Was ist geblieben?
Tahir, Muslimbrüder, Generäle und der Anschlag auf die koptische Kathedrale. Kairo sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling. Wael FAROUQ meint, die Versprechen hätten sich nicht erfülltUnd doch hätte sich viel verändert. In den Köpfen der Menschen. Und auch das ein oder andere Gesetz.
Sechs Jahre sind vergangen seit den Protesten auf dem Tahir-Platz. Kurz zuvor hatte das erste Kairo Meeting stattgefunden. Ein seltsames Experiment der „Freundschaft unter den Völkern“. Wael Farouq, damals Professor an der Amerikanischen Universität in Kairo, hatte es initiiert. Dann kam, völlig überraschend, der „Arabische Frühling“. Und alle merkten, dass sie auf so etwas gehofft hatten. Sechs Jahre ist das nun her, aber es scheint eine Ewigkeit. Was ist nicht alles inzwischen passiert? Der Rücktritt von Mubarak, die Wahlen, aus denen die Muslimbrüder als Sieger hervorgingen, die Absetzung des Präsidenten Mursi und die Rückkehr der Generäle an die Macht. Und dann Libyen, das Entstehen des IS, der Krieg in Syrien. Fehler und vergebliche Vermittlungsversuche des Westens. Russlands Wiedererstarken als Global Player. Zuletzt der Anschlag auf die koptische Markuskathedrale am 11. Dezember 2016.
Wie weit weg scheinen heute die Parolen der jungen Ägypter vom Tahir-Platz! Welch ein Unterschied zwischen ihren Forderungen und der heutigen Realität! Ägypten ist kein Land wie jedes andere. Es ist immer noch der kulturelle Mittelpunkt der arabischen Welt. In Kairo sieht man nicht nur die Vergangenheit, sondern vielleicht auch die Zukunft. Daher wollten wir von Wael Farouq, der heute Professor an der Katholischen Universität von Mailand ist, wissen, was aus seinem Ägypten geworden ist.
Was denken Sie über Kairo heute?
Die Revolution von 2011 hat es nicht geschafft, Formen und Protagonisten des politischen Lebens hervorzubringen, die den Idealen des Tahir-Platzes entsprechen. Ägypten hat die Versprechen nicht gehalten. Man kann nicht behaupten, es sei ein demokratischer und liberaler Staat geworden. Trotzdem wäre es falsch, die Lage dort zu beurteilen, ohne das im Blick zu haben, was im Rest des Nahen Ostens geschieht. Libyen, Sudan, Syrien, Jemen: In der arabischen Welt breiten sich immer mehr Kriege aus. Dass das in Ägypten nicht der Fall ist, ist schon nicht wenig. Das heißt aber nicht, dass hier nicht auch eine Art Krieg tobt.
Inwiefern?
Zunächst einmal der Krieg gegen den Terrorismus. Wie andere Länder, die nicht unmittelbar im Kriegszustand sind (ich denke an Tunesien und Jordanien, auf andere Art auch die Türkei) ist Ägypten von islamistischen Anschlägen betroffen. Und das gleiche geschieht ja auch in Europa: Berlin, Brüssel, Paris ... In Kairo gab es eigentlich in den letzten beiden Jahren nicht mehr Anschläge als in Paris. Dass Ägypten weiterhin ein Ziel der Terroristen ist, erklärt sich auch aus der Tatsache, dass es nicht auf Seiten der Dschihadisten in die Kriege in Syrien und im Jemen eingreifen wollte, wie es andere Länder getan haben.
Welche Rolle spielen die Muslimbrüder?
Nach dem Sturz von Mursi haben sie alles getan, damit das Volk sie noch mehr hasst. Um sich für den Verlust der Macht zu rächen, haben sie sich gegen die einfachen Leute gestellt. Sie haben sogar Öl auf den Autobahnen vergossen. Völlig verrückt. Heute haben sie jede Glaubwürdigkeit verloren und kaum noch Einfluss im Land.
Ist Ägypten noch ein kultureller Referenzpunkt für den Nahen Osten?
Da braucht man sich nur anzuschauen, wie erschrocken die Saudis waren, als der Großimam der Azhar mit zweihundert anderen Gelehrten aus muslimischen Ländern die Erklärung von Grosny unterzeichnet hat. Diese erklärt, dass die wahhabitische Weltanschauung, der Riad anhängt, nicht zum wahren Islam gehört. Ägypten spielt weiterhin eine zentrale Rolle: In allen arabischen Ländern stammen die Techniker, die Intellektuellen, die Leiter der großen kulturellen Institutionen aus Ägypten. In Katar, Dubai, auch in Saudi-Arabien. Unser Land hat eine zweihundertjährige Tradition des Liberalismus und Modernismus. In den letzten Jahren haben wir eine regelrechte kulturelle und politische Gegenoffensive gegen den Wahhabismus gestartet. Auch Europa wird inzwischen zum Schlachtfeld dieser eher ideologischen als militärischen Auseinandersetzung. Die Wahhabiten sind die eigentlichen Feinde Ägyptens und letztlich auch der westlichen Demokratien.
Sind sie sicher?
Es scheint mir nicht unbedeutend, dass jeden Freitag in allen Moscheen Saudi-Arabiens das Gebet mit der Bitte an Gott endet, dass er die Christen und die Juden vernichten möge. Das geschieht normalerweise ganz öffentlich. Niemand nimmt daran Anstoß. Ich sehe einen Konflikt zwischen der liberalen und modernisierten islamischen Kultur, für die Ägypten steht, und dem fundamentalistischen Islam wahhabitischer Spielart, den Saudi-Arabien propagiert. Was wir in Syrien sehen, ist das dramatischste Bild dafür. Doch dieser Gegensatz hat sehr tiefgreifende kulturelle Wurzeln. Und eines der Kernprobleme ist die Verbindung zwischen den wahhabitischen Intellektuellen und der saudischen Königsfamilie.
Die Saudis werden beschuldigt, Fundamentalisten zu finanzieren. Was tut Ägypten dagegen?
General al-Sisi, der Präsident, fordert immer wieder eine Erneuerung des religiösen Diskurses. Tatsächlich findet eine tiefgreifende Veränderung statt. Es ist kein Zufall, dass Ziel der Attentate in Ägypten immer die koptischen Christen sind. Der IS will die Welt überzeugen, dass diese neue Art des Zusammenlebens zwischen Muslimen und Christen nicht möglich ist. Die Angreifer wollen das zerstören, was in den letzten Jahren gewachsen ist.
Und zwar?
Das große Ergebnis der Revolution von 2011 ist, dass Muslime und Christen heute einiger sind denn je. Das ist eine ungeheure Provokation für den ganzen Nahen Osten. Und es ist der Grund, warum der IS alles tut, um diese Einheit zu stören. Ich behaupte nicht, dass die wahhabitische Ideologie in unserem Land nicht präsent wäre. Aber ich meine, dass das, was auf dem Tahir geschehen ist, mehr noch als Institutionen und politische Organisationen, vor allem das Herz der Menschen verändert hat.
Woran erkennt man das?
Denken wir daran, was nach dem großen Anschlag auf die Kopten in Alexandria in der Silvesternacht 2011 passierte. Bei dem Attentat vor der Allerheiligen-Kirche waren 22 Menschen getötet worden. Damals war die einzige Reaktion der muslimischen religiösen Autoritäten, sich wie immer zu distanzieren: „Das ist nicht der Islam.“ Diese Entschuldigung kommt nach jedem Anschlag. Die Freunde vom Kairo Meeting wollten ein Konzert organisieren für die Opfer. Das war damals unmöglich. Wenn wir dagegen den jüngsten Fall nehmen, das Attentat vom 11. Dezember 2016 in der Markuskathedrale von Kairo, dem Sitz des koptischen Papstes Tawadros II., mit 25 Toten und 35 Verletzten, dann scheint es, als wäre das in einem anderen Land passiert.
Wieso?
Noch vor ein paar Jahren war es völlig undenkbar, dass Hunderte von Muslimen Blut spenden gehen, um das Leben von Christen zu retten, die in einer Kirche verletzt wurden. Haben Sie die Tränen der muslimischen Mütter gesehen? Und die Hunderte von muslimischen Ägyptern, die an den christlichen Begräbnisfeiern teilgenommen haben? In den Moscheen wurde mit der Maria gewidmeten Sure darum gebetet, dass die Seelen der Opfer ins Paradies kommen. Das ist es, was ich sehe: die Veränderung in den Herzen der Menschen, die auch die Gesellschaft verändern wird. Was meinen Sie, warum Präsident al-Sisi seit 2014 jedes Jahr an der Weihnachtsmesse teilnimmt?
Keine Ahnung.
Weil er dem mehrheitlich muslimischen ägyptischen Volk gefallen will. Und wissen Sie auch, warum Hosni Mubarak das nie getan hat? Aus dem gleichen Grund: weil er die Muslime nicht verärgern wollte. Das bedeutet, die Politik funktioniert nach der gleichen Logik wie immer. Aber in den Köpfen der Menschen hat sich etwas verändert. Sie wollen, dass die alten Spaltungen verschwinden. Als Konsequenz daraus entsteht dann auch das ein oder andere Gesetz. Seit den Fünfziger Jahren hatte Ägypten keine Regelung mehr für den Neubau von Kirchen. Jetzt gibt es ein entsprechendes Gesetz; es wurde am 30. August verabschiedet. Das ist nicht perfekt, natürlich nicht, aber es gibt den Christen ziemlich viel Freiheit. In welchem anderen arabischen Land macht man solche Fortschritte?
Welche Rolle spielt die Azhar in diesem Zusammenhang?
Auch die islamische Universität ist von Wahhabiten infiltriert, es gibt viele dort. Aber es hat schon immer Meinungsverschiedenheiten unter den großen islamischen Gelehrten gegeben. Das Attentat vom 11. Dezember fand genau an dem Tag statt, an dem der Geburtstag des Propheten Mohammed gefeiert wurde. Wenige Stunden zuvor hatte al-Sisi seinen Appell zur Erneuerung des religiösen Diskurses wiederholt. Daraufhin hat der Religionsminister, der von der Azhar kommt, angeordnet, dass am folgenden Freitag in allen Moscheen des Landes ein einheitlicher Text verlesen wird, der den Anschlag verurteilt. Al-Sisi wiederum hat dieses Vorgehen hart kritisiert, weil es nicht reiche, einen einheitlichen Text zu verordnen, um den religiösen Diskurs zu ändern. Die Veränderung muss aus dem täglichen Leben kommen. Mir scheint, der Präsident hat verstanden, dass das Volk den religiösen und politischen Institutionen weit voraus ist. Das macht mir Hoffnung.
Warum?
Ich sehe Leute, die ohne Zögern oder Angst das Gute tun, an das sie glauben. Ägypten ist nicht mehr ein Land, das seine Kinder lehrt, Allah um den Tod der Christen und Juden zu bitten. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, scheint mir das Zeitalter der Ideologien beendet zu sein.