Eine ursprüngliche Präsenz

Mitschrift des Beitrags von Julián Carrón
bei der Versammlung der Verantwortlichen von Comunione e Liberazione in Italien
Pacengo di Lazise (Verona), 27. Februar 2016
Julián Carrón

Es ist für alle offensichtlich, dass wir eine Zeit tiefgreifender Veränderungen erleben. Es ist nicht leicht, sich im aktuellen kulturellen Umfeld zu orientieren. Wir stehen vor einer großen Wende, die zu begreifen Geduld und Zeit erfordert. Wir sollten dabei nicht meinen, man könne die Probleme allein durch Diskussionen lösen kann. Die folgenden Seiten wollen ein Beitrag für den persönlichen Weg und eine Grundlage für den Dialog unter uns sein.

Vor zwei Wochen, bei einer Versammlung mit Priestern aus Norditalien, sagte einer von ihnen, der historische Augenblick, den wir zur Zeit erleben, sei „wirklich begeisternd“. Ich denke genauso. Denn alles, was das Geheimnis uns nicht erspart, ist dazu da, dass wir reif werden. Auch wenn wir noch nicht wissen, wie das zu unserer Reife beitragen kann, und ein bisschen irritiert sind, sind wir doch gewiss, dass diese Umstände eine kostbare Gelegenheit darstellen. Ich meine die Debatte über die ethischen und anthropologischen Herausforderungen, die die „neuen“ Rechte mit sich bringen, alle damit verbundenen Fragen und die manchmal heißen Diskussionen, die wir hatten. Nur wenn die Wirklichkeit uns herausfordert, taucht vor unseren Augen – zuerst bei uns selbst und dann auch bei den anderen –, das auf, was uns das Liebste ist und worauf wir unsere Hoffnung setzen. Je mehr wir herausgefordert werden, desto deutlicher zeigt sich der Ausgangspunkt, von dem aus wir unser Leben angehen.

Diese Umstände sind zwar dazu da, dass wir reifer werden, aber das geschieht nicht automatisch. Daher sollten wir uns bemühen, sie zu verstehen, und diese Herausforderung annehmen. Da sie uns alle betreffen, möge jeder selber sehen, welche Haltung er dazu eingenommen, wie er darauf reagiert hat – wir haben alle irgendwie darauf reagiert –, von welcher Hypothese er ausgegangen ist und wie er die Sache geprüft hat. Jeder von uns muss das prüfen. Wenn uns irgendwelche Ideen dazu kommen, sind die noch nicht zwangläufig richtig. Ich nehme mich dabei gar nicht aus. Oft hatten wir Vorstellungen, die sich im Leben dann nicht so bewährt haben, wie wir dachten. Deswegen sollten wir uns Zeit lassen für einen Dialog, der dann wirklich konstruktiv ist.

Die Lehre aus den 68-ern:
Der Zusammenhang zwischen Ereignis und Tradition


Über welchen Reichtum, welche Ressourcen verfügen wir, um die gegenwärtige Herausforderung anzugehen? Unsere Geschichte. Oft meinen wir, wir kennen sie schon gut genug. Jeder erinnert sich an einige Momente. Aber gerade die Herausforderungen der Gegenwart lassen uns einige Aspekte dieser Geschichte entdecken, die wir vielleicht noch kennenlernen müssen.

Warum hat Don Giussani die Bewegung ins Leben gerufen? In der Diözese Mailand fehlte es gewiss nicht an theologischer Klarheit und der Vermittlung des Dogmas. Aber ihm wurde bewusst, dass das nicht reichte. Das merkte er schon anfangs in Mailand und dann später, als er seine Lehrtätigkeit am Berchet-Gymnasium begann. Er hatte Schüler aus christlichen Familien vor sich, die kein Interesse mehr am Glauben hatten. Diese Erkenntnis führte dazu, dass er etwas unternahm. Don Giussani rief die Bewegung ins Leben, um auf diesen Tatbestand zu antworten. Er suchte nach einer Weise, die christliche Wahrheit, wie er sie im Priesterseminar gelernt hatte, zu vermitteln, die das Desinteresse überwinden konnte, das ihm schon vom ersten Schultag an entgegenschlug. Das war Mitte der 50-er Jahre.

Dann gab es einen Moment im Laufe der weiteren Geschichte, nämlich das Jahr 1968, der für Don Giussani von entscheidender Bedeutung war. Im Sommer 1968 sagte er bei den Exerzitien der Memores Domini: „Mir scheint ein Zeichen der Zeit die Tatsache zu sein, dass weder das Reden über die Tradition noch über die [christliche] Geschichte einen Aufruf darstellen und Zustimmung zum christlichen Faktum bewirken können. […] Wir sollten den ganzen Diskurs von Grund auf revidieren, auf den wir uns während der vergangenen zehn Jahre konzentriert haben und den wir immer noch wiederholen.“ Ich glaube, wir haben noch nicht verstanden, worin die Herausforderung dieser Feststellung eigentlich besteht. Durch den Umbruch der 68-er wurde Don Giussani klar und deutlich, dass „weder die Tradition, noch eine Theorie, eine Weltanschauung oder ein Theoretisieren ein hinlänglicher Grund sind, dem Christentum zu folgen, weder die christliche Philosophie, noch die christliche Theologie, noch die christliche Weltanschauung“. Und mit Verweis auf die Evangelien fährt er fort: Die Menschen folgten Christus „nicht wegen der Diskussionen oder der Erklärungen, die er abgab, nicht weil er sich auf das Alte Testament berief, sondern weil er eine Präsenz war, die eine Botschaft enthielt“. „Die Botschaft ist kein Diskurs. Sie ist eine Präsenz, sie ist eine Person. Sie ist die Gegenwart einer Person.“ Und damit es noch deutlicher wurde, fügte er hinzu: „Man kann leicht erkennen, dass die christliche Botschaft die Tradition aufnimmt […]. Denkt nur an die Emmaus-Jünger, eine der schönsten Seiten des Evangeliums: ‚Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als dieser sonderbare Pilger uns die Propheten erklärte‘. Die christliche Botschaft ist also schon ‚ein Diskurs‘, aber ‚durch eine Präsenz hindurch, durch die Präsenz einer Person‘. Der Inhalt der christlichen Botschaft ‚war seine Person selbst‘, Christus“ (vgl. A. Savorana, Vita di Don Giussani, Mailand 2014, S. 404 f.). Wenn das nicht so wäre, wäre wahrscheinlich niemand von uns hier.

Was also ist dann das Christentum? „Es ist das, was die Tradition, das Vergangene zu einer lebendigen Wirklichkeit macht, das, was den Gedanken, die Idee, den Wert lebendig macht. Aber wenn etwas lebendig ist, ist es eine Gegenwart! Methodologisch können wir [demnach] nichts anderes tun, wenn wir uns nicht verirren wollen, als zum Ursprung zurückzukehren, zu dem, wie alles angefangen hat, wie es entstanden ist. Es war ein Ereignis. Das Christentum ist ein Ereignis, das die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenbindet. Und was für ein Ereignis ist es? Sie glaubten nicht deswegen, weil Christus bestimmte Dinge sagte, nicht, weil er Wunder vollbrachte, nicht, weil er die Propheten zitierte, nicht, weil er Tote auferweckte. Wie viele Leute (die allermeisten) hörten ihn so sprechen, lauschten seinen Worten, sahen seine Wunder, und trotzdem geschah für sie das Ereignis nicht.“ An diesem Punkt fragt Don Giussani sich, warum die ersten Jünger Jesu dann geglaubt haben: „Sie glaubten aufgrund einer Präsenz. […] Eine Präsenz, die ein bestimmtes Gesicht hatte, eine Präsenz, die Worte sprach, also einen Vorschlag machte, Sinn vermittelte. Nicht jeder Mensch oder Wirklichkeit ist eine solche Präsenz“, so fährt Don Giussani fort. „Er ist es nur, insofern er etwas Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares in sich trägt, das heißt, etwas völlig Neues darstellt […]. In der Tat ist das Christentum als Verkündigung entstanden: die Erfahrung einer unverkürzbaren Neuheit“ (vgl. ebd., S. 407 f.).

Versuchen wir, uns in Don Giussani hineinzuversetzen: Er hätte auch so tun können, als sei in den 68-ern nichts passiert, und seinen Weg ungerührt fortsetzen. Aber das hat er nicht getan. Warum? Weil für ihn die „Umstände“, wie wir immer sagen, „wesentlicher Bestandteil der Berufung“ sind. Der Umstand, unter dem jemand Stellung bezieht vor der Welt, „ist wichtig für das Zeugnis selbst“ (vgl. L. Giussani, L’uomo e il suo destino, Marietti, Genua 1999, S. 63). Er hat den Aufruf zur Bekehrung angenommen, den die Wirklichkeit an ihn richtete, und er war bereit, sich in Frage stellen zu lassen, ohne an den bisherigen Formen zu kleben. So wie er es von Anfang an getan hatte. Eben um das Neue am Christentum zu verkünden, beharrte er auf gewissen Dingen, die ungewöhnlich waren für die Art, wie der Glaube bis dahin in der Mailänder Kirche vermittelt worden war. Zum Beispiel die Betonung der Erfahrung und der Notwendigkeit einer persönlichen Verifizierung, oder dass Jungen und Mädchen zusammen an den Versammlungen teilnahmen. Je mehr er am Wesentlichen hing, umso freier wurde er gegenüber der Form. So hat er das bezeugt, was uns auch Papst Franziskus bei der Audienz am 7. März 2015 gesagt hat. „Das Christentum“, so schreibt Giussani, „war in der Geschichte nie nur festgelegte Positionen, die es zu verteidigen galt und die sich dem Neuen als reine Antithese entgegenstellen; das Christentum ist erlösendes Prinzip, das das Neue aufnimmt und es erlöst“ (vgl. L. Giussani, Porta la speranza, Marietti 1820, Genua 1997, S. 119).

Deswegen messe ich den Umständen, unter denen wir leben, eine entscheidende Bedeutung bei. Alles, was passiert, ist von entscheidender Bedeutung für die Gestalt unseres Zeugnisses. Die ganze Aufregung um das Thema der eingetragenen Partnerschaften ist entstanden, weil einige definieren wollten, worin unser Zeugnis in der heutigen Zeit besteht. Darüber diskutiert man, bis es zum Streit kommt. Wir kommen daher nicht weiter, wenn wir uns über diesen Punkt nicht grundsätzlich Klarheit verschaffen.

Das Erste, was man meiner Meinung nach klären müsste, ist, was ein Urteil ist. Für uns bedeutet etwas zu beurteilen oft Partei zu ergreifen. Aber das Evangelium zeigt, dass die Art, wie Jesus urteilt, meist nicht bedeutet, dass er Partei ergreift. Denken wir an die Frage nach der Steuer. Die Leute verlangen, dass er für die eine oder andere Seite Partei ergreift, um ihm eine Falle zu stellen. Doch Jesu Urteil kann die nicht zufriedenstellen, die erwarten, dass er sich auf die eine oder andere Seite stellt: Entweder bist du für die Römer, wenn du sagst, man solle dem Kaiser Steuern zahlen. Oder du bist gegen die Römer, wenn du meinst, man solle die Steuer nicht bezahlen. Jesus aber ergreift nicht Partei. Er sagt: „Dann gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Lk 20,25) In dieser Episode gibt Jesus ein Urteil über das Verhältnis zwischen Politik und Religion ab, und seine Antwort wird 20 Jahrhunderte lang zur Grundlage für ein völlig neues Verständnis der Macht in der Gesellschaft. Er verblüfft seine Gesprächspartner auch, wenn es um andere grundsätzliche Dimensionen der allgemeinen Erfahrung geht. Wenn er zum Beispiel über die Ehe spricht, also über die Umsetzung von Gefühlen, oder über den Reichtum, und wenn er zur richtigen Verwendung der materiellen Güter mahnt: In all diesen Fällen verblüfft er nicht nur seine Gegner. Auch seine Jünger sind überrascht von seinen ungewöhnlichen Ratschlägen und merken an: „Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten.“ (Mt 19,10) Und als Jesus sagte: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“, da „erschraken sie sehr und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden?“ (Mt 19,24-25) Niemand kann leugnen, dass Jesus ein Urteil abgibt, auch wenn dieses den Erwartungen seiner Gesprächspartner nicht entspricht. Das zeigt ihre Verblüffung. Um dem Eindruck der Menschen, seine Ratschläge seien unangemessen, zu begegnen, muss Jesus eine Karte spielen, die deutlich macht, wie andersartig seine Präsenz ist im Vergleich zu den engstirnigen und parteiischen Haltungen seiner Gegner – und seiner Jünger: „Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich.“ (Mt 19,26) Damit enthüllt er seine Identität vor allen. Wir könnten bis morgen so weitermachen und noch viele solcher Episoden aufzählen!

Man kann angemessene Urteile abgeben, ohne Partei zu ergreifen oder sich auf die Stellungnahme für eine Seite festlegen zu lassen. Im Bezug auf die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften war das entscheidende Urteil, auf das Geheimnis des Menschen in seiner Ganzheit hinzuweisen, das sich in der unendlichen Sehnsucht seines Herzens zeigt. Das ist der Grund, warum der Mensch keine Ruhe findet, unruhig ist und sich nicht mit einer verkürzenden Antwort auf seine Sehnsucht begnügt. Nur wenn man ein Urteil abgibt, dass so tief geht, trifft man das, was dieses Gesetz ausmacht. Denn dann macht man klar, dass dieses Gesetz, ob es nun verabschiedet wird oder nicht, niemals eine hinreichende Antwort auf die Sehnsucht des Menschen nach dem Unendlichen sein kann.

Wir haben alle, implizit oder explizit, ein Urteil zu diesen Vorgängen abgegeben, und zwar durch das, was wir getan haben, und durch die Art, wie wir reagiert haben. Wie ein Arzt dadurch, dass er zu einem bestimmten Heilmittel rät, enthüllt, welche Diagnose er gestellt hat, so konnte jeder von uns feststellen, wie er das menschliche Drama beurteilt, das sich hinter dem Gesetzesentwurf von Frau Cirinnà verbirgt. Gerade aufgrund meines Urteils über den Menschen und seine Natur ist für mich Christus die einzige Antwort. Aber nicht ein abstrakter Christus, sondern eine lebendige Begegnung, wie mit der Samariterin am Brunnen, wie die, von der Don Giussani spricht. Denn „in einer Gesellschaft wie dieser kann man nichts Neues schaffen, außer durch das Leben“ (vgl. „Movimento, ‚regola‘ di libertà“, in: CL Litterae communionis, 11/1978, S. 44). Christus ist nicht nur ein Teil der Lösung, sondern die einzige Lösung, an die ich glaube. Nur wenn man das begreift, dann „entzaubert“ man diese Gesetzentwürfe gewissermaßen und öffnet dadurch einen Raum für die Begegnung und den Dialog, auch für die Politiker. Ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen.

Eine reaktive Präsenz

Die Art und Weise, wie wir die Herausforderungen der 68er angenommen haben, ist ein deutliches Beispiel aus unserer Geschichte für das, was ich gerade gesagt habe. Don Giussani hat damals ein Urteil erarbeitet und es unermüdlich vorgeschlagen. Er schlug sich nicht auf die eine oder andere Seite. Er hinterfragte nicht nur die Positionen der Marxisten, sondern auch unsere Antwort auf diese Herausforderung. Warum vergleiche ich die heutige Situation mit den 68-ern? Weil, wie Kardinal Scola gesagt hat, „die Auseinandersetzung mit der Gender-Revolution [die wir jetzt erleben] vielleicht keine geringere ist als die mit der marxistischen Revolution“ („Il no ai divorziati resta, ma non è un castigo e sugli omosessuali la Chiesa è stata lenta“, Interview in: La Repubblica, 12. Oktober 2014, S. 19). Das sind zwei Varianten der gleichen Frage, zwei Versuche, sich selbst zu erlösen.

Welches Urteil hat Don Giussani zu unserer Reaktion auf die Herausforderungen der 68er abgegeben? Er sagte, wir hätten mit dem gleichen Urteilskriterium geantwortet wie die, die wir kritisierten. Wir hätten ihre Denkweise übernommen. Damit wollte er natürlich nicht den Marxismus mit unserer Haltung gleichsetzen. Aber er stellte fest, dass beide Antworten ein und derselben kulturellen Logik entspringen. Denn die Antwort, die unsere Bewegung zu Beginn der 70-er Jahre auf die Umbrüche gab, bewegte sich genau auf dem Spielfeld, das die Marxisten vorgegeben hatten. „Der Erfolg […] [der Versammlung im] Palalido lag […] führte zu einem Missverständnis, das noch lange einen nicht eben positiven Einfluss auf das Leben und die Entwicklung der Bewegung ausgeübt hat. Im Zuge dieses Erfolgs […] begann die Führung von Comunione e Liberazione sich ganz darauf zu konzentrieren, die positiven Aspekte einer christlichen Herangehensweise an die Thematik der 68er zu beweisen. Anders gesagt, man bemühte sich zwar, das Wesentliche des Christentums herauszustellen, allerdings nur innerhalb der Grenzen eines Horizontes, den andere vorher festgelegt hatten“ (L. Giussani, Il movimento di Comunione e Liberazione. 1954-1986, Bur, Mailand 2014, S. 169).

Don Giussani erkannte die Sehnsucht nach der Wahrheit an, die auch dem Marxismus zugrunde lag. „Auch der Marxist bringt ein Bedürfnis seines Herzens zum Ausdruck, selbst wenn es durch die marxistische Ideologie verwirrt, verdunkelt und verwässert ist“ (In cammino. 1992-1998, Bur, Mailand 2014, S. 216). Aber gerade weil er die Wahrheit der Sehnsucht anerkannte, die sich hinter jenem ideologischen Ansatz verbarg, nahm er die Unzulänglichkeit unseres Vorschlags um so schärfer wahr. Wenn wir also nicht wirklich verstehen, welches Bedürfnis sich hinter den heutigen Ereignissen verbirgt, dann werden – heute wie damals – unsere Bemühungen fruchtlos und unser Anspruch eine unangemessene Antwort bleiben.

Deshalb sagte Giussani 1972, kurz nach den Ereignissen, über die wir gerade gesprochen haben, man habe versucht, „der Verwirrung“ zu entkommen durch „den Willen zum Handeln“, indem man sich in Aktionismus flüchtete, beschloss, etwas zu tun […], sich Hals über Kopf ins Getümmel stürzte und der Welt folgte“ (vgl. L. Giussani, „Der lange Weg zur Reife“, Spuren-Litterae communionis, März 2008). Man beanspruchte krampfhaft, die Dinge aus eigener Kraft verändern zu können – genau wie die anderen. 1993 wiederholte Don Giussani im Rückblick dieses Urteil über jene Jahre: „Wir waren ganz berauscht von unserem Tun bzw. davon, erfolgreich Antworten zu geben und Aktionen zu starten, mit denen wir den anderen beweisen konnten, dass wir erfolgreich waren, weil wir nach christlichen Prinzipien handelten. Nur so konnten auch wir eine Heimat haben.“ (In cammino. 1992-1998, a.a.O., S. 219) Da man das von anderen vorbestimmte Spielfeld übernommen hatte, bewirkte das eine große Mobilisierung, hatte aber unvorhergesehene Folgen. Ohne dass man es merkte, „vollzog man den Schritt von einer Mentalität zur anderen [vom Christentum zum Moralismus], […] indem man den Diskurs und die Art von Erfahrung, an der man teilhatte, bagatellisierte und abstrahierte“. So „wurde die Geschichtlichkeit des christlichen Ereignisses verkürzt und ihres Nutzens beraubt. [...] Die geschichtliche Tragweite wurde bagatellisiert, man ließ sie ‚verschwinden‘ [...] und behauptete, das Christentum habe keine geschichtliche Wirkung“. Denn das scheint uns oft der Fall zu sein, dass das christliche Faktum als solches geschichtlich wirkungslos sei. Infolgedessen müssen wir uns dann mobilisieren und etwas anderes machen, um auf die Situation zu antworten. Dies hat drei Konsequenzen, die Don Giussani so beschreibt: „1.) Eine Vorstellung vom christlichen Engagement, die sich am Nutzen orientiert, mit einem moralistischen Touch. Eigentlich kann man hier nicht nur von ‚Touch‘ sprechen: Das Christentum wurde ganz auf Moralismus reduziert!“ Das Christentum ändert sein Gesicht. Statt eines Faktums wird es Moralismus, Ethik. Darin sieht man, wie weit das Menschsein verkürzt wurde. Denn wenn einem klar ist, dass der Mensch Sehnsucht nach dem Unendlichen ist, dann wird man gewiss nicht den Anspruch erheben, die Probleme durch eine Ethik zu lösen. Wenn man die Antwort in einem Moralismus sucht, dann hat man das Menschsein schon verkürzt. 2.) „Die Unfähigkeit, aus einem Diskurs Kultur werden zu lassen, seine christliche Erfahrung auf eine Ebene zu heben, wo sie zu einem systematischen und kritischen Urteil wird und damit zu einer Anregung für das Handeln“. Daher entsteht keine neue Kultur, sondern man schlägt die gleiche moralistische Kultur vor, die dem Marxismus eigen ist: „Jetzt nehme ich die Dinge in die Hand und bringe sie in Ordnung“. 3.) „Die Bedeutung der Autorität […] wurde theoretisch und praktisch unterschätzt“ (vgl. L. Giussani, „Der lange Weg zur Reife“, in: Spuren-Litterae communionis, März 2008).

Sagt selber, ob das Urteil von Don Giussani nicht klar ist: „In der allgemeinen Verwirrung [überwog] [...] der Versuch, die Schwierigkeiten zu überwinden, indem man sich Hals über Kopf ins Getümmel stürzte und der Welt folgte. Die eigene Geschichte mit ihren wertvollen Inhalten wurde kleingeredet und weitestgehend gemäß einer abstrakten Sicht des Lebens interpretiert. So wurde sie der Möglichkeit beraubt, auf den Verlauf der Geschichte Einfluss zu nehmen, und damit der Möglichkeit wirklich Fleisch zu werden.“ Und wie charakterisiert er diesen Versuch? Mit Bezug auf die Initiatoren und Teilnehmer an den 68er-Protesten bemerkt er: „Man ist naiv, wenn man von sich selbst als dem ‚Maß aller Dinge‘ ausgeht; man ist naiv, wenn man sagt: ‚Jetzt nehme ich die Dinge in die Hand und bringe sie in Ordnung‘. […] Wie traurig! Welch eine Traurigkeit haben wir da empfunden, und die hat sich mit den Jahren nur noch verstärkt“ (vgl. ebd.).

Das ist eine Naivität und Anmaßung, an der wir auch unseren Anteil hatten und haben. Papst Franziskus sagte dazu neulich beim Kongress der italienischen Kirche in Florenz, als er von der Versuchung des Pelagianismus sprach: „Sie drängt die Kirche, nicht demütig, uneigennützig und selig zu sein. Und sie tut es mit dem Anschein des Guten. Der Pelagianismus bringt uns dazu, auf Strukturen, Organisationen, perfekte – da abstrakte – Planungen zu vertrauen. Oft bringt er uns auch dazu, einen kontrollierenden, harten, normativen Stil anzunehmen. Die Norm gibt dem Pelagianer die Sicherheit, sich überlegen zu fühlen, eine genaue Orientierung zu besitzen: Darin findet er seine Kraft.“ (Ansprache beim V. Nationalen Kongress der Kirche in Italien, Florenz, 10. November 2015)

Das ist eine Verkürzung des Christentums. „Daraus“, hat Don Giussani beobachtet, „entwickelt sich dann das ‚Gerede‘ von moralischen Werten. Denn das Gerede von moralischen Werten stützt die Auffassung, dass das Heilmittel […] aus der Kraft der Phantasie und des menschlichen Wollens hervorgeht“. („Es ist immer eine Gnade“, in: Er ist, da Er wirkt, Beilage zu 30Tage, Februar 1994, S. 67). Dabei kann es sich um einen Gesetzentwurf handeln, um das Mobilisieren von Menschenmassen oder um irgendetwas anderes, was wir uns vorstellen. Das ist ein radikaler Weckruf von Don Giussani. Und was ist der letzte Grund dieser Haltung, die Don Giussani brandmarkt? „Es ist eine existenzielle Unsicherheit, eine tiefe Angst, die dazu führt, dass man in den Dingen, die man kulturell oder organisatorisch tut, seinen Halt sucht und sie als das betrachtet, was einem Bestand gibt“ (Uomini senza patria. 1982-1983, Bur, Mailand 2008, S. 97). Dann sagt man: Wir müssen doch irgendetwas tun.

Worüber urteilt Don Giussani mit diesen Beobachtungen über die Jahre hinweg? Über eine bestimmte kollektive Präsenz der Bewegung als solcher. Er urteilt nicht über den einen oder anderen. Daher lenkt die Diskussion der letzten Wochen über das private oder öffentliche Zeugnis nur ab. Die eigentliche Frage ist die nach dem Inhalt des Zeugnisses, egal, ob wir es persönlich oder gemeinschaftlich abgeben, denn das Zeugnis an sich ist immer öffentlich. Don Giussani urteilt über den eigentlichen Inhalt unserer Präsenz und unseres Handelns und sagt, es sei auf Moralismus, auf das Werben für oder das Beharren auf christlichen Werten verkürzt worden. Deswegen sagte er 1982 vor Studenten: „Es schien regelrecht so, als hätte die Bewegung Comunione e Liberazione von den 70-er Jahren an für die Werte, die Christus gebracht hat, gearbeitet und gekämpft, aber Christus selbst sei für uns, für uns selbst und für alle, die mit uns bei CL waren, etwas geblieben, das ‚parallel‘ lief“ (ebd., S. 56).

Was Don Giussani kritisierte, war eine Präsenz in der Öffentlichkeit, die Ergebnis des vorherrschenden Moralismus war, eine kollektive Präsenz, die einer „existentiellen Unsicherheit“ entsprang. Das haben wir oft – zu unrecht – als „Präsenz“ (in einem ursprünglichen Sinne) bezeichnet. Daher sagt Don Giussani: „Solange das Christentum dialektisch und auch praktisch die christlichen Werte stützt, wird es überall Raum und Anklang finden. Aber dort, wo der Christ ein Mensch ist, der in der menschlichen, geschichtlichen Wirklichkeit die fortwährende Gegenwart […] Gottes verkündet, der zu einem von uns wurde und Gegenstand unserer Erfahrung […], der aktiv alles bestimmt als ein alles umspannender Horizont und als die endgültige Liebe […], [wenn der Christ also] die Gegenwart Christi verkündet als das Zentrum seiner Weltanschauung, seiner Lebensauffassung, als den Sinn seines Handelns, die Quelle jeden menschlichen Handelns, auch der kulturellen Tätigkeit des Menschen, dann hat er hier keine Heimat“ (ebd., S. 90). Und so ist es auch heute: Wenn wir das Christentum auf eine dialektische Bekräftigung von Werten verkürzen würden, dann hätten wir hier eine Heimat.

Eine ursprüngliche Präsenz

Warum beharrt Don Giussani so sehr und über so viele Jahre darauf, unsere Bemühungen zu korrigieren? Unsere Präsenz darf nicht reaktiv sein, indem wir für die eine oder die andere Seite Partei ergreifen, sondern muss eine ursprüngliche Präsenz werden. Denn eine „reaktive Präsenz […] versucht, die anderen nachzuahmen. Auf diese Weise gibt man den anderen im Wesentlichen nach und tut so, als ob man gewissermaßen bei ihnen zuhause wäre und den Streit auf ihre Art und Weise austragen könnte.“ Man spielt also auf einem Spielfeld, das die anderen vorgegeben haben. „Worauf es folglich ankommt, ist eine ursprüngliche Präsenz“ (Utopie und Präsenz, Quaderni Litterae Communionis, Nr. 27, S. 3). Das ist etwas anderes, als Partei zu ergreifen, bedeutet aber nicht, dass man keine Stellung bezieht. Es heißt, dass man eine andere Stellung bezieht und sich auf keinen Fall in die fromme Ecke zurückzuzieht.

Ein ursprüngliches Urteil, eine ursprüngliche Präsenz lässt sich nicht auf die Logik unterschiedlicher Lager zurückführen, selbst wenn es um etwas ganz Konkretes oder um Details geht. Bei der Versammlung mit den Studenten 1976 in Riccione beschrieb Don Giussani, worin eine ursprüngliche Präsenz besteht: „Eine Präsenz ist in dem Maße ursprünglich, indem sie ihren Bestand in dem Bewusstsein der eigenen Identität hat und aus der Zuneigung zu ihr hervorgeht. [...] Unsere Identität beruht darin, dass wir von Christus ergriffen wurden“ (ebd., S. 4 f.). Warum ist eine ursprüngliche Präsenz notwendig? Gerade aufgrund der geschichtlichen Lage des Menschen, die die Kirche immer vor Augen hatte. Denn die grundlegenden Evidenzen des Lebens werden oft nicht deutlich wahrgenommen. Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Die Gebote des natürlichen Gesetzes [also die grundlegenden Evidenzen des Lebens] werden nicht von allen Menschen klar und unmittelbar wahrgenommen Damit religiöse und moralische Wahrheiten [also die Evidenzen] ‚von allen ohne Schwierigkeit, mit sicherer Gewissheit und ohne Beimischung eines Irrtums erkannt werden‘ können [...], sind dem sündigen Menschen in seiner jetzigen Verfasstheit Gnade und Offenbarung notwendig.“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1960) Heute wird das immer offensichtlicher. Aber die ganze Kirchengeschichte zeigt, dass diese Verfasstheit des Menschen wahrgenommen wurde. Wie können wir glauben, wir könnten einen Beitrag zu all den Problemen des heutigen Menschen leisten, ohne uns der ganzen Dramatik seiner geschichtlichen Lage bewusst zu sein? Wenn Christus den Menschen nicht aufrüttelt, wenn er ihm nicht klar vor Augen führt, was er ist, dann kann der Mensch unmöglich von sich aus die grundlegenden Evidenzen klar und deutlich erkennen. Und gerade wir sollten das verstehen, denn niemand von uns wäre hier, wenn das nicht geschehen wäre.

Was ist also die Antwort auf die derzeitige Situation? Je nach dem, wie wir antworten, zeigt sich – wie ich vorher sagte –, ob wir wirklich verstanden haben, worum es geht, und ob unsere Diagnose des Problems angemessen ist. Wenn Don Giussani betont, dass wir zu der aktuellen Herausforderung nichts anderes zu sagen haben als „Johannes und Andreas“, die Begegnung von Johannes und Andreas mit Jesus, ist das dann etwas Spiritualistisches? Wenn er sagt: „Der Mensch findet zu sich selbst in einer lebendigen Begegnung“ (L’io rinasce in un incontro. 1986-1987, Bur, Mailand 2010, S. 182), gibt er dann eine intimistische Antwort auf die Probleme des Menschen? Oft sagen oder denken wir: „Ja, stimmt. Das wissen wir schon. Aber jetzt sollte man endlich zur Sache kommen.“ Doch wie kann ein Mensch Klarheit gewinnen, ohne eine Begegnung zu machen? Aus einer Begegnung entspringen eine vollständige Wahrnehmung seiner selbst, neue Erkenntnis und Schöpferkraft, die sich dann auf jeden Bereich des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens auswirken.

Gerade weil Don Giussani sich der geschichtlichen Lage bewusst war, fand er das Referendum über die Scheidung in einem gesellschaftlichen Kontext wie dem der 70-er Jahre gar nicht nützlich. So sagte er in dem Interview mit Robi Ronza: „Wir haben den Aufruf von Msgr. Bartoletti […] aus Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität aufgenommen. CL seinerseits war von der Nützlichkeit einer solchen Initiative angesichts der damaligen Umstände nicht ganz überzeugt“ (Il movimento di Comunione e Liberazione. 1954-1986, a.a.O., S. 170 f.). Nicht weil er anderer Meinung gewesen wäre über die Ehe, sondern weil man, wenn man die wahre Natur des Problems kennt, manche Initiativen unter bestimmten Umständen für zwecklos halten kann. Giussani war nicht plötzlich ein Relativist oder Laizist geworden, der bezweifelte, dass es wichtig sei, öffentlich für die Ehe einzutreten, oder gar die kirchliche Ehelehre in Zweifel zog. Sein Urteil ging von einer geschichtlichen Tatsache aus. Er hatte als erster verstanden, was sich in der Gesellschaft abspielte. Er hatte ja in den 50-er Jahren die Bewegung genau aus diesem Grund gegründet, weil er auf die Herausforderungen antworten wollte, die er aufbrechen sah.

Nur wenn wir uns dieser Lage bewusst werden, können wir realistisch einschätzen, wozu wir auf der Welt sind. Genau das bedeutet, zum Kern der Sache zu kommen: ein Urteil abzugeben, eine angemessene Diagnose der konkreten, geschichtlichen Lage des Menschen zu stellen.

1998, gegen Ende seines Lebens, kam Don Giussani noch einmal auf diese Fragen zurück. Jemand fragte ihn: „Warum betont eine Bewegung wie unsere so sehr das Ich, und warum erst jetzt?“ Er antwortete: „Am Anfang der Bewegung stand die Frage der Person an erster Stelle!“ (In cammino. 1992-1998, a.a.O., S. 337 f.). Uns scheint das oft nicht zu reichen, während es für Don Giussani die einzig angemessene Antwort ist. „Wenn eine feindliche Gesellschaft uns umzingelt und unsere Lebensäußerungen zu verhindern sucht, wenn eine kulturelle und gesellschaftliche Hegemonie sich bis ins Herz ausbreitet und die schon natürlicherweise vorhandenen Unsicherheiten noch weiter vertieft, dann ist die Zeit der Person gekommen“. Und was ist die Person? Worin findet sie ihren Bestand? Das ist die entscheidende Frage. „Was entscheidend ist, damit es Personen gibt, damit das menschliche Subjekt an Kraft gewinnt in dieser Lage, in der die Blätter vom Stamm gerissen werden und vertrocknen, ist das Selbstbewusstsein. Das ist eine klare und liebevolle Wahrnehmung seiner selbst, die erfüllt ist vom Bewusstsein der eigenen Bestimmung und daher einer wahren Zuneigung zu sich selbst fähig, frei von stumpfer, instinktiver Eigenliebe. Wenn wir diese Identität verlieren, dann hilft uns nichts mehr.“ („È venuto il tempo della persona“, in: Litterae Communionis CL, Nr. 1/1977, S. 11-12) Gerade weil wir in einer solchen Gesellschaft leben, wie wir alle wissen, einer völlig pluralistischen Gesellschaft, ist der einzige Schutzwall gegen die Macht ein Ich, dessen Bewusstsein ihm erlaubt, in einer solchen Situation zu leben, ohne von den Sirenen der Macht bezirzt zu werden.

Wir kommen, wie Papst Franziskus sagt, „aus einer [...] Pastoral, in der die Kirche der einzige Bezugspunkt für die Kultur war. Ja, das ist unser Erbe. [...] Aber diese Epoche [...] ist vorbei [ob uns das gefällt oder nicht]. Wir sind nicht in der Christenheit, nicht mehr. Wir sind heute nicht mehr die einzigen, die Kultur machen, und wir sind weder die ersten, noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird. Und genau deshalb brauchen wir eine Veränderung der pastoralen Mentalität. [...] Denn der Mann, die Frau, die Familien und die verschiedenen Gruppen, die in den Städten wohnen, erwarten von uns die Frohe Botschaft, die Jesus und sein Evangelium ist – das brauchen sie für ihr Leben.“ (Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses der Großstadtpastoral, 27. November 2014) Das bedeutet nicht, dass man sich dem Relativismus unterwirft, aber es muss einem klar sein, dass die Lage sich verändert hat.

Wovon hängt es ab, ob der Mensch von heute das versteht? Nur davon, dass wir den Glauben, persönlich oder gemeinsam, überzeugend vermitteln, wie Kardinal Ratzinger 2003 sagte: „Es geht um den Menschen, um die Welt. Und beide sind offenbar nicht zu retten, wenn Gott nicht auf eine überzeugende Weise in Sicht kommt. Niemand kann sich anmaßen, den fertigen Weg zu wissen, wie diese Not gelöst werden kann. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil in einer freien Gesellschaft die Freiheit keine anderen Mittel zu ihrer Durchsetzung suchen kann und darf als eben die Kraft der Überzeugung, Überzeugung aber in der Vielfalt der den Menschen bedrängenden Eindrücke und Forderungen sich nur schwer formt.“ (Joseph Kardinal Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, Freiburg 2003, S. 117) Und in einem anderen Werk erläutert er seine Gedanken mit einem Beispiel: „Lassen Sie mich [...] auch dies an einem Beispiel darstellen, in dem die ganze Dramatik der Sache anschaulich wird. Der Streit um die Kreuze in den Schulen [...] Wenn wir nicht mehr die Kraft haben, solche Zeichen in ihrer Unverzichtbarkeit zu verstehen und festzuhalten, macht sich das Christentum verzichtbar, aber der Staat wird damit nicht pluralistischer und freier, sondern bodenlos. […] Deswegen muss das Christentum auf solchen öffentlichen Zeichen seiner Menschlichkeit bestehen. Aber es kann freilich nur darauf bestehen, wenn die Kraft öffentlicher Überzeugung sie trägt. Darin sind wir gefordert. Wenn wir nicht überzeugt sind und nicht überzeugen können, haben wir auch kein Recht, Öffentlichkeit zu verlangen. Wir sind dann entbehrlich, und wir müssen es dann auch zugeben. Aber wir entziehen dann mit unserer eigenen Überzeugungslosigkeit der Gesellschaft das, was objektiv unentbehrlich ist für sie: die geistigen Grundlagen ihrer Menschlichkeit und ihre Freiheit. Die einzige Kraft, mit der sich das Christentum öffentlich zur Geltung zu bringen vermag, ist letztlich die Kraft seiner inneren Wahrheit. Diese Kraft aber ist heute so unentbehrlich wie eh und je, weil der Mensch ohne Wahrheit nicht überleben kann. Das ist die sichere Hoffnung des Christentums; das ist seine ungeheure Herausforderung an jeden einzelnen von uns.“ (Joseph Kardinal Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik, Johannes Verlag, Einsiedeln 1987, S. 196 f.)

Denn jede Beziehung zur Wahrheit geht zwangsläufig durch die Freiheit. So besteht die Herausforderung darin, die innere Wahrheit des Christentums so zu bezeugen, dass andere dadurch überzeugt werden, dass sie den Bedürfnissen des Lebens entspricht. Andernfalls wird es schwierig, die Leute zu überzeugen. Aus diesem Grund hat Don Giussani immer auf die drei wesentlichen Dimensionen der christlichen Verkündigung hingewiesen: Kultur, Caritas und Mission. Sie sind „der Aspekt der Offenheit auf die Gesamtwirklichkeit hin, der in einem menschlichen Geist verwirklicht wird. Sie [sind] das, was uns erlaubt, den letzten Sinn eines menschlichen Tuns in den Blick zu nehmen Die Dimensionen stellen also die wichtigsten Modalitäten eines Gestus dar, diejenigen, nach denen der Wert des Gestus bemessen wird, und diejenigen, die alle seine Möglichkeiten fördern.“ (L. Giussani, Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung, EOS-Verlag, St. Ottilien 2006, S. 29 f.) Wir werden ein andermal auf die ganzheitliche Erziehung eingehen, die diese Dimensionen entfaltet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese nur möglich ist, wenn sich die Begegnung wieder ereignet, also durch die ursprüngliche Neuheit, die die Vernunft und die Affektivität weitet und sie in Einklang bringt mit einem Vorschlag, der die ganze Dynamik des Menschseins verändern und schließlich eine neue Persönlichkeit entstehen lassen kann. In der Tat bedarf das neue Geschöpf ja „einer Gleichzeitigkeit mit dem Ereignis, das es hervorbringt und ständig erhält. Denn dieser Ursprung ist keine Idee, sondern ein Ort, eine lebendige Wirklichkeit. Das neue Urteil ist nur möglich in einer andauernden Beziehung mit dieser Wirklichkeit, das heißt mit der menschlichen Gemeinschaft, die das ursprüngliche Ereignis in der Zeit fortdauern lässt.“ (L. Giussani/ S. Alberto/ J. Prades, Generare tracce nella storia del mondo, Rizzoli, Mailand 1998, S. 75)

Jeder muss für sich selber prüfen, in welcher Weise er sich der Wirklichkeit stellt. Ist ein Christentum, das auf einen Diskurs, auf Kultur, Ethik oder Werte verkürzt wird und mit der Neuheit einer Begegnung nichts mehr zu tun hat, imstande, jemanden zu überzeugen, dass er seine Haltung ändert? In den 68-ern hat Don Giussani gelernt, dass ein noch so guter Unterricht in Anthropologie, Theologie, Ethik nicht ausreicht. Daher ist auch die Situation, in der wir uns heute befinden, wie damals eine gute Gelegenheit um zu verstehen, was das Christentum ist. Johannes Paul II. schreibt in seiner Enzyklika Veritatis Splendor: „Ihren festen Halt – ihr pädagogisches ‚Geheimnis‘ – findet diese Arbeit der Kirche nicht so sehr in den Lehraussagen und pastoralen Aufrufen zur Wachsamkeit als vielmehr darin, dass sie den Blick unverwandt auf den Herrn Jesus richtet. So blickt die Kirche Tag für Tag mit unermüdlicher Liebe auf Christus, da sie sich völlig bewusst ist, dass allein bei ihm die wahre und endgültige Antwort auf die sittlichen Fragestellungen liegt. [...] Es ist dringend notwendig, das wahre Antlitz des christlichen Glaubens zurückzugewinnen und wieder bekannt zu machen; dies ist ja nicht lediglich eine Summe von Aussagen, die mit dem Verstand angenommen und bestätigt werden müssen. Er ist vielmehr eine gelebte Kenntnis von Christus, ein lebendiges Gedächtnis seiner Gebote, eine Wahrheit, die gelebt werden muss.“ (Enzyklika Veritatis splendor, 1993, 85, 88) Also eine Erfahrung, die es mitzuteilen gilt.

Wenn wir diesen Dingen nicht auf den Grund gehen, dann haben wir auch nichts Originäres vorzuschlagen. Wir wiederholen nur irgendeine verkürzte Auffassung vom Christentum.

Es scheint, als hätten wir uns heute immer noch nicht den Blick angeeignet, den das Zweite Vatikanische Konzil in die Kirche Gottes eingeführt hat. Und es ist bezeichnend, dass Leute, wenn sie einer Herausforderung wie der aktuellen begegnen sollen, Texte wieder ausgraben, die für alle wertvoll sind. So haben mir mehrere die Ansprache zugeschickt, die Paul VI. bei der letzten öffentlichen Sitzung des Konzils im Dezember 1965 gehalten hat. Ich möchte euch ein paar Auszüge daraus vorlesen: „Vielleicht noch nie hat die Kirche so sehr wie bei dieser Gelegenheit das Verlangen verspürt, die sie umgebende Welt kennenzulernen, sich ihr zu nähern, sie zu verstehen, zu durchdringen, ihr zu dienen, ihr die Botschaft des Evangeliums zu bringen, sie zu erfassen und ihr gleichsam nachzugehen in ihrer raschen und fortwährenden Wandlung. Diese Haltung, die bestimmt ist von den Distanzen und Brüchen, die sich in den vergangenen Jahrhunderten, im letzten Jahrhundert und besonders in diesem Jahrhundert zwischen der Kirche und der weltlichen Zivilisation aufgetan haben, und immer vorgegeben wird von der Heilssendung, die das Wesen der Kirche ist, war stark und andauernd am Werk in diesem Konzil. Ja, sie hat sogar bei einigen den Verdacht geweckt, dass ein zu toleranter und übertriebener Relativismus gegenüber der äußeren Welt, der flüchtigen Geschichte, der kulturellen Mode, den nebensächlichen Bedürfnissen, dem Denken anderer einige Teilnehmer und Entscheidungen des Konzils beeinflusst hätte, zum Schaden der notwendigen Treue zur Tradition. [...] Die Kirche des Konzils hat sich in der Tat nicht nur mit sich selbst und mit ihrer Beziehung zu Gott beschäftigt, sondern auch ziemlich viel mit dem Menschen, mit dem Menschen, wie er sich heute in Wirklichkeit darstellt: der lebendige Mensch, der Mensch, der ganz mit sich selbst beschäftigt ist, der Mensch, der nicht nur sich selbst ins Zentrum jeden Interesses stellt, sondern sogar wagt, sich zum Prinzip und Grund jedweder Wirklichkeit zu erklären. Der ganze phänomenologische Mensch, bekleidet mit den Gewändern seiner unzähligen Erscheinungsweisen; [...] der tragische Mensch seiner eigenen Dramen, der Übermensch von gestern und von heute, der immer zerbrechlich ist und falsch, egoistisch und grausam; dann der Mensch, der unglücklich ist mit sich selbst, der lacht und der weint; der wankelmütige Mensch, der bereit ist, jedwede Rolle zu spielen“ – also nicht der abstrakte, sondern der konkrete Mensch, wie er in der Geschichte vor den Augen der Kirche erscheint.

Und Paul VI. fährt fort: „Der laikale, weltliche Humanismus ist schließlich in seiner schrecklichen Gestalt erschienen und hat in gewisser Weise das Konzil herausgefordert. Die Religion des Gottes, der Mensch wurde, ist der Religion (denn das ist sie) des Menschen begegnet, der sich zum Gott macht. Und was ist dann geschehen? Eine Auseinandersetzung, ein Kampf, ein Bannstrahl? Das hätte geschehen können, aber es ist nicht geschehen. Die alte Geschichte vom barmherzigen Samariter wurde zum Vorbild für die Geisteshaltung des Konzils. Eine grenzenlose Sympathie hat es durchdrungen. Die Entdeckung der menschlichen Nöte (und je größer sie sind, um so größer macht sich der Erdensohn) hat die Aufmerksamkeit unserer Synode absorbiert. […] Ein Strom von Zuneigung und Bewunderung ergoss sich vom Konzil in die Welt des modernen Menschen [...]. Das Lehramt [...] ist [...] in den Dialog mit [der Welt] eingetreten [...], es hat die schlichte und freundliche Stimme der Hirtenliebe angenommen [...], es hat sich nicht nur an die spekulative Intelligenz gewandt, sondern es hat versucht, sich auch im Stil der heute gängigen Konversation auszudrücken, der der Rekurs auf die gelebte Erfahrung und der Einsatz von Gefühlen des Herzens mehr anziehende Lebendigkeit und Überzeugungskraft verleihen. Es hat zum heutigen Menschen gesprochen, so wie er ist. Und noch etwas anderes müssen wir hervorheben: Dieser ganze Reichtum der Lehre richtet sich nur auf ein Ziel: dem Menschen zu dienen. Der Mensch [...] in jedweder Situation, mit all seinen Gebrechen, mit all seinen Bedürfnissen. Die Kirche hat sich gewissermaßen zur Magd der Menschheit erklärt“ (Ansprache bei der letzten öffentlichen Sitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils, 7. Dezember 1965).

Obwohl inzwischen fünfzig Jahre vergangen sind, sind wir immer noch aufgefordert, diese Einladung des Konzils umzusetzen, dem konkreten Menschen unsere Sympathie und Zuneigung zu erweisen und den Dialog mit allen Menschen zu suchen. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass unsere Überzeugungskraft nicht davon abhängt, dass wir die Lehre wiederholen, sondern aus der gelebten Erfahrung kommt. Wir sollten die ersten sein, die das verstehen, da Don Giussani die Bewegung genau mit diesem Blick gegründet hat, in diesem Bemühen um Dialog. Das sieht man genau daran, wie er den „Raggio“ [das wöchentliche Treffen der Schüler der Bewegung] strukturiert hat: „Der ‚Raggio‘ ist ein Dialog.“ Der Dialog war für Don Giussani keine Dialektik oder „Diskussion“, die „nur aus der Lust entstand, seine Meinung zu äußern, aus Neugier oder aus Stolz, weil man sich selbst darstellen wollte“. Es ging vielmehr um „den Kontakt von Erfahrungen“. Der „Raggio“, so sagte er, ist „Teilnahme an der Erfahrung desjenigen, der spricht, und zwar über seine eigene Erfahrung.“ Und weiter: „Dialog heißt, die eigene Existenz einer anderen Existenz mitzuteilen, sein persönliches Leben anderen persönlichen Leben mitzuteilen durch Zeichen, Worte, Gesten und Haltungen.“ Der Dialog beschränkt sich nicht nur auf einen Austausch von Ideen, sondern er verwirklicht sich in allen Aspekten des Lebens. „Der Dialog“, fuhr Don Giussani fort, „ist Leben. Unser Dialog ist weit entfernt von der laizistischen Auffassung, die ihn als Dialektik sieht, als eine mehr oder weniger intelligente Auseinandersetzung zwischen Ideen oder Geistesgrößen. Unser Dialog ist ein gegenseitiges Mitteilen seiner selbst. Das Schwergewicht liegt bei unserem Dialog nicht auf den Ideen, sondern auf der Person an sich, auf der Freiheit. Unser Dialog ist ein Leben. Und die Ideen sind nur ein Teil davon.“ (L. Giussani, in: M. Busani, Gioventù Studentesca. Storia di un movimento cattolico dalla ricostruzione alla contestazione; z. Zt. im Druck)

Wenn der Dialog keine Dialektik, sondern das Mitteilen einer Erfahrung ist, dann gilt es auf die gelebte Erfahrung zu schauen und sie zu verifizieren. Niemand lässt sich überzeugen, wenn er etwas nicht selber überprüfen kann. Weder durch Diskussionen noch durch Dialektik erfassen wir die Wahrheit. Wir erkennen die Wahrheit nur, wenn sie in unserer Erfahrung aufscheint. Das haben wir schon oft gesagt im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn: Der Vater konnte den Sohn nicht überzeugen, zu Hause zu bleiben, und musste zulassen, dass er andere Erfahrungen machte, obwohl er wusste, dass er dadurch zumindest zeitweise auf Abwege geraten würde. Nur durch Erfahrung wurde dem Sohn klar – wie jeder von uns begreifen kann aufgrund des Weges, den er zurückgelegt hat –, dass der Lösungsansatz, den er aus Sehnsucht nach Freiheit gewählt hatte, absolut unangemessen war. Sein Ansatz hielt der Überprüfung durch die Erfahrung nicht stand.

Als Pater Antonio Sicari Don Giussani einmal fragte, wie man das Drama eines Menschen angehen könne, der sich durch Drogen ins Verderben stürzt, antwortete dieser, zunächst einmal soll man demjenigen „helfen zu erkennen, dass das, worin er Zuflucht sucht, nicht nur unangemessen, sondern sogar kontraproduktiv ist bei seiner verzweifelten Suche nach Sinn, nach Glück“. Das heißt, man soll ihm helfen, die Wirklichkeit zu erkennen. Aber wie macht man das? „Das allein verlangt schon große und paradoxe Geduld. Paradox deshalb, weil es zunächst so scheint, als erlaube man ihm, diese Erfahrung zu machen.“ Das ist wirklich beeindruckend! Nicht, dass man ihn nicht überzeugen wollte, aber die Frage ist: Wie kann man den realen Menschen, von dem das Konzil spricht, überzeugen? Entweder man fesselt ihn an einen Stuhl, das heißt man zwingt ihn – was freilich unmöglich ist. Oder man lässt ihn, nachdem man ihm alles Notwendige gesagt hat, die Erfahrung machen, die er machen will. Welchen Grund gibt Don Giussani dafür an? Was ist der letzte Grund für dieses Verhalten? Er empfiehlt, es so zu machen, „weil Gott es so macht mit dem Menschen“. Der wahre Grund für diese Haltung ist nicht irgendeine Strategie, sondern dass Gott sich so verhalten hat dem Menschen gegenüber. Von Anfang an. Da er den Menschen frei geschaffen hat, konnte er nicht anders, als zuzulassen, dass dieser sich so verhielt, wie er wollte. Sonst hätte er uns alle beim ersten Fehler umbringen müssen. „Gott hatte die Geduld“, so fährt Don Giussani fort, „uns zu sagen: ‚Handelt selbständig‘.“ Und was hat der Mensch getan? „Den Turm von Babel gebaut.“ (P. A. Sicari, „Intervista a Monsignor Luigi Giussani“, in: Communio, Nr. 98-99, März-Juni 1988, S. 195 f.) Und seitdem haben wir noch alles mögliche andere angestellt.

Und wir? Manchmal scheint es, als wollten wir den Menschen daran hindern, seine Freiheit auszuüben. Aber man kann das Risiko der Freiheit nicht ausschalten. Nicht weil es im Moment nicht in Mode wäre, die Menschen zu etwas zu zwingen, sondern weil Gott uns frei geschaffen hat. Wir sind doch die ersten, die die Methode Gottes achten wollen.

Die eigentliche Herausforderung, die uns erwartet, ist, etwas vorzuschlagen, das attraktiver ist als das, was die Menschen sonst zur Wahl haben und was die Größe ihrer Sehnsucht verkürzt. Jeder Vorschlag – und sei es auch der größte, wie der Vorschlag Jesu – muss sich der Freiheit stellen. Das bezeugt uns auch das Evangelium: „Johannes der Täufer ist gekommen, er isst kein Brot und trinkt keinen Wein und ihr sagt: Er ist von einem Dämon besessen. Der Menschensohn ist gekommen, er isst und trinkt; darauf sagt ihr: Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder!“ (Lk 7,33-34)

In diesem kurzen Abschnitt des Evangeliums kommt die ganze Methode Gottes zum Ausdruck. Angesichts eines Vorschlags können auch wir entscheiden, ihm zu folgen oder ihn zu interpretieren. Das passiert auch, wenn wir hier einen Vorschlag für unseren Weg machen. Don Giussani sagte ja über das Charisma: „Es gibt zwei grundlegende Regeln dafür, dass das Charisma gelebt wird in einem Gehorsam, der es zu einer Bewegung macht, die das Gedächtnis Christus vermitteln und bezeugen kann. Die erste ist die Einheit, als echter und alles bestimmender Bezug zu seinem Ursprung. Ohne diesen echten und alles bestimmenden Bezug zum Ursprung des Charismas wird der Gehorsam ausgehöhlt und alles auf das große weltliche und nicht christliche Prinzip der Interpretation zurückgeführt. Man kann nur einen dieser beiden Wege gehen: entweder den des Gehorsams, oder den der Interpretation. Beim Gehorsam bekräftigt man etwas, dem man begegnet ist, das größer ist als man selbst, von dem man sich eine immer größere Wahrheit und Fähigkeit zur Liebe erwartet. Bei der Interpretation bekräftigt man nichts anderes als sich selbst, sein eigenes Maß, also seine eigenen Grenzen und Fehler. Der Gehorsam lässt einen aufblühen angesichts der Gegenwart von etwas Größerem. Die Interpretation neigt dazu, auch die großzügigste und großartigste, die edelste und umfassendste Präsenz auf unser geistiges Maß zu verkürzen, auf das, was uns gut und richtig scheint. Doch dann gibt es keinen Weg mehr, dann gibt es nur noch Diskussionen, Anmaßung und Streit. Das zweite Charakteristikum [...] ist die Freiheit. Freiheit bedeutet persönliche Verantwortung, mit Verstand und Herz, indem man dem folgt, was einem angeboten wurde, indem man dieser großen Gegenwart folgt. Freiheit ist die Fähigkeit, das Geschenk anzunehmen, sich dem Geschenk zu öffnen, die große Gegenwart anzuerkennen und zu lieben. Sie ist die Fähigkeit, sich selbst und sein eigenes zweifelhaftes Maß aufzugeben.“ (Occorre soffrire perché la verità non si cristallizzi in dottrina ma nasca dalla carne, Esercizi Spirituali della Fraternità di Comunione e Liberazione, Rimini 1989, S. 48 f.)

Bei ihrem Bemühen, dem Charisma zu folgen, sollten alle die eindeutige Empfehlung von Kardinal Scola im Kopf haben: „Alle sollten möglichst eine schädliche Versuchung meiden, die in der Kirchengeschichte, bei Orden und verschiedenen Charismen immer wieder aufgetreten ist: Bei dem notwendigen ständigen Sich-Hineinversetzen in die Erfahrung und das Denken des Gründers sollte man nicht nach einer Bestätigung seiner eigenen Interpretation suchen, die man, wenn auch in guter Absicht, für die einzig angemessene hält. Diese Einstellung führt zu unendlichen Streitgesprächen und lähmenden Konflikten um die richtige Interpretation.“ (Predigt bei der Messe zum 11. Todestag des Dieners Gottes Luigi Giussani, Dom zu Mailand, 16. Februar 2016)

Das bedeutet also, dass jeder von uns dem Charisma nicht nur formal folgt, wenn er bereit ist, das zu prüfen, was ihm vorgeschlagen wird. Denn die Wirklichkeit klärt sich in der Erfahrung, nicht in unseren Gedanken und nicht in unseren Streitgesprächen. Wenn wir bereit wären, der Methode der Erfahrung zu folgen, wie sie Don Giussani immer angewandt hat, würde uns das sehr viele unnütze Diskussionen ersparen. Es nützt nichts, die Leute dazu zu zwingen, bestimmte Dinge zu tun, ohne dass sie sie frei geprüft haben. Denn man wächst nur, indem man lebt.

Giussani war sich dessen bewusst und sagte daher: „Nur durch ein gelebtes Leben kann man in einer Gesellschaft wie dieser noch etwas Neues hervorbringen. Auf keine Struktur, Organisation oder Initiative ist Verlass. Nur ein andersartiges, neuartiges Leben kann Strukturen, Initiativen und Beziehungen, mit einem Wort: alles revolutionieren.“ („Movimento, ‚regola‘ di libertà“, a.a.O., S. 44). Das sehen wir jedes Mal, wenn wir uns gegenseitig von Ereignissen und Begegnungen berichten.

Als Giussani das sagte, war er sich des Einflusses der Macht auf die Gesellschaft völlig bewusst und wusste genau, wovon ein angemessener Versuch einer Antwort auszugehen hatte. Daher antwortete er auf die Frage von Robbi Ronza, warum es „keine große kulturelle Mobilisierung für Thesen wie die, die Sie hier gerade vertreten haben“, gebe: „Das kann die Aufgabe einzelner Gelehrter und Kulturschaffender sein, aber nicht unbedingt die eines beständigen gesellschaftlichen Subjektes, wie es das Movimento Popolare [die von Mitgliedern von CL gegründete Partei] in Italien inzwischen geworden ist. Eher als die Leute in große Debatten darüber zu verwickeln, was sich in der Gesellschaft ändern sollte, müsste eine Realität wie das Movimento Popolare aktiv dazu beitragen, die Bedingungen zu schaffen, die diese Veränderungen ermöglichen. Wenn sie von einem einflussreichen gesellschaftlichen Subjekt ausgeht, dann alarmiert eine solche kulturelle Mobilisierung eher die konstitutionelle Ordnung und provoziert Reaktionen, die oft stärker sind als die Bewusstseins- und Willensbildung, die sie ihrerseits außerhalb der konstitutionellen Ordnung selbst bewirkt. Damit sind sie oft kontraproduktiv im Bezug auf die gesellschaftlichen Veränderungen.“ (Il movimento di Comunione e Liberazione. 1954-1986, a.a.O., S. 218 f.) Das bedeutet allerdings überhaupt nicht, dass man sich zurückzieht und keine Präsenz mehr darstellt, die kulturellen und operativen Einfluss in den konkreten Lebensumfeldern der Menschen hätte. Keiner hat so sehr auf einer Präsenz im Umfeld bestanden wie Don Giussani. „Und das Umfeld ist dort, wo die weite Welt ist: in der Schule, am Arbeitsplatz, auf der Straße.“ (L’io rinasce in un incontro. 1986-1987, a.a.O., S. 85) Es geht also nicht darum, sich zurückzuziehen, sondern eine ursprüngliche Präsenz zu werden, die immer authentischer wird und dem jeweiligen Kontext immer mehr entspricht. Daher müssen wir uns gegenseitig dabei helfen zu erkennen, welcher Beitrag von uns gefordert ist in diesem geschichtlichen Moment und wie wir ihn am besten leisten können.

Ziviles und moralisches Gesetz

Eines der größten Hindernisse bei dem Versuch, Klarheit zu erlangen, war die Verflechtung zwischen zivilem und moralischem Recht in unseren Debatten über diesen Gesetzesentwurf. Ein bisschen Licht könnte dabei bringen, wenn man die Beziehung zwischen Kirche und Politik klärt, zumindest in den Grundzügen. „Grundlegend bleibt dafür“, sagt Ratzinger, „das Wort Christi: ‚Gebt Gott, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist‘ (Mt 22,21). Dieses Wort hat einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Beziehung zwischen Politik und Religion eröffnet. Bis dahin galt ganz allgemein, dass das Politische selbst das Sakrale ist. [Politik und Religion waren eins.] [...] Diese Gleichsetzung des staatlichen Anspruchs an den Menschen mit dem sakralen Anspruch des göttlichen Weltwillens selbst hat das erwähnte Wort Jesu zerschnitten. Damit war die ganze antike Staatsidee in Frage gestellt, und es ist durchaus begreiflich, dass der antike Staat in dieser Bestreitung seiner Totalität einen Angriff auf die Fundamente seiner Existenz sah, den er mit der Todesstrafe ahndete: Wenn das Wort Jesu gilt, konnte tatsächlich der bisherige römische Staat so nicht fortbestehen. Zugleich aber muss gesagt werden, dass genau diese Trennung von staatlicher und sakraler Autorität, der neue Dualismus, der in ihr liegt, den Ursprung und den bleibenden Grund der abendländischen Freiheitsidee darstellt. Denn fortan gibt es zwei einander zugeordnete, aber doch nicht miteinander identische Gemeinschaften, deren keine den Charakter des Totalen hat“, und dadurch entsteht Raum für die Freiheit. „So ist jede dieser Gemeinschaften in ihrem Radius begrenzt, und auf der Balance dieser Zuordnung beruht Freiheit. Dass diese Balance oft genug gestört worden ist, dass es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit oft doch zu einer faktischen Verschmelzung von Staat und Kirche kam, die dann den Wahrheitsanspruch des Glaubens zum Zwang umfälschte und zur Karikatur des eigentlich Gewollten geraten ließ, ist damit in gar keiner Weise bestritten. [...] Nur wo in irgendeiner Form die Dualität von Staat und Kirche, von sakraler und politischer Instanz erhalten bleibt, ist die Grundvoraussetzung für Freiheit gegeben.“ (Joseph Kardinal Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik, a.a.O., S. 149-151)

Diese Dualität macht also die Freiheit möglich, und das findet seinen Widerhall auch in den Gesetzen. Daher betonte schon der heilige Augustinus den Unterschied zwischen dem zivilen Gesetz des Staates und dem göttlichen Gesetz. Er schrieb, es sei völlig einsichtig, „dass das zur Regierung von Staaten erlassene Gesetz vieles erlaubt und unbestraft lässt, was dennoch von der göttlichen Vorsehung geahndet wird. [...] Wenn auch [das zivile Gesetz] nicht alles ausrichten kann, so ist doch das, was es ausrichtet, nicht zu missbilligen.“ (Augustinus, De libero arbitrio. Vom freien Willen, Buch I, V, 13) „Mit anderen Worten“, schreibt Nello Cipriani, „das zivile Recht muss, auch wenn es sich am ewigen göttlichen Recht orientieren soll, nicht unbedingt in allem mit ihm zusammenfallen und alles verdammen und unter Strafe stellen, was dem Willen Gottes widerspricht.“ (N. Cipriani, „Il ruolo della Chiesa nella società civile: la tradizione patristica“, in: J. Joblin / R. Tremblay (Hrsg.), I cattolici e la società pluralista. Il caso delle ‚leggi imperfette‘,Ed. Studio Domenicano, Bologna 1996, S. 144)

In seinem Kommentar zum gleichen Abschnitt bei Augustinus schreibt der heilige Thomas von Aquin: „Wie der heilige Augustinus bemerkt, kann das menschliche Gesetz nicht alles Böse, was geschieht, bestrafen; denn wollte es alles Böse auslöschen, so würde vieles Gute mit hinweggenommen und so wäre der Nutzen für das Gemeinwesen nicht gegeben, der notwendig ist zum Erhalt des menschlichen Geschlechtes. Damit also kein Übel unverboten und ungestraft bliebe, musste es ein göttliches Gesetz geben, das alle Sünden verbietet.“ (Summa Theologiae, I-II, quaest. 91, art. 4) Das zivile Gesetz kann einen Zwang ausüben, der dem moralischen nicht eignet. Daher kann man in einer Gesellschaft, in der das Prinzip der beiden Gemeinschaften gilt, auf dem das Prinzip der Freiheit beruht, nicht einfach Gesetze erlassen, zu denen man nicht durch die der Zivilgesellschaft eigene Methode gelangt ist, nämlich dass sich Überzeugungen zunächst durch die Lebenspraxis bilden und dann, bei demokratischen Regierungsformen, durch die parlamentarische Debatte unter den vom Volk gewählten Vertretern.

Doch das gilt nicht erst heute, wie Kardinal Georges Cottier feststellt: „Die ersten christlichen Gesetzgeber [...] haben nicht gleich die römischen Gesetze aufgehoben, die [mit der Moral der Kirche] nicht übereinstimmende Praktiken tolerierten. Denn die Kirche hat es immer als eine weithergeholte und gefährliche Illusion betrachtet, dass man das Böse durch Gesetze vollständig aus der Geschichte verbannen könne.“ (G. Cottier, „La politica, la morale e il peccato originale“, in: M. Borghesi, Critica della teologia politica, Marietti 1820, Genua 2013, S. 302 f.)

Daher vermeidet es Papst Franziskus, wie Antonio Spadaro schreibt, „streng, das Religiöse dem Politischen aufzuoktroyieren“. Er „postuliert das Ende des konstantinischen Zeitalters und verwirft den Gedanken, ein Gottesreich auf Erden zu errichten, völlig“ („La diplomazia di Francesco. La misericordia come processo politico“, in: La civiltà cattolica, I, 209-226/13. Februar 2016, S. 215, 218). Diese Zeit ist vorbei. Nicht einmal die Gesetze, die die Französische Revolution erlassen hat und die noch einen Rest christlicher Inspiration enthielten, konnten dem standhalten. Doch genau in dieser Lage bleibt noch Raum für Initiativen. Es ist nicht so, dass wir nichts tun sollten. Die Frage ist nur, was wir tun sollten, um anziehend zu wirken, um überzeugen und Begeisterung wecken zu können mit unserem Glauben, und so die Freiheit der Menschen herauszufordern.

Das eröffnet auch Raum für die Arbeit des Politikers. In dieser Hinsicht ist höchst interessant, was Ratzinger 1981 sagte: „Der Staat ist nicht das Ganze der menschlichen Existenz [aufgrund der Dualität, von der wir vorhin sprachen] und umfasst nicht das ganze menschliche Hoffen. Der Mensch und seine Hoffnung reichen über das Gebilde Staat und über den Bereich des politischen Handelns hinaus. [...] Das entlastet den Politiker und gibt ihm zugleich den Weg rationaler Politik frei. [Es entlastet ihn, da dann nicht alles davon abhängt, dass ein Politiker Gesetze vorschlägt, die alles abdecken; denn das ist nicht der Zweck der Politik.] [...] So ist es der erste Dienst des christlichen Glaubens an der Politik, dass er den Menschen von der Irrationalität der politischen Mythen befreit, die die eigentliche Bedrohung unserer Zeit sind. Zur Nüchternheit zu stehen, die das Mögliche tut [... ], das ist freilich immer wieder schwer; die Stimme der Vernunft ist nicht so laut wie der Schrei der Unvernunft. Der Schrei nach dem ganz Großen hat den Ruch des Moralischen; die Beschränkung auf das Mögliche scheint dem gegenüber die Absage an die Leidenschaft des Moralischen und der Pragmatismus der Kleinmütigen zu sein. [Vielen erscheint das als Relativismus, als Nachgeben, als eine Konzession.] Aber in Wahrheit besteht die politische Moral gerade darin, der Verfügung der großen Parolen zu widerstehen, über denen die Menschlichkeit und ihre Chancen verspielt werden. Nicht der abenteuerliche Moralismus ist moralisch, der die Sachen Gottes selber tun will, sondern die Redlichkeit ist es, die die Maße des Menschen annimmt und in ihnen das Werk des Menschen tut. Nicht die Kompromisslosigkeit, sondern der Kompromiss ist in den politischen Dingen die wahre Moral.“ (Joseph Kardinal Ratzinger, Kirche, Ökumene und Politik, a.a.O., S. 137 ff.)

Jeder mag im Lichte dieser Worte nun seine eigene Reaktion und die anderer auf das, was zur Zeit geschieht, beurteilen. Ist die Haltung, die Ratzinger den Politikern empfiehlt, vielleicht kleinmütig? Genügt sie den moralischen Ansprüchen und denen an unser Handeln nicht? Wir haben das auch im Zusammenhang mit der Gesetzesinitiative von Cirinnà gesehen. Lesen wir noch einmal, was die Glaubenskongregation 2003 gesagt hat: „Werden homosexuelle Lebensgemeinschaften rechtlich anerkannt oder werden sie der Ehe gleichgestellt, indem man ihnen die Rechte gewährt, die der Ehe eigen sind, ist es geboten, klar und deutlich Einspruch zu erheben.“ (Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen, 3. Juni 2003, Nr. 5) Das war 2003. Und 2007 hatten alle ohne weitere Diskussionen gegen beide Projekte Einspruch erhoben. Heute akzeptiert man, dass gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften die bürgerlichen Rechte eingeräumt werden, ohne sie der Ehe zwischen Mann und Frau völlig gleichzustellen, und mit Ausnahme der stepchild adoption. Ist das kleinmütig? Wird die Kirche relativistisch, wenn sie sagt, dass das Herausnehmen der stepchild adoption aus dem Entwurf des Gesetzes zu den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften „eine richtige Hypothese“ ist (P. Parolin in: P. Rodari, „La Chiesa teme ‚altri grimaldelli‘“, in: La Repubblica, 24. Februar 2016, S. 8) und damit ein akzeptables Ergebnis, weil es das war, was man realistischerweise erreichen konnte? Das bedeutet nicht im Mindesten, dass sich die Morallehre der Kirche geändert hätte, wie einige meinen. Das Problem ist, dass man nicht auf den Zwang des zivilen Rechts zurückgreifen kann, um den Wert der Ehe wieder deutlich zu machen. Was die Kirche verteidigt hat, ist nur dies: das Zeugnis von der Schönheit der Familie.

Ein Dokument der Glaubenskongregation hält fest: „Wie Johannes Paul II. in der Enzyklika Evangelium vitae für den Fall lehrte, in dem eine vollständige Abwendung oder Aufhebung eines bereits geltenden oder zur Abstimmung gestellten Abtreibungsgesetzes nicht möglich wäre, [...] ‚es einem Abgeordneten, dessen persönlicher absoluter Widerstand gegen die Abtreibung klargestellt und allen bekannt wäre, … gestattet sein könnte, Gesetzesvorschläge zu unterstützen, die die Schadensbegrenzung eines solchen Gesetzes zum Ziel haben und die negativen Auswirkungen auf das Gebiet der Kultur und der öffentlichen Moral vermindern‘“ (Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24. November 2002, Nr. 4). Schadensbegrenzung? Ist das Relativismus? Der Text der Enzyklika Evangelium vitae fährt fort: „Auf diese Weise ist nämlich nicht eine unerlaubte Mitwirkung an einem ungerechten Gesetz gegeben; vielmehr wird ein legitimer und gebührender Versuch unternommen, die ungerechten Aspekte zu begrenzen.“ (Enzyklika Evangelium vitae, 1995, Nr. 73)

Ich wiederhole, was ich zu Beginn gesagt habe: Eine Situation wie diese kann uns helfen zu verstehen, wozu wir auf der Erde sind. Sicher können wir nicht verhindern, dass sich eine Mentalität ausbreitet, die den Werten, die Christus gebracht hat, feindlich gegenübersteht, oder dass es noch mehr Gesetze gibt, mit denen wir nicht einverstanden si