AVSI IN SYRIEN: ZEUGNIS VON ANTON BARBU

AVSI ist eine von 16 Nichtregierungsorganisationen, die in Syrien offiziell arbeiten dürfen. Einer ihrer Mitarbeiter, Anton Barbu, berichtet, was sie dort für die Bevölkerung tun. „Was die Leute brauchen, entscheiden nicht wir.“
Alessandra Stoppa

„Ich arbeite da, wo der Krieg etwas Normales ist“
Anton Barbu ist Rumäne. Er ist 29 Jahre alt und vor ein paar Monaten nach Damaskus gegangen, um dort ein Büro für AVSI aufzubauen. Damit wohnt er in einer halb zerstörten Stadt, in ständiger Gefahr. Täglich gibt es Mörser- und Granaten-Einschläge. „Man weiß nie wann und wo“, sagt er. Eines Morgens, als er ins Büro ging, explodierte eine Bombe nur 100 Meter von ihm. Barbu erschrak fast zu Tode und hatte noch stundenlang ein Pfeifen im Ohr. Aber neben ihm aß ein junger Mann ungerührt seine ‚manaish‘, eine Art Pizza, weiter. „Hier ist der Krieg etwas Normales“, meinte er.

Im Moment gibt es eine brüchige Waffenruhe und man weiß noch nicht, ob das wirklich eine Wende in diesem Krieg bedeutet. Aber sicher ist, dass die Menschen nicht mehr lange durchhalten werden. Die syrische Lira ist komplett entwertet. „Wenn ein Regierungsangestellter 2011 ein Gehalt von 400 $ bekam, dann sind das heute 60 $. Das reicht nicht einmal, um die öffentlichen Verkehrsmittel zu bezahlen. Man geht in ein Geschäft, und vier Tage später existiert es nicht mehr.“ Auf der Straße sieht man fast nur noch Frauen und Kinder. Die Männer sind alle in den Kampf gezogen. „Und die Zahlen sind wirklich erschreckend“, sagt Barbu. „Von den ehemals 20 Millionen Einwohnern Syriens brauchen heute 13,5 Millionen humanitäre Hilfe, darunter 6 Millionen Kinder. Das sind mehr als 60 Prozent der Bevölkerung. Mehr als 4 Millionen sind ins Ausland geflohen. Auch die Binnenflüchtlinge werden immer mehr. Allein in Damaskus und Umgebung leben inzwischen mehr als zwei Millionen. Fünf Jahre dauert der Krieg jetzt schon, und mehr als 250.000 Menschen haben ihr Leben verloren.

Und was macht AVSI in Syrien?
Wir sammeln Spenden für die christliche Gemeinschaft in Aleppo und unterstützen die Franziskaner dort, die jeden Tag 200 Obdachlose versorgen. Da ist die Lage ja noch schlimmer, die ganze Stadt ist unter Beschuss. Hier in Damaskus arbeiten wir mit dem italienischen Krankenhaus, mit den Schwestern vom Guten Hirten in Bāb Tūmā, mit der UN und mit dem Roten Halbmond zusammen. Wir konzentrieren uns auf die Grundbedürfnisse. Wir setzen zum Beispiel Toiletten, Wasserleitungen und Brunnen für mehr als 5.000 Menschen in Sahnaya instand. Das ist eine Stadt im Süden von Damaskus, die sich in der Hand von Regierungstruppen befindet. Vor dem Krieg lebten dort 100.000 Menschen, heute sind es 350.000.

Anton Barbu

Haben die Menschen in Syrien das Gefühl, dass die Welt sie im Stich lässt?
Das ist eine gute Frage. Ja, die Leute sind verzweifelt. Auch weil das Land aus politischer Sicht ziemlich isoliert ist, mit Ausnahme von Iran und Russland. Das Embargo verschlechtert die Situation zusätzlich. Das syrische Volk hat kein normales Leben mehr. Man wird es 30, 40 Jahre lang unterstützen müssen. Die Leute in Europa verstehen das oft nicht. Sie sagen: „Das sind doch keine Flüchtlinge. Die haben doch ein I-Phone, ein Samsung Galaxy …“ Sie sind eben keine Wirtschaftsflüchtlinge. Es sind Freiberufler, Arbeiter, Studenten, die vor einem bewaffneten Konflikt fliehen. Sieben von zehn syrischen Kindern kennen nichts anderes als Krieg. Wenn viele Leute sich entschließen wegzugehen, dann ist das nur zu verständlich. Im Osten haben sie die Terroristen des IS, im Westen liegt Europa mit der Hoffnung auf ein sicheres Leben und auf Arbeit.

Sehen Sie eine realistische Lösung für den Konflikt?
Die Lösung muss auf jeden Fall eine politische sein. Ein Abkommen zwischen den Regierungsgruppen und den moderaten Rebellengruppen. Das sind sehr viele, nach unseren letzten Informationen etwa 2.700 verschiedene Gruppen. Aber die meisten sind nicht organisiert. Man sollte mit denen verhandeln, die dazu bereit sind. Die Terroristen lehnen jegliche Verhandlung ab. Sie kämpfen gegen die ganze Welt, nicht nur gegen Syrien. Das große Kalifat, das der IS anstrebt, umfasst Italien, Spanien, die Balkanländer, Frankreich …

Wie funktioniert die humanitäre Hilfe im Land?
Auf zweierlei Art: erstens direkt vor Ort durch die 16 internationalen Nichtregierungsorganisationen (wir sind eine davon), die von der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Zonen zugelassen sind, und zweitens als grenzüberschreitende Operationen. Aus den Nachbarländern werden Hilfskonvois geschickt, aber man weiß nie genau, wohin und zu wem die gelangen. Alle großen Hilfsorganisationen der Welt schicken Konvois, doch sie können nicht direkt in Syrien arbeiten. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Hilfsleistungen auf etwa 2 Milliarden Euro, was etwa 25 Prozent des Bedarfs abdeckt.

Was hat Sie am meisten beeindruckt in den letzten Monaten?
Die Frauen, die ich auf der Straße treffe. Sie sind verzweifelt. Sie wissen nicht, was sie ihren Kindern zu essen geben sollen. Aber sie betteln nicht, das ist nicht ihre Art.

Was gibt Ihnen die Kraft, hier zu arbeiten?
Die Arbeit selbst. Wenn ich sie gut mache, dann helfe ich den Menschen. Wenn ich es nicht mache, vertue ich eine Chance für sie. Aber eines ist ganz wichtig: dass die Leute, denen man hilft, ihre Würde bewahren können. Humanitäre Hilfe ist etwas anderes als logistische Hilfe. Es geht nicht darum, zentnerweise Reis von der WHO zu kaufen und zu verteilen. Das ist nicht unsere Art. Wir versuchen, den Menschen zu helfen, indem wir sie in die Projekte einbinden, sie zu Protagonisten machen. Ein Beispiel: Ich habe vier Jahre im Flüchtlingslager Dadaab gearbeitet. Jetzt konnte ich nach Damaskus gehen, weil unsere Mitarbeiter dort sich so weit entwickelt haben, dass sie selbständig arbeiten können.

Wie ist die Situation der christlichen Gemeinschaft in Aleppo, die Sie unterstützen?
Das Wichtigste ist die Präsenz der Franziskaner. Sie sind der Bezugspunkt. Sie bleiben dort und das ist das Allerwichtigste für die Leute. Hier in Damaskus ist die katholische Gemeinschaft klein. Hier leben vor allem griechisch-orthodoxe Christen, Maroniten, Kopten. Aber wir sehen eine große Einheit unter den Gemeinschaften, die durch die Not noch gestärkt wird.

 Warum sind Sie persönlich nach Syrien gegangen?
Irgendjemand musste es tun. Meine Frau lebt in Rumänien, und ich weiß nicht, wann ich sie hierher nachholen kann. Wenn der Krieg zu Ende ist, wird der schwierigste Teil der Arbeit beginnen: der Wiederaufbau. Das wird sehr schwer werden. Wir wollen hoffen, dass die großen Geldgeber, damit meine ich die UNO, die Regierungen der einzelnen Länder, dann auch weiterhin Hilfe leisten. Wir erleben die schlimmste Krise weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg. Mir ist klar, dass es für kleine Spender nicht besonders attraktiv ist, Geld für einen Stromgenerator zu geben. Das ist nicht so, als wenn ich das Foto eines Kindes bekomme, das dank meiner Hilfe zur Schule gehen kann und mir einen Brief schreibt. Aber was die Leute brauchen, entscheiden nicht wir: