühmtem Wort ‚homo homini lupus‘ zum Ausdruck bringt, das ‚Ecce homo‘ Jesu ist, der nicht anklagt, sondern annimmt und erlöst, indem er persönlich bezahlt.“ Von dieser Gewissheit von Papst Franziskus können wir ausgehen in der Beziehung mit jedem Menschen, „um zusammen mit den anderen die Zivilgesellschaft aufzubauen“ (Florenz, 10. November 2015) und soweit wie möglich unseren Beitrag zu leisten, um die Dinge zu verbessern, zum Wohle aller.