Eine AVSI-Mitarbeiterin in einem Flüchtlingscamp in  Marj el Kok, Libanon.

NEUES VON DER ENTWICKLUNGSORGANISATION AVSI

Abdullahs Wunsch. „Wir erleben keine Epoche der Veränderungen, sondern einen Epochenwandel.“ Diese Herausforderung des Papstes war Thema der diesjährigen Versammlung der Entwicklungshilfeorganisation AVSI.
Alessandra Stoppa

Dazu treffen sich einmal im Jahr die Helfer, die sonst über die ganze Welt verstreut sind, vom Libanon bis zum Süd-Sudan. Was hatten sie zu erzählen? Was bedeutet es heute, diese Arbeit zu tun?

„Hier und heute unsere Arbeit zu verrichten, ist noch wichtiger als damals, als wir angefangen haben“, sagt Marco Perini. Er hilft seit sieben Jahren Tag für Tag Menschen im Libanon, die „heute noch mehr Not leiden als gestern“. Syrer, Iraner, Palästinenser, die aus ihrer Heimat geflohen sind und nie in Westeuropa angekommen. Sie sind immer noch im Libanon, hausen in Zelten und haben genau die gleichen Bedürfnisse wie am Anfang (Essen, Treibstoff, Medizin) und noch weniger Hoffnung. „Als Flüchtling zu leben ist sehr schwierig. Man verliert jegliches Vertrauen“, sagt Perini, der nach der AVSI-Versammlung gleich wieder in den Libanon zurückgekehrt ist. Er ist einer von 80 Entwicklungshelfern aus der ganzen Welt, die sich vom 15. bis 19. Februar in Mailand getroffen haben. Fünf Tage gemeinsame Arbeit und Austausch mit externen Gästen, Experten, Wissenschaftlern und Journalisten.

Als Thema stand über dem Treffen, was Papst Franziskus schon mehrfach gesagt hat: „Wir erleben keine Epoche der Veränderungen, sondern einen Epochenwandel.“ Was bedeutet es, gerade in einer solchen Zeit Entwicklungshelfer zu sein? Warum entscheidet sich jemand in einer Welt wie der heutigen, diese Arbeit zu tun? Insbesondere an Orten, an denen die Not zu-, statt abnimmt und die eigenen Kräfte sicher nicht ausreichen, sie abzuwenden. Oft geht es um Leben und Tod, aber nicht nur, weil Leute umgebracht würden. „Viele vegetieren so vor sich hin und sind menschlich schon tot“, sagt Perini. Tag für Tag sieht er in den Flüchtlingscamps Leute, die vor ihren Zelten den Tag totschlagen, mit leerem Blick, vielleicht eine Zigarette oder einen Kaffee in der Hand. Die naheliegende Lösung wäre weiterzuziehen, übers Mittelmeer und durch die Balkanstaaten. „Oder beim IS anheuern“, sagt Perini. „Nicht, dass diese Männer Terroristen sind ... Aber es ist immerhin eine Alternative. Irgendetwas muss man ja tun.“ Riskieren, dass die eigenen Kinder im Meer ertrinken, oder sie auf den Weg durch den Matsch des Balkans schicken, damit sie dann vielleicht an einem Stacheldrahtzaun scheitern?

Zenab und das Camp
Hilfsgüter sind notwendig und unentbehrlich. „Aber noch wichtiger ist es für die Menschen, die Hoffnung und Würde wiederzuerlangen, die sie verloren haben. Wir versuchen, Lebensmomente zu schaffen, in denen ein Kind zu dem wird, was es ist: ein Kind.“ Deshalb gibt es jeden Tag zwei Stunden Schule, mit Regeln und Hausaufgaben. Und für die Männer die Möglichkeit zu arbeiten und am Abend zu ihrer Familie zurückzukehren und wieder Vater zu sein: müde, aber mit ein paar Dollar in der Tasche. „Es ist sehr schwierig, eine Arbeitsstelle zu finden“, erklärt Perini. „Darum treiben wir die Projekte cash for work voran. Das sind gemeinnützige Projekte wie die Ausbesserung von Gehwegen und Straßengräben oder das Säubern der Wälder. Das ist auch wichtig für das Zusammenleben. So werden die Flüchtlinge eine Hilfe für die libanesische Bevölkerung, die sie aufgenommen hat.“ Außerdem ist es etwas anderes als die „humanitäre Hilfe“, die nur 200 Dollar pro Monat vorsieht. „Das führt nicht nur dazu, dass die Leute abhängig werden, sondern auch zu einer gewissen Entmenschlichung. Mit cash at work bekommen sie zwar auch nicht viel mehr Geld, aber es ist doch etwas Anderes, weil sie es selber verdienen.“

„Wir wollen herausfinden, was wirklich wichtig ist“, erklärt der Generalsekretär von AVSI, Giampaolo Silvestri. „Die Herausforderungen annehmen, vor die unsere Zeit uns stellt. Wir können nicht einfach nur zuschauen. Wenn wir nicht die Art, wie wir arbeiten und Entwicklungshilfe betreiben, ändern, dann hecheln wir ständig dem hinterher, was geschieht. Wer nichts verändert, stirbt Stück für Stück. Wir wollen diesen Epochenwandel mitgestalten. Mit unseren Vorschlägen, die die Person ins Zentrum stellen, den eigentlichen Motor der Entwicklung.“

Somalische Flüchtlinge im Lager Dadaab in Kenia

Josiane Khalif war auch bei dem Treffen in Mailand. Sie arbeitet als Entwicklungshelferin für AVSI im Libanon, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Krieg kennt sie nur zu gut. Doch so eine Situation wie heute hat auch sie noch nicht erlebt: „Selbst wenn morgen dieser Konflikt zu Ende wäre, was würden diese Leute dann tun? Wohin würden sie gehen? Was würde aus einer Generation von Analphabeten?“, fragt sie. „Deshalb setzten wir auf Entwicklung durch Arbeit und Bildung. Das wichtigste sind die Zukunftsaussichten.“ AVSI möchte vor allem die Jüngeren auf die Zeit vorbereiten, wenn sie nach Syrien zurückkehren können. Daher gibt es berufsbildende Kurse in Landwirtschaft, Konditorei, Metzgerei und Informatik. Insgesamt betreut AVSI im Libanon ungefähr 70.000 Menschen.

Zenab ist aus Idlib im Nordosten Syriens geflohen. Sie hatte gleich Arbeit gefunden bei einem Agrarbetrieb im Libanon. Dort musste sie Kaffee kochen und putzen. Als sie von den Kursen erfuhr, kündigte sie. „Sie hat die Landwirtschaftsausbildung gemacht“, berichtet Perini, „und hat sich dann wieder in der gleichen Firma beworben. Heute arbeitet sie dort als Landschaftsgärtnerin, eine spezialisierte Fachkraft. Das ist der richtige Weg.“ Deshalb ist Perini schon sieben Jahre dort. „Das ist für mich kein Opfer. Mein Leben ist sehr schön. Wenn ich dazu beitragen kann, dass Zenab nicht als Flüchtling leben muss, dann lohnt es sich, mein Leben einzusetzen. Und ich bekomme viel mehr zurück, als ich gebe.“

Wie man am besten hilft, muss immer wieder hinterfragt werden. „Die Arbeit verändert sich jeden Tag“, sagt Khalif. Man plant für ein paar Monate, und dann werden es Jahre. Das bedeutet, dass wir hier bei den Leuten bleiben und gemeinsam mühsam versuchen, uns eine Zukunft für sie vorzustellen. Ich würde diese Arbeit nie tauschen wollen, denn sie gibt mir sehr viel. Sie hat mich sehr verändert.“ Nichts könne sie mehr enttäuschen, sagt sie. Nichts sei selbstverständlich. „Wenn man diese Kinder sieht, in den dunklen Zelten, die Jugendlichen, die nicht sprechen, weil sie so Schreckliches erlebt haben ... Wir versuchen jeden einzelnen zu begleiten. Aber wir schaffen es nicht mit allen.“ „Frustriert sie das nicht? Ist sie nicht manchmal überwältigt von der schieren Größe der Aufgabe? „In solchen Momenten drehe ich eine Runde über das Gelände“, sagt Khalif. „Dann bleibe ich bei den Leuten stehen und rede mit ihnen. Das hilft immer, es gibt mir Zuversicht. Ich sehe, dass sie mich lieben. Einmal bekam ich einen Anruf aus dem ersten Camp, in dem wir zuerst gearbeitet haben: ‚Du musst kommen, es gibt Probleme.‘ Ich fuhr hin, und es war überhaupt nichts passiert. Sie wollten mich einfach sehen!“

Simone Manfredi stammt aus Catania. Er ist 31 Jahre alt und arbeitet für AVSI in Barghel, einem Dorf im Bundesstaat Lakes im Südsudan. Die Dorfgemeinschaft lebt von kleinen landwirtschaftlichen Projekten, die AVSI unterstützt. „Wir betreiben im Auftrag der UNO auch ein Internat, in dem wir berufspraktische Fähigkeiten in Fächern wie Landwirtschaft, Bauwesen oder Schneiderei vermitteln.“ Als er schon auf dem Weg nach Italien zum AVSI-Meeting war, musste sein Team wegen eines Angriffs in Sicherheit gebracht werden. „Eine Auseinandersetzung zwischen Clans. Sie kamen aus einem der Nachbardörfer. Um sechs Uhr morgens begann der Angriff und dauerte bis mittags.“ Die Leute sind in den Dschungel geflohen, aber es gab doch 20 Tote. „Dann griffen die Kämpfe auch auf unser Compound über und die herumfliegenden Kugeln haben einige unserer Studenten verletzt.“ Die Angreifer waren Jugendliche. Hier hat fast jeder eine Kalaschnikow und oft geht es um Stammesfehden. „Das große Problem ist, dass es keine stabile staatliche Autorität gibt. Statt bisher zehn wird es bald 20 Bundesstaaten geben, und deren Namen müssen auch erst noch erfunden werden. Diese Anarchie wird natürlich ausgenutzt.“ Hier gibt es keinen richtigen Krieg, aber die Gewalt zwischen den Clans fordert mehr Opfer als in den drei Bundesstaaten im Norden, wo Krieg herrscht. „Es ist ein völlig unvorhersehbarer Konflikt“, sagt Manfredi. „Es können jederzeit und überall Angriffe kommen.“



In all dem Chaos versucht AVSI den Jugendlichen zu helfen, dass sie arbeiten können, ihr Schulgeld bezahlen und in einem einigermaßen sicheren Ambiente leben. „Die Regierung hat die Schule gelobt und die Bevölkerung schätzt sie sehr. Im Bürgerkrieg 2013 mussten alle internationalen Organisationen ihre Projekte aufgeben und das meiste ging verloren. Aber als das Team von AVSI hierher zurückkam, war alles noch da. Die Leute hatten in der Schule geschlafen, um sie zu schützen. Es motiviert mich sehr, wie die Leute uns zugetan sind.“

Keine Schemata. In Kenia ist AVSI seit 30 Jahren tätig. Dort gibt es etwa 10 Schulen, die AVSI gebaut hat und die heute von Einheimischen geleitet werden. Und Dutzende weitere Projekte. Eines ist die Arbeit im größten Flüchtlingslager der Welt mit 600.000 Menschen in Dadaab. Es existiert seit 1992. Ganze Generationen wurden dort geboren. Für sie hat AVSI Schulen gebaut und Lehrer ausgebildet (fast alle sind Muslime). Heute werden hier 60.000 Kinder und Jugendliche unterrichtet.

„Wir sind gewohnt, immer mit einer Zukunftsperspektive zu leben, diese Leute nicht“, sagt Andrea Bianchessi, der Verantwortliche von AVSI in Kenia. „Die Frage, die einem immer mehr ins Herz dringt, ist: Wofür lohnt es sich zu leben?“ In Afrika ist nicht alles so einfach wie in Europa. Die meisten Menschen haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. „Wenn es dir hier schlecht geht, dann kommt kein Krankenwagen.“ Außerdem besteht ständig die Gefahr von Attentaten. „Die Leute sagen, man müsse jeden Moment damit rechnen. Das hilft mir, meine Tage und die Begegnungen, die ich mache, ernsthafter zu leben. Meine Arbeit gefällt mir sehr gut, denn es geht immer um das eine: den konkreten Menschen zu begleiten.“



Ignatius kommt aus dem Slum von Kibera. Seine Mutter ist an Aids erkrankt. Er war einer der ersten Schüler an der Little Prince Schule in Nairobi. Im Moment schreibt er seine Abschlussarbeit in Politikwissenschaften. Zum 15. Jahrestag der Schule hat er vor allen eine kleine Rede gehalten. Er sprach davon, wie schwer ihm das Lernen immer gefallen sei, aber auch, dass er immer Unterstützung erfahren habe. Er beendete seine Ansprache mit den Worten: „Ich möchte Präsident von Kenia werden“.

Auch das gehört zu der neuen Perspektive. Entscheidend ist nicht, dass es ein Happy End gibt, sondern dass man „einen Teil des Lebensweges zusammen geht“, sagt Bianchessi. „Doch eine Wunde bleibt immer offen.“ Er denkt zum Beispiel an Abdullah, einen Jungen, der mit seiner Familie aus Somalia geflohen ist und jetzt im Lager Dadaab aufwächst. Eines Tages kam er und sagte: „Demnächst findet in Nairobi das nationale Treffen der Pfadfinder statt. Ich möchte gerne hingehen. Nur weil wir Flüchtlinge sind, dürfen wir das nicht?“ Pause. „Ich habe sogar die Pfadfinderabzeichen ...“ Stolz zeigte er auf seine Schulter. „Warum kann ich nicht hingehen?“

Andrea weiß sehr gut, dass die Regierung es aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt, das Camp zu verlassen. Aber das ist keine Antwort. Er hat keine Antwort, außer dass er dort bei den Menschen ist. „Wir müssen lernen, uns jeden Tag zu verändern, ohne Schemata. Und für alles offen sein.“

Für weitere Informationen: AVSI und Support International