Nursia. Die Basilika und die Statue des heiligen Benedikt nach dem Erdbeben vom 30. Oktober 2016. ©Giuseppe Bellini/Getty Images

Erdbeben in Italien: WEIHNACHTEN IN NURSIA

Die Stadt des heiligen Benedikt ist zum Symbol für viele geworden, die von den Erdbeben in Mittelitalien betroffen sind. Mehrere zehntausend Menschen mussten evakuiert werden.
Alessandra Stoppa

„Aber Jesus ist auch fern von zuhause geboren“, meint der Pfarrer. Er hat alles, was wir jetzt erleben, auch durchgemacht.“

Tausende und Abertausende von Erdstößen hat es in den letzten Wochen gegeben. Die Erde lässt die Bewohner von Umbrien, den Marken, Latium und Abruzzen nicht zur Ruhe kommen. Erst vor wenigen Tagen erlag eine Frau den Verletzungen, die sie in der Nacht zum 24. August davongetragen hatte. Für die Chronik ist sie Opfer Nummer 299. Ihr Name ist Franca. Helfer hatten sie aus den Trümmern eines Hotels in Amatrice gezogen. Dort kämpfen die Menschen weiter mit den Folgen des Erdbebens. Doch der Notstand hat sich inzwischen auf viele Dörfer und Gehöfte in den Monti Sibillini ausgeweitet. Dort haben besonders die Erdbeben vom 26. und 30. Oktober, die stärksten, die seit 1980 gemessen wurden, viel zerstört.

Nursia ist zum Symbol für das Leid all der 26.000 Evakuierten geworden, die Weihnachten nicht zuhause verbringen werden. Die menschenleere Stadt sieht aus wie ein Schlachtfeld. Das Beben hat das Rückgrat des Apennin empfindlich getroffen. Der Boden hat sich teilweise um 70 Zentimeter gesenkt. Und bis heute haben die Nachbeben nicht aufgehört. Das Nationale Institut für Geophysik registriert immer noch mehrere Stöße pro Tag.

DAS GESICHT VON ANNINO. Doch viele wollen die geliebte Erde nicht verlassen, die ihnen so viel Schönes wie Schweres beschert. Sie schlafen also in Wohnwagen oder Zelten, während der Winter immer näher rückt. So hatten sie sich Weihnachten natürlich nicht vorgestellt. „Morgens wachen wir alle auf und stellen uns in die Schlange fürs Bad“, erzählt Silvana Santucci, die aus Ancarano evakuiert wurde. „Die Tage gehen dahin mit dem Sortieren der großen Mengen an Sachspenden, die ankommen.“ Doch Weihnachten wollen sie unbedingt feiern. „Wir haben zwar sehr viel verloren“, sagt Alessandra Rossi aus Nursia, „aber nicht unsere Würde.“ Ihr ist kalt, sie hat wenig geschlafen. Aber sie hält ihren Posten zwischen all den Medikamenten. Ein Camper steht jetzt an der Stelle, wo früher die Apotheke lag im Zentrum. Mit fünf Jahren erlebte sie das Erdbeben von 1979. Damals sah sie, wie ihr Vater die Ärmel hochkrempelte. „Jetzt bin ich dran“, meint sie. Und dankt all jenen, „die ihr Möglichstes für uns tun: den Feuerwehrleuten, den freiwilligen Helfern, dem Zivilschutz, allen ...“ Aber die größte Hilfe für sie ist das Gesicht von Annino. Ein alter Mann, den sie schon als Kind kannte. Jeden Morgen, wenn sie ihre Camper-Apotheke aufsperrt, ist er schon da. „Einfach um mir ‚Ciao‘ zu sagen. Er kommt, um mich zu begrüßen. Verstehst du das? Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Er kommt jeden Tag!“

Die Klarissinnen wurden nach Trevi evakuiert. Sie leiden sehr darunter, dass sie fern von ihrem Kloster sind. Aber das größte Geschenk zu Weihnachten ist für sie, dass die Bevölkerung von Nursia so auf ihre Rückkehr wartet. „Dass sie uns so vermissen, damit hatten wir nicht gerechnet“, sagt die Äbtissin, Mutter Gabriella Babalini. Sie kennt die Vorbehalte gegenüber dem kontemplativen Leben sehr gut, das viele für „unnütz“ halten. Aber nach dem Erdbeben hat ein Polizist zu ihr gesagt: „Jetzt erst verstehe ich, wie wichtig es ist, dass Sie hier am Ort sind.“

Don Luciano Avenati stammt aus Nursia und ist heute Pfarrer von Preci, Campi und Ancarano. Aus diesen Orten ist „keiner, aber auch wirklich keiner weggegangen“, erklärt er. Das beeindruckt ihn. „Schon nach dem Erdbeben im August haben sich alle ­– ohne auf die Hilfe der Behörden zu warten – darangemacht, neue Gebäude zu errichten. Die sind heute ein Segen für uns.“ Als nach dem Beben vom 30. Oktober Premierminister Renzi zu Besuch kam, haben alle ihn angefleht: „Lassen Sie uns hier, vertrauen Sie uns.“ Don Luciano lebt wie die meisten in einem Wohnwagen, nachdem er zunächst einige Zeit in seinem Auto „gewohnt“ hatte. Jeden Tag fährt er durch die umliegenden Täler, um seine Leute zu besuchen. „Das Wichtigste ist die Präsenz. Das bedeutet für mich das P in ‚Priester‘.“ Ähnlich sieht das wohl auch der Papst, der am 4. Oktober zu einem Überraschungsbesuch kam. Außerdem betet er unermüdlich für die betroffenen Menschen und ruft häufig an, um zu sagen, dass er „an uns denkt“. Darüberhinaus hat er gratis „seine“ Feuerwehr geschickt und eine Gruppe von Restauratoren aus den Vatikanischen Museen, die sich um die Kunstschätze kümmern sollen.

EINE VERPFLICHTUNG. David Lanzi besitzt eine Firma, die regionaltypischen Schinken, Wurst und Käse herstellt. Er hat schon am 31. Oktober die Arbeit wieder aufgenommen. Auch die Erdbeben von 1972, 79 und 97 hat er schon erlebt. „Ich habe mich daran gewöhnt. Erst zerstört das Erdbeben alles. Dann beginne ich wieder von vorne.“ Wir erreichen ihn am Telefon. Er hat nicht viel Zeit. Nur noch kurz: „Es wird hart werden. Aber ich werde niemandem entlassen.“ Eines hört man von allen: „Wir sind Leute der Berge.“ Sie sind hart im Nehmen. Und es eint sie der christliche Glaube, der hier eng mit der Geschichte der Dörfer und der Familien verwoben ist. Jetzt müssen sie einmal mehr von vorne anfangen. „Ich will Ihnen mal was sagen: Es ging uns gut, wir haben auf großem Fuß gelebt. Der Tourismus hier lief sogar in der Krise sehr gut. Aber ich glaube, das war uns nicht bewusst“, sagt Gianpaolo Stefanelli. Bis vor zwei Jahren war er Bürgermeister von Nursia. Einer seiner Söhne lebt in Spoleto, ein anderer in Rom. „Aber ich bleibe hier. Ich glaube, ich habe eine Verpflichtung. Ich schulde dem Leben etwas, falls Sie verstehen, was ich meine. Und das will ich einlösen.“

FERN VON ZUHAUSE. Don Avenati sagt seinen Leuten: „Das Erdbeben hat uns zwar unsere Häuser genommen, aber dafür werden wir nun eine große Familie. Wenn man nur für sich alleine lebt, dann leidet man in der Not umso mehr.“ Daher hat der Bischof von Spoleto-Nursia, Renato Boccardo, dort, wo die meisten obdachlos geworden waren, zunächst einmal Gemeinschaftsräume bauen lassen, mit Hilfe der Caritas, der Pfarreien vor Ort und freiwilliger Helfer. In Ancarano haben die Evakuierten selbst entschieden, das größte Zelt als Kirche zu nutzen, weil sie keine mehr hatten. Jetzt bereiten sie sich auf Weihnachten vor. Don Avenati meint: „Jesus ist auch fern von Zuhause geboren. Er hat also alles, was wir jetzt erleben, auch durchgemacht. Jetzt spüren wir noch mehr, dass Er unser Leben rettet. Er ist hier sehr präsent.“