Amatrice nach dem Erdbeben. ©ANSA/ ALESSANDRO DI MEO

ERDBEBEN IN ITALIEN:
ANGST UND FRAGEN

Ein Besuch bei den Erdbebenopfern von Accumoli und Tolentino und dem Bürgermeister eines Geisterdorfs. Worauf bauen sie noch?
Paolo Perego

„Da stand mein Haus.“ Luigi, 84 Jahre alt, bringt das Wort „Haus“ kaum heraus. Mit dem Finger fährt er über ein Foto, das sein Dorf Grisciano, einen Ortsteil von Accumoli, vor hundert Jahren zeigt. Vor sich hat er eine Schachtel mit noch ein paar anderen Bildern, die er mithilfe der Feuerwehr aus den Trümmern seines Hauses gerettet hat. „Ich wollte zurück und noch mehr holen, aber nach den neuen Erdstößen geht das wohl nicht mehr.“

Luigi lebt jetzt mit etwas mehr als 200 Leuten aus seinem Dorf in einem Hotel an der Adriaküste, dem Relax-Hotel in San Benedetto del Tronto. „Aus Accumoli, Amatrice, Arquata, Pescara del Tronto ... Sie sind alle hier seit August“, sagt Annamaria Bernardini, die Besitzerin des Hotels. Viele der 26.000 Opfer der Erdbeben wohnen jetzt in Hotels, Feriendörfern oder Ferienwohnungen an der Adria. Die Kinder gehen dort in die Schule. „Weihnachten steht vor der Tür. Wir werden die Tage hier verbringen müssen“, sagt eine Dame und betrachtet nachdenklich den Christbaumschmuck in Form eines Rentierschlittens, den jemand vom Markt mitgebracht hat.

Man wartet. Luigi schaut weiter seine Fotos an. Sie zeigen ihn auf Skiern, mit dem Fahrrad, beim Abendessen mit Frau und Sohn. „Carlo ist vor elf Jahren gestorben. Leukämie“, erklärt er. „Er war 34.“ Nun ist Luigi allein. In der Schachtel liegt auch ein Zettel. Darauf steht ein Datum: 24. August 2005. Das ist die erste Seite des Tagebuchs, das Carlo während der Therapie geschrieben hat. Die erste und einzige. „Es gibt immer noch Momente, in denen ich Angst habe vor dem Tod. Das Einzige, was mich tröstet, ist das Evangelium: ‚Furcht überkam ihn‘. Für einen Christen gibt es kein Schicksal. Es gibt nur den Willen Gottes und den eigenen freien Willen. Nur so kann man Leid und Krankheit annehmen. So kann man weitermachen“, sagt Luigi.

ristiano (stehend, zweiter von links) mit den Menschen, die in seiner Garage schlafen (unten).

Auch Annamaria liest. „Vor kurzen ist mein Mann gestorben. Es war eine schwere Zeit. Dann kam das Erdbeben. Meine Kinder und ich haben das Hotel für diese Leute geöffnet. Jetzt sind wir wie eine große Familie. Das hilft auch mir.“ An der Bar sitzen ein paar ältere Damen beisammen. Eine hat sich in der Erdbebennacht die Hüfte gebrochen. „Ich warte. Ich muss eine Spritze bekommen, gleich kommt der Arzt.“

So ist es hier. Man wartet. Simona wartet auf ihren Mann, einen Maurer. „Er ist nach Accumoli gefahren. Keine Ahnung, was er da macht. Viele Männer fahren jeden Tag dorthin.“ Der Sohn ist in der Schule. Eine Freundin kommt vorbei. Sie wollen „ein bisschen Shoppen gehen“ auf dem Markt. Wir Frauen sind besser im „Weitermachen“, meint Simona. „Die Männer sorgen sich darum, dass ihre Familie Brot und ein Dach über dem Kopf hat und in Sicherheit ist. Aber wenn das alles zusammenbricht ...“, überlegt Annamaria. Sie geht in den umgebauten Frühstücksraum, in dem jetzt Sofas, Waschmaschinen und eine Nähmaschine stehen. Anna steckt gerade das Kabel ein. Um sie herum stehen ein paar ältere Damen und diskutieren darüber, wie man bei einer Singer den Faden einfädelt.

Dalila ist noch jünger. Sie hat einen zehnjährigen Sohn und lebt mit einem LKW-Fahrer zusammen. Sie sitzt vor der Nähmaschine und will einen Vorhang umsäumen. Ein bisschen Schmuck und Make-up können nicht über ihre Erschöpfung und die schlaflosen Nächte hinwegtäuschen. „Sie haben mich im Schlafanzug aus den Trümmern gezogen. Ich habe gar nichts mehr. Mein Restaurant und mein Haus sind weg.“ Hier in San Benedetto hat sie schon Arbeit gesucht, als Konditorin. Aber es ist Nebensaison. Alle haben ihr gesagt: „Wenn wir jemanden brauchen, rufen wir Sie an.“ Sie fragt sich: „Wie soll ich das machen? Wenn der Kleine etwas braucht? Und ich würde auch gerne mal wieder zum Friseur gehen ...“

 Letizia und Roberto, Camerino.

Auch Palmerino wartet. „Auf ein Paket.“ Nach einem kurzen Händedruck erzählt auch er, wie die meisten hier, sein Leben. Nicht, was in der Nacht des Erdbebens passiert ist, sondern was vorher war. Ihm ist wichtig, dass „sein Leben nicht mit den Mauern eingestürzt ist“. Er ist pensionierter Polizist, war bei der Bereitschaftspolizei, dann bei der Verkehrspolizei. Und er erzählt von seinem Enkelkind. „Ich bin auch aus Grisciano.“ Er schwärmt von der Griscia, der weißen Variante der Amatriciana-Soße. „Hier lernen wir einander kennen“, sagt er. „Es ist nicht einfach, den ganzen Tag mit anderen zusammen zu sein. Da kommen alle Macken zum Vorschein. Und am Schluss landet man immer beim Erdbeben. Aber es sind auch ganz unerwartete Beziehungen entstanden, mit Leuten, die ich vorher nicht einmal gegrüßt hätte.“ Er jagt Wildschweine und liebt seine Heimat, wie viele hier in den Bergen. „Es ist ein Paradies.“ Am 26. November kann er leider nicht, er muss zur Jagd. Am 26. November findet die Colletta Alimentare statt, die jährliche Sammlung von Lebensmittelspenden für Bedürftige. Jemand ist hier im Relax-Hotel vorbeigekommen und hat Freiwillige dafür gesucht. Annamaria hat schon eine gut gefüllte Liste. „Falls ich am Samstag doch hier bin, mache ich mit“, sagt Palmerino.

50 Kilometer weiter spricht auch Cristiano, 43 Jahre alt, vom „Paradies“ im Blick auf die Berge um Tolentino im Valle del Chienti. Mit seiner Frau Manuela, seinen drei Kindern und seiner Schwiegermutter wohnt er in der „Contrada delle Grazie“,  wie er stolz erklärt. In dieser Gegend gab es im August nur wenige Schäden, aber das Beben vom 30. Oktober hat viele Gebäude beschädigt und die Einwohner in Angst und Schrecken versetzt. 11.000 Menschen haben ihre Häuser verlassen, also die halbe Stadt.

„Unser Haus ist nicht beschädigt, aber wir sind auf die Veranda gezogen“, sagt Cristiano. Er selbst schläft im Camper. „Es gab Nachbarn und Freunde von mir, die im Auto geschlafen haben.“ Was macht man da? „Wenn Jesus anklopft, sollen wir dann nicht aufmachen?“, hat er Manuela gefragt. Also räumte er die Garage aus, einen geräumigen Schuppen aus Stahlzement mit einem Holzdach. „Zunächst war es eine Mordsarbeit. Putzen, Betten und Decken auftreiben. Und alles etwas wohnlich machen, zum Beispiel mit Vorhängen. Damit es auch schön aussieht“, berichtet Cristiano. Mit seinen 40 Gästen, die er vor dem Erdbeben zum Teil gar nicht kannte, sitzt er neben dem „Schlafsaal“ beim Abendessen. Bei Tisch stoßen die Geschichten dieser Menschen aneinander wie die Gläser beim Prost. Da sitzt Giovanni, der Mitglied des Stadtrats ist, oder Ludovico mit seiner Frau und seinen Schwiegereltern. Auch ein Bäcker ist da, der morgen um vier Uhr aufstehen muss, und ein älteres Ehepaar aus Visso. Silvio, ein Installateur, erklärt: „Alle drei Häuser sind einsturzgefährdet. Jetzt wohne ich bei meiner Freundin.“ Cristiano hatte ihn immer wieder mit seinem Lieferwagen vorbeifahren sehen. „Ich brauchte jemanden, der mir die Pelletöfen, die uns die Gemeinde geliehen hat, in der Garage installiert. Ich habe ihn angehalten und ihm von den Leuten hier erzählt.“ „So viel Elend. Da verschwinden alle Sicherheiten“, war Silvios Kommentar. Darauf antwortete Cristiano: „Worauf können wir denn noch bauen? Und was brauchen wir wirklich? Lass uns mal reden. Ich möchte das herausfinden.“

„Heute schauen wir uns an und fragen uns, was uns noch auf den Beinen hält und uns die Kraft gibt, neu anzufangen. Es reicht nicht, einfach aufzuräumen.“ Es geht nicht einmal darum, „mit der Situation klarzukommen. Man muss sich immer wieder fragen, worauf man letztlich bauen kann.“

Andrea, 18 Jahre alt, trägt Mütze und Rapper-Jacke. Er ist in der Abschlussklasse der Technischen Oberschule von San Severino. In die Garage kam er mit seiner Mutter und seiner Schwester, die in einem Café arbeitet. „Tagsüber trifft man sich mit Freunden, man ist unterwegs, schaut sich nach Mädchen um ...“ Und die Schule? Die ist gesperrt, wie fast alle in den betroffenen Gebieten. „Tausende Schüler sitzen auf der Straße. Es heißt immer, dass die Schulen wieder geöffnet werden sollen. Das Problem ist: Was wird mit dem Abitur?“ Wir sprechen über seine Zukunft. Der Vater hat ihm geraten, Informatik zu studieren. „Er meint, dass man damit leichter Arbeit findet.“ Und was will er selber? „Rechtsanwalt könnte ich mir vorstellen. Aber das geht nicht, außerdem ist das sehr anstrengend.“ „Aber was willst du dir wirklich?“, hakt Cristiano nach. Daran entzündet sich eine Diskussion, an der sich auch Luís José, genannt Pepe, beteiligt. Er stammt aus Peru, ist 50 und jetzt mit Frau und Hund obdachlos geworden. „Ich glaube nicht daran, aber es wäre schön“, sagt Andrea schließlich wehmütig.

„Für viele ist das eine ganz neue Erfahrung“, sagt Pater Giuseppe. „Wenn man jetzt miteinander spricht, dann ist kein Platz mehr für unnützes Gerede. Das Wesentliche zählt. Man schaut den Menschen ins Gesicht. Man grüßt sich. Man nimmt den anderen wahr.“ Pater Giuseppe ist 31 Jahre alt und Mönch im Augustinerkloster San Nicola. Auch das Kloster ist einsturzgefährdet. Von zehn Mönchen sind noch drei da. Sie wohnen im Erdgeschoss, wo sie notdürftig eine Kapelle und eine Küche mit einem großen Tisch eingerichtet haben. Aber sie schlafen in einem Wohnwagen. „Was sollen wir tun? Die Wirklichkeit wird uns den Weg weisen. So war es immer. Wir müssen nicht unbedingt alles so machen wie früher.“

Pater Giuseppe, Tolentino.

Die Wirklichkeit zeigt einem die nächsten Schritte. Ilaria, eine Grundschullehrerin, hat sich wenige Tage nach dem stärksten Beben mit ein paar Lehrerinnen aus den beiden staatlichen Schulen von Tolentino zusammengetan. „Wir haben uns an die Pfarrei Heiliggeist gewandt, an Don Sergio Fraticelli. Er hatte die Kirche schon zum Schlafsaal für 200 Personen umfunktioniert. Wir haben dann im Kinosaal der Pfarrei mit 300 Kindern aus der Stadt angefangen, vom Kindergartenalter bis zur Mittelschule. Die Jugendlichen aus dem Oratorium helfen uns. Die Kinder leben wieder auf nach dem ganzen Schrecken. Das sieht man an den Bildern, die sie malen. Und auch wir Lehrerinnen ... Vorher kannte ich einige Kolleginnen gar nicht, weil wir aus unterschiedlichen Schulen kamen“, lacht Ilaria. „Aber es ist nicht nur Solidarität. Ich profitiere auch für mich selbst, ich habe weniger Angst. Nächstenliebe? Ja, vielleicht ist das das richtige Wort.“

 „Es war nicht meins.“ Sandro Luciani ist Bürgermeister von Pievebovigliana an den Ausläufern der Monti Sibillini, ein 800-Seelen-Dorf. Jetzt sind alle obdachlos. Er ist geblieben mit wenigen anderen. Eine Familie hat die Bäckerei wieder geöffnet. Die Polizei ist noch da und ein paar Viehzüchter, die ihre Tiere nicht alleinlassen können. „Bei uns sind nur wenige Häuser eingestürzt, aber 70 Prozent der Häuser sind einsturzgefährdet“, sagt Luciani. Er sitzt unter einem Zelt, vor einem Topf mit Gulasch, auf dem „Zivilschutz“ steht, und seine Augen sehen sehr müde aus. „Es wird Jahre dauern, bis wir alles wieder aufgebaut haben werden“, meint er. „Diese Probleme haben alle Bürgermeister in der Umgebung.“ Und dann berichtet er von dem heftigsten Erdstoß: „Alles begann zu wackeln. ‚Mein Haus!‘, schoss es mir durch den Kopf. Aber es war nicht meins. Ich hatte Jahre daran gebaut, und nun merkte ich, dass es mir eigentlich nie gehört hatte.“ Dabei rutscht ihm, vielleicht zu seiner eigenen Überraschung, das Wort „frei“ heraus. „Man wird irgendwie frei von den Dingen. Man fragt sich, wie viel sie tatsächlich wert sind, und was wirklich zählt.“

 Garage als Schlafsaal

Ein Stückchen Fresko. Auch Roberto und Letizia aus Camerino stellen sich viele Fragen. Er ist Dozent an der Universität, sie unterrichtet Französisch in einer Schule. Heute sind sie von Civitanova, wo sie bei einem Freund untergekommen sind, nach Tolentino gekommen, um Cristiano zu besuchen. „Zuerst wollte ich nicht fahren. Zu viel zu tun, zu müde, zu viele Sorgen. Aber bestimmte Leute muss ich einfach sehen“, sagt Roberto. Das Haus von Letizia und Roberto ist zerstört. Nach dem Erdbeben von 1997 hatten sie es wieder aufgebaut. „Aber diesmal ist es schlimmer. Auch in der Umgebung.“ Sie haben versucht, ein paar Dinge zu retten, aber es ist zu gefährlich. „Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich Angst hatte. Während des Bebens waren wir alle im Haus, auch unsere Kinder, die schon groß sind und ihr eigenes Leben leben. Gott sei Dank haben wir niemanden vermisst.“ Ein Freund seines Sohnes meinte: „Ihr wirkt so sicher.“ „Ich weiß nicht, was er bei uns gesehen hat“, sagt Roberto. „Ich habe mehr Angst als er. 1997 haben wir uns sehr engagiert. Wir haben die Freiwilligen koordiniert, Wohnwagen und Camper organisiert.“ Man musste ja „etwas tun“, ergänzt Letizia. „Heute schauen wir uns an und fragen uns, was uns noch auf den Beinen hält und uns die Kraft gibt, neu anzufangen. Es reicht nicht, einfach aufzuräumen.“ Es geht nicht einmal darum, „mit der Situation klarzukommen. Man muss sich immer wieder fragen, worauf man letztlich bauen kann“, sagte ihr jemand kürzlich bei einem Abendessen mit Freunden von CL. „Wir sind Christen“, sagt Roberto. „Das können wir nicht einfach abschütteln. Und das sehen manche bei uns. Wir weinen genau wie die anderen. Und trotzdem meinen einige, wir wirkten ‚so sicher‘. Es ist, als würde uns die Beziehung neu geschenkt, die uns ausmacht. Die anderen sehen Denjenigen, der in uns lebt.“

„Heutzutage ist man ja schon überrascht, wenn einen jemand auf der Straße grüßt“, erklärt Barbara aus Ascoli Piceno. Sie ist Lehrerin und hat in Amatrice Verwandte verloren. Sie berichtet, dass gerade ein Geologe in ihrer Schule gewesen sei und sie alle beruhigt habe. „Aber es reicht nicht, ruhig zu sein. Niemand kann vorhersehen, wann und wo das nächste Erdbeben kommt. Es geht darum, dass man lebt“, antwortet Oreste, ein Freund von ihr, der auch Geologe ist. Ascoli liegt nicht direkt am Epizentrum. Schäden gab es aber auch dort. Der Sohn von Oreste hat sich am Rücken verletzt, weil er gerade die Treppe herunterging, als der Erdstoß kam. „Was ist stärker als die Angst?“, fragt Stefano, und zeigt uns ein Foto, das der Bürgermeister von Montegallo auf Facebook gepostet hat: „Ein Stück von einem Fresko, das einzige, was von einer Kapelle am Hang des Monte Vettore übriggeblieben ist. Eine alte Darstellung der Geburt Christi. Jetzt sind nur noch das Jesuskind, Ochs und Esel da. ‚Ein Symbol dafür, von wo aus man neu anfangen und neu geboren werden kann‘, schrieb der Bürgermeister dazu.“

„Ich will nicht nur Erdbebenopfer sein“, sagt Fiorella aus Tolentino. Auch wenn es viele Probleme gibt, auch wenn sie Angst hat, zum Duschen in ihr Haus zu gehen, und in einem geliehenen Camper schlafen muss. „Jetzt frage ich mich: Was bin ich eigentlich?“ Vor ein paar Tagen ist sie auf der Straße umgedreht, um einem ihr unbekannten Mädchen hallo zu sagen, das auf einer Bank saß. „Sie saß jeden Tag da, wenn ich zur Arbeit fuhr.“ Aber diesmal ist sie umgedreht.