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DER ISLAM UND WIR

„Okay, dann kommt mal zum Tee ...“ Aus einem Streit zwischen Jungs entsteht eine Freundschaft. Und das Haus von Cristina und Sergio bekommt „Migrationshintergrund“.
Luca Fiore

„Von den Attentaten in Paris habe ich spät nachts gehört. Am nächsten Tag schickte ich meinen Freundinnen folgende Nachricht: ‚Als ich heute von einer Klasse in die andere ging, hatte ich den sehnlichen Wunsch im Herzen, dass ich mich bekehre – eher noch als die Terroristen. Denn die Antwort auf diese Attentate ist schlicht, dass wir das Christentum leben und immer mehr die Seinen werden.‘“

Dies ist die Geschichte von Cristina und Sergio und ein paar muslimischen Jungs, die bei ihnen genau diesen sehnlichen Wunsch erkannt haben.

Calcinate ist ein kleiner Punkt auf der Landkarte, ein Ort mit 6.000 Einwohnern in der Provinz Bergamo. Ein ganz normales Städtchen mit ordentlichen kleinen Häusern und Menschen, die hart arbeiten.

Cristina arbeitet als Lehrerin in einer Mittelschule. Am Tag nach den Attentaten feiert sie zu Hause den Kindergeburtstag ihres Sohnes Filippo. Er hat zehn Freunde eingeladen. Bis die Pizza kommt, gehen sie in den Hof hinunter und lassen Knallfrösche los. Der Lärm lockt vier marokkanische Jungs an, die gerade an einem Obststand in der Nähe ein paar Kiwis aufgehoben haben. Die benutzen sie jetzt als Wurfgeschosse gegen Filippo und seine Freunde. Die wiederum revanchieren sich mit Schimpfworten. Auch „Sch...-Muslim“ ist dabei.

„Mein Sohn kam herauf und berichtete mir davon“, erzählt Cristina. „Ich war stinksauer und rannte hinunter, um die Marokkaner zu suchen. ‚Die finde ich und mache sie zur Schnecke‘, dachte ich. Ich wollte sie zu ihren Eltern bringen und dann zuschauen, wie sie die verdiente Tracht Prügel bekamen. So hatte ich es mir vorgestellt. Aber vorher noch sollten sie das aufputzen, was sie dreckig gemacht hatten.“



Superschön? Inzwischen ist Sergio, ihr Ehemann, auf der Szene erschienen. Er bleibt ganz ruhig und Cristina wundert sich: „Sonst regt er sich über jede Kleinigkeit auf und jetzt spielt er den Großmütigen?“ Sie beschließt, nichts zu sagen und abzuwarten, was passiert. Sie ist sich sicher, dass diesmal Sergio falsch liegt. Er sollte nicht so konziliant sein gegenüber den kleinen Marokkanern, die sich jetzt gegenseitig die Schuld zuschieben. Aber als sie in sein Gesicht schaut, bemerkt sie darin eine ungewöhnliche Zärtlichkeit und denkt: „Cri, okay, sie haben Kiwis geworfen, und in ein paar Jahren werfen sie vielleicht etwas anderes. Aber hast du ihnen etwas Besseres zu bieten? Oder meinst du, dass eine saftige Strafe es tut?“ Da gibt auch sie nach und lässt sich von dieser Intuition leiten. Und als sie feststellt, dass einer der Jungs auf ihre Schule geht, sagt sie: „Jungs, wenn ihr Langeweile hattet, hättet ihr mich fragen können, ob ihr mitmachen könnt, statt uns als Zielscheibe zu benutzen. Ihr hättet sogar mit uns Pizza essen können. Also, nächste Woche seid ihr eingeladen!“ Die Lage beruhigt sich und die Jungs bitten gegenseitig um Entschuldigung. Die Marokkaner, dass sie Streit angefangen haben, und die Einheimischen, dass sie sie beleidigt haben. Wie am Schluss eines Rugby-Spiels gibt jeder jedem die Hand. Damit scheint alles erledigt zu sein. Dabei ist es erst der Anfang.

Nach zehn Minuten kommen die vier Marokkaner wieder und klingeln. Über die Sprechanlage fragen sie: „Frau Lehrerin, wann sollen wir kommen wegen der Pizza?“ Cristina lacht und sagt ihnen, sie sollen hochkommen. Es gäbe genug Pizza für alle. Der Kindergeburtstag geht weiter mit den Jungs von der „Kiwi-Intifada“. „Es wurde ein sehr schöner Abend. Filippo meint, es sei der schönste Kindergeburtstag seines Lebens gewesen.“ Am nächsten Tag kommen zwei der Marokkaner wieder zu Cristina: „Sie haben uns doch gesagt, wenn wir Langeweile hätten, sollten wir zu Ihnen kommen ...“ Daraus wird wieder ein schöner Nachmittag, an dem sie mit Sergio, Filippo und den anderen drei Kindern der Familie spielen.

Montagmorgen. Cristina geht durch die Gänge ihrer Schule. Da kommen zwei andere muslimische Schüler auf sie zu und fragen, wann sie auch für sie eine Party schmeißt. Nachmittags kommen sie bei ihr zu Hause vorbei, um Hallo zu sagen. Auch Nabil, ein weiterer ihrer Schüler, ist dabei. Am nächsten Tag muss Cristina lange arbeiten. Als sie nach Hause kommt, spielt Sergio Tischtennis mit den Marokkanern. Am Mittwochnachmittag kommen sie wieder. Aber diesmal schickt Cristina sie nach Hause, ihre Schultaschen holen. „Ihr könnt nur wiederkommen, wenn ihr hier lernen wollt.“ Und was machen die Jungs? Sie holen ihre Schultaschen und machen bei Cristina ihre Hausaufgaben: Mathe, Englisch, sogar Dante. Als sie damit fertig sind, serviert Cristina ihnen Tee und Kekse. Am nächsten Tag kommt in der Schule einer der Marokkaner zu ihr und sagt: „Das war superschön, gestern!“ Hausaufgaben? Superschön?

Nabil ist sehr aufgeweckt und ein guter Beobachter. Er hat keine Hemmungen, Fragen zu stellen oder in Fettnäpfchen zu treten. Er fragt Cristina, warum ihre Wohnung so unordentlich sei. Sie überlegt kurz und antwortet dann: „Gerade gestern habe ich mit meinem Mann darüber gesprochen. Ich habe ihn um Entschuldigung gebeten, weil die Wohnung so oft seiner nicht würdig ist. Aber dann sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass eine ordentliche und saubere Wohnung, in der nichts los ist, doch traurig wäre. Lieber ein bisschen Chaos und dass ihr hier seid.“ Nabils Reaktion: „Aber Frau Lehrerin, ich helfe Ihnen gerne.“ Und damit fängt er an, die Teetassen zu spülen.

Gentlemen. Einen Monat nach den Attentaten von Paris ist die Wohnung von Cristina ein einziges Kommen und Gehen von Jungs mit „Migrationshintergrund“. Insgesamt rund ein Dutzend, aber die treuesten sind Hassan, Nabil, Dodò und Khalid. Hausaufgaben, Tee und Kekse, Spielen. Und dann spülen sie mit größtem Elan die Tassen. Der Nikolaus musste schon neue bringen, weil so viele kaputtgegangen waren. Jetzt hat jeder seine eigene. „Damit sie wissen, dass sie hier zu Hause sind“, erklärt Cristina.

Said, einer der Jungs, gilt in der Schule als hoffnungsloser Fall. Auch Cristina tut sich schwer mit ihm. Das gibt sie ganz offen zu. Aber trotzdem ... Nachdem er einer Putzfrau in der Schule Schimpfworte nachgerufen hat, können die Freunde ihn schließlich doch überzeugen, sich bei ihr zu entschuldigen, indem er vor versammelter Mannschaft ein Sonett von Dante, ein Loblied auf die Frau, vorträgt. Eine Szene wie aus einem Film. Ihm ist klar, dass er dafür ewig auf den Arm genommen wird. Aber er macht es trotzdem. Der Direktor der Schule traut seinen Augen nicht. „Ich fasse es nicht. Die sind von Vandalen zu Gentlemen geworden“, meint er mit Anspielung auf den „Five o’clock tea“ bei Cristina.

Auf einen Kaffee. Aber Calcinate ist keine heile Welt. In der Schule gibt es oft Spannungen und Konflikte. Einige der muslimischen Eltern haben früher schon Sympathie für die Terroristen gezeigt. Und nicht alle der italienischen Einwohner sind große Anhänger des Dialogs. Aber trotzdem ... Als die Tochter einer Religionslehrerin bei einem Verkehrsunfall stirbt, kommen auch die muslimischen Schüler zur Seelenmesse. Sie wollen der Mutter ihr Beileid ausdrücken, die sie nicht aus dem Unterricht, sondern nur vom Sehen kennen, aber die irgendwie ihre Sympathie errungen hat. Auch Cristina geht mit ihren marokkanischen Jungs hin, die teilweise noch nie in ihrem Leben in einer Kirche waren. „Sie waren erstaunlich brav, wo sie doch in der Schule oft keinerlei Respekt zeigen.“

In diesem „erstaunlich brav“ liegt ein liebevoller Unterton, der berücksichtigt, dass hier vieles noch am Anfang steht. Und dass diese Jungs auch immer noch „Vandalen“ sind. Der Vater von Noureddine, einem der Marokkaner, weiß das genau. Er kommt zu Cristina und sagt, er wolle nicht mehr, dass sein Sohn zu ihr gehe. Wieso? „Weil da auch der sowieso ist. Und ich will nicht, dass mein Sohn sich mit dem trifft. Das ist schlechter Umgang für ihn.“ Der Man hat nicht ganz Unrecht. Der Junge hat schlechte Noten und hatte schon ein paar Tage Schulverbot. Auch für Cristina ist dieser Junge ein Problem. Doch sie entgegnet dem Vater: „Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen. Aber wenn wir nicht mehr daran glauben, dass er sich ändern kann, wer dann? Wenn ihm niemand mehr mit Achtung begegnet, wie kann er sich dann selber lieben? Kommen Sie doch mal zu mir und schauen sich an, was wir so machen. Das wäre wichtig, damit die Jungs sehen, dass auch Sie und ich uns verstehen.“

Der Mann kommt tatsächlich zu Cristina, am Samstag vor Weihnachten. Er kommt herein, setzt sich hin und schaut einfach zu: wie die Jungs ihre Hausaufgaben machen, Cristina etwas fragen, ihr helfen, Kaffee zu kochen. Die beiden Erwachsenen unterhalten sich derweil und lernen sich ein bisschen besser kennen. Das reicht schon, damit dem Mann einiges klar wird. „Beim Abschied hat er mich umarmt, richtig feste, und mit Tränen in den Augen gesagt: ‚Danke für alles, was Sie tun. Und vielleicht können wir uns öfter mal auf einen Kaffee treffen.‘“