Das andere Gesicht der Türkei
Sein Vorgänger wurde vor fünf Jahren ermordet. „Aber es gibt hier nur sehr wenige Extremisten“, sagt Paolo Bizzetti, der neue Apostolische Vikar von Anatolien. „Dafür viele Jugendliche, die mehr über das Christentum erfahren wollen ...“ Was es heißt, in einem islamisch geprägten Land das Christentum zu bezeugen.
„Die Katholiken hier haben ein Recht auf einen Hirten. Hier liegen die Wurzeln des Christentums.“ Paolo Bizzetti, der neue Apostolische Vikar von Anatolien, sagt das mit unerschütterlicher Gewissheit. Er ist 77 Jahre alt, stammt aus Florenz und trat vor 50 Jahren in den Jesuitenorden ein. Seine Leidenschaft gilt der Bibel und dem Nahen Osten. Ende 2015 trat er die Nachfolge von Bischof Luigi Padovese an, der 2010 das Martyrium erlitt. (Er wurde von seinem Chauffeur erschossen.) „Ich komme zu euch mit dem aufrichtigen Wunsch, euch zu dienen und aus eurem mutigen Leben als Christen in oft schwierigen Situationen zu lernen“, erklärte Bizzetti unmittelbar nach seiner Ernennung durch Papst Franziskus. Bevor er diese verantwortungsvolle Aufgabe übernahm, leitete er ein Studienzentrum der Jesuiten in Padua. Aber schon früh hatte er sich viel mit dem Nahen Osten beschäftigt und zahlreiche Pilgergruppen ins Heilige Land und die Türkei begleitet. 1993 gründete er den Verein „Amici del Medio Oriente“ („Freunde des Nahen Ostens“). Auch einen christlichen Reiseführer zur Türkei hat er herausgegeben, dem Land, über das in der Apostelgeschichte so viel berichtet wird. „Heute haben die Kirchen hier alle ihre eigene Geschichte, und die Christen haben gelernt, als kleine Minderheit zu leben“, sagt er. „Man muss sie so gut wie möglich unterstützen und auch versuchen, die östlichen und westlichen Kirchen einander anzunähern.“
Exzellenz, Sie wurden zum Apostolischen Vikar einer Region ernannt, in der die Christen nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Eine ziemliche Herausforderung ...
Ich bin an einem Ort Bischof geworden, an dem das religiöse Spektrum extrem vielfältig ist. Die meisten hier sind irgendwie religiös und Menschen guten Willens. Es gibt natürlich auch einen kleinen extremistischen Rand. Aber die Realität ist sehr vielschichtig und viele praktizieren ihren Glauben nicht.
Ist das ein Vorteil?
Eines habe ich sofort festgestellt: Die jungen Leute interessieren sich sehr für das Christentum und wollen es besser kennenlernen, auch über das Internet. Daher haben alle christlichen Kirchen gemeinsam ein kleines Büchlein von etwa 100 Seiten erarbeitet, in dem wir unseren Glauben vorstellen. Es ist vor ein paar Wochen erschienen und wird von allen Konfessionen genutzt. Das ist in ökumenischer Hinsicht natürlich sehr interessant. In welchem anderen Teil der Welt wäre so etwas möglich? Im Übrigen war es das türkische Religionsministerium, das ausdrücklich um ein solches Instrument gebeten hat.
Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?
Das bedeutet, dass es eine verbreitete Neugier gibt. Einerseits besteht die Versuchung, in extremistische Richtungen abzudriften, andererseits habe ich hier viel Offenheit erlebt. Viele sind gut ausgebildet und hatten auch Gelegenheit, die westlichen Werte kennenzulernen. Daher wollen sie nicht auf den laizistischen Staat verzichten, auch wenn sie darunter nicht das gleiche verstehen wie wir – nämlich dass Religion in den Privatbereich verbannt wird.
Hilft das, den Islamismus einzudämmen?
Es gibt wirklich nur wenige Leute, die eine unversöhnliche Haltung einnehmen. Diese kleine Minderheit erhält aber extreme öffentliche Aufmerksamkeit, was den Terroristen in die Hände spielt. Sie wollen als bedeutender Gegner wahrgenommen werden. In diesem Sinne sind unsere Medien leider ihre Verbündeten. Und dann müssen wir auch mit dem Eingreifen in Syrien sehr vorsichtig sein. Um es klar zu sagen: Der Kampf gegen den Islamischen Staat wurde bis heute nur formal geführt; in Wirklichkeit hat man den IS sogar direkt oder indirekt unterstützt.
Welches Zeugnis können die Christen in diesem Kontext geben?
Die anatolischen Christen helfen vor allem ihren Brüdern und Schwestern, die aus Syrien und dem Irak geflohen sind. Unsere Einrichtungen sind voller Menschen, die großzügig aufgenommen werden. Und in den Städten und Dörfern, in denen es eine nennenswerte Anzahl von Christen gibt, tragen diese zum Gleichgewicht in der Gesellschaft bei.
Warum werden sie dann verfolgt?
Weil ihre Präsenz – oft unbewusst – mit dem Verhalten jener westlichen Nationen in Zusammenhang gebracht wird, die sich bis gestern noch als christlich bezeichneten und heute die ganze Region in Schutt und Asche legen. Papst Franziskus hat völlig Recht mit seiner Aussage, dass auch auf unserer Seite enorme Interessen im Spiel sind. Deswegen werden diese Krisen in gewisser Weise sogar am Brodeln gehalten. Was ist daran christlich?
Und was bedeutet das christliche Zeugnis in einem Land wie der Türkei?
Es bedeutet, dass man Respekt vor dem anderen und seiner Andersartigkeit hat, sogar wenn es einen das Leben kosten kann. Das ist das Evangelium. Es stimmt, was der Papst zu Beginn des Heiligen Jahres gesagt hat: Heute geht es um das Besondere des Christentums, nämlich die ungeschuldete Liebe und das Verzeihen. Das ist das Zeugnis, zu dem wir Christen an diesen Orten berufen sind und das uns von anderen Religionen einschließlich des Islam unterscheidet.
Die Angst baut aber oft Barrieren auf, statt Begegnungen zu ermöglichen.
Mauern zu errichten ist immer leicht, aber das löst die Probleme nicht, sondern verschlimmert sie oft. Es muss uns klar sein: der Friede und das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen sind nicht das Privileg der besonders Guten und Braven, sondern die einzige nachhaltige Lösung. Kurzfristig kann man sich vormachen, mit Gewalt und dem Errichten von Mauern könne man ein Problem lösen. Aber langfristig setzen wir damit Prozesse in Gang, die irgendwann auf uns zurückfallen. Paolo Dall'Oglio [ein Jesuit, der in Syrien vermutlich vom IS entführt wurde] hat vor ein paar Jahren einmal gesagt: „Wenn ihr nicht die Bewegung des Arabischen Frühlings unterstützt, eine echte Volksbewegung, in der Christen und Muslime Seite an Seite stehen, dann werden andere Kräfte auftauchen, die über kurz oder lang auch Europa angreifen werden.“ Leider waren diese Worte in tragischer Weise prophetisch. Wie auch die von Papst Johannes Paul II., der die Golfkriege als Eigentor für den Westen bezeichnete. Auch das hat sich leider bestätigt.
Die Christen fliehen aus dem Nahen Osten. Wenn man bedenkt, was dort geschieht, kann man es ihnen nicht verübeln ...
Die Berufung der Christen im Nahen Osten ist heroisch – schwierig, aber für die Gesamtkirche unabdingbar. Es ist das Zeugnis einer Minderheit, die – wie in den Anfängen der Christenheit – auch in einem schwierigen Umfeld die spezifischen Werte des Christentums bezeugen kann. Und das Christentum ist immer auf dem Blut der Märtyrer gewachsen, nicht auf den Büchern der Theologen.
Vor Kurzem hat das Heilige Jahr begonnen. Welchen Wert hat für Sie die Barmherzigkeit? Und was bedeutet sie für das Land, in dem Sie jetzt als Hirte wirken?
Barmherzigkeit gibt es für jemanden, der sich als Sünder erkennt. In Anbetracht der Tatsache, dass niemand auf der Welt ohne Sünde ist, müssen wir erkennen, dass es keinen Sinn hat, Steine auf andere zu werfen. Für die Menschen meiner Diözese ist meiner Ansicht nach der erste Schritt, dass wir uns selbst in gewisser Weise als mitverantwortlich für das Böse begreifen, das es auch in dieser Region gibt. Und dann müssen wir um die Barmherzigkeit des Herrn flehen. Das ist die beste, wenn nicht die einzige Art, um die Feuer des Krieges, des Hasses und des Extremismus zu löschen.