„Straßen-Krippe“
Weihnachtsplakat 2018Das diesjährige Weihnachtsplakat von CL zeigt eine Anbetung der Könige von 1457, ein Marmorrelief, geschaffen von den Brüdern Gagini, in einer Gasse in Genua. Damit ist dieses Kunstwerk eines von vielen, die jeder immer sehen kann. Zurückhaltende, unauffällige Bilder, die unseren Alltag begleiten.
Das Bild auf dem Plakat ist gewissermaßen eine „Straßen-Krippe“. Sie hängt in der Via degli Orefici, im Herzen von Genua. Wenn man an der Ecke, bei der Nummer 47 den Kopf hebt, erblickt man sie ganz unerwartet. Im Erdgeschoss sind die Schaufenster eines Ladens, der Messer verkauft. Über dem einen befindet sich aber nicht etwa ein Ladenschild, sondern ein großes Flachrelief aus Marmor, die Anbetung der Könige. Natürlich war es schon lange vor der Eröffnung des Ladens dort. Eine Tafel nennt das Jahr, in dem es wohl entstanden ist: 1457. Außerdem seine Schöpfer: Elia und Giovanni Gagini. Seit Jahrhunderten wacht die Krippendarstellung also über diese Gasse in Genua. Tausende Männer und Frauen, die hier gelebt haben oder einfach nur vorbeigegangen sind, haben wohl in Dankbarkeit und Ehrfurcht ihren Blick zu ihr erhoben.
Die Künstler, die sie geschaffen haben, entstammten einer Tessiner Bildhauer¬dynastie, die Mitte des 15. Jahrhunderts nach Italien zog: Ein Teil der Familie ging nach Genua, der andere Zweig ließ sich in Palermo nieder. Der „Stammvater“, Domenico, wurde in den Werkstätten des Brunelleschi in Florenz ausgebildet. Giovanni, sein Enkel, hat wahrscheinlich die Anbetung der Könige in der Via degli Orefici geschaffen. Sie ist nicht das einzige Straßen-Kunstwerk, das er in der Genua hinterlassen hat. Zwei weitere Reliefs mit der Geschichte des heiligen Georg stammen auch von ihm. Ein besonders schönes hängt in der nahegelegenen Via del Canneto, ebenfalls über der Tür eines Ladens.
Wir Heutigen heben nur noch selten unseren Blick und staunen über solche Kunstwerke in den Straßen, durch die wir jeden Tag gehen. In Italien sind sie noch relativ weit verbreitet und belegen ein Verständnis von Kunst als etwas, dessen Schönheit für alle da ist und jedem zugänglich sein sollte. Der Tripadvisor führt solche Kunstwerke, nicht ganz zu unrecht, als „24/24“, also zu jeder Tages- und Nachtzeit geöffnet. Es sind keine Monumente, sie haben nichts Großartiges an sich. Oft hängen sie versteckt, unauffällig, an irgendeiner Ecke. Aber sie begleiten unseren Alltag. Man kann zu ihnen aufschauen, die Dargestellten um Schutz anflehen oder ihnen danken.
In Rom zum Beispiel zählt man noch heute 522 „Straßen-Madonnen“, früher waren es einmal fast 2.000 allein im Stadtzentrum. Sie waren immer mit Blumen und Kerzen geschmückt. Und, wie Stendhal in seinen Römischen Spaziergängen bemerkt, sie erhellten nachts die Straßen der Stadt: eine einfache Form von schützender Präsenz. Die berühmteste dieser „Straßen-Madonnen“ ist die an der Ecke der Via dei Coronari, an der große Künstler wie Antonio da Sangallo mitgearbeitet haben, und Pierin del Vaga, der die Krönung Mariens malte. Manchen dieser Bildnisse wurden auch Wunder zugeschrieben. So der „Madonna dell’Archetto“, die geweint haben soll, als Napoleons Truppen in den Kirchenstaat einmarschierten. Später erhielt das Bild seine eigene kleine Kapelle am Ende der Gasse.
In Florenz waren dagegen die „Tabernacoli“ genannten Bildstöcke die am weitesten verbreitete Form dieser „Straßenkunst“. Der schönste ist sicherlich der Tabernacolo delle Fonticine (der „Brünnlein“, wohl wegen der sieben Engelsköpfe, aus denen das Wasser in den Brunnentrog fließt). Das Bild darüber besteht aus farbig glasierter Terracotta und zeigt die Gottesmutter mit dem Jesuskind sowie einen Kranz von Heiligen. Bei Tag und Nacht strahlt einem hier das intensive Blau entgegen, wie es nur die Familie Della Robbia herstellen konnte. (Dieses Werk ist von Giovanni Della Robbia.) Werke aus farbig glasierter Keramik schmücken viele Straßen in Florenz. Nicht zu übersehen sind auch die Tondi mit Kinderbildern am Ospedale degli Innocenti. Aber das schönste Beispiel für diese Kunst findet sich in Pistoia. Dort hat Santi Buglioni Anfang des 16. Jahrhunderts den langen Fries mit den Sieben Werken der Barmherzigkeit für das Ospedale del Ceppo gestaltet. Dieser Fries ist fast wie ein Farbfilm, der Tag und Nacht projiziert wird. Wer dort unten vorbeigeht, kann hochschauen und gewinnt die Zuversicht, dass auch er in seiner Not nie allein gelassen wird.