Maracaibo, Venezuela: Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren fast nicht mehr, und die Bewohner bewegen sich so. ©Humberto Matheus/NurPhoto via Getty Images

Venezuela: Selbst in der
Krise hoffnungsvoll

Der Mensch lässt sich seine Sehnsucht nicht nehmen. Nicht einmal in einer humanitären Krise, wie derzeit in Venezuela. Auch hier gibt es Menschen, die selbstlos zum Wohle aller tätig sind.
Monica Poletto

Um 4.30 Uhr morgens verlässt Ana das Haus. Um acht ist sie in der kleinen Firma, in der sie ein unbezahltes Praktikum absolviert. Sie lernt, wie man Schokolade herstellt. Ana ist dankbar für diese Chance. In diesen Zeiten kann man es sich nicht erlauben, eine solche Gelegenheit auszuschlagen. Der Mindestlohn in Venezuela beträgt derzeit 18.000 Bolívar im Monat. Umgerechnet 5 Euro. Eine Schachtel Eier kostet 12.000 Bolívar, eine Packung Toastbrot 3.000 Bolívar.

Das Land hat zwei Präsidenten, den „offiziellen“, Nicolás Maduro, und den selbsternannten „Interimspräsidenten“ Juan Guaidó. Auch Europa ist gespalten, weiß nicht, wen es unterstützen soll. Donald Trump hat militärische Aktionen nicht ausgeschlossen. Niemand weiß, wie es weitergeht. Vor allem aber leidet die Nation unter einer beispiellosen humanitären Krise. Millionen Menschen sind geflohen. Wer bleibt, lebt unter schwierigsten Bedingungen. Man überlebt mithilfe der inzwischen rar gewordenen staatlichen Lebensmittelpakete oder der wenigen karitativen Einrichtungen, die noch Hilfsgüter ins Land bringen können. Oft überlebt man nur dank des Geldes von Verwandten, die im Ausland eine Arbeit gefunden haben. Es sei denn man arbeitet in einem der wenigen Unternehmen, die noch exportieren können und so Zugang zu Dollars haben.

Zumeist reicht das Monatsgehalt nicht annähernd zum Leben – und wir sprechen hier gar nicht davon, in Würde zu leben. Trotzdem gibt es noch Menschen, die für das Wenige arbeiten, oder gerne arbeiten würden.

Das staatliche Krankenhaus in Caracas ist ein Gebäude mit neun Stockwerken. Der Aufzug funktioniert schon lange nicht mehr. Die Kinderklinik befindet sich im neunten Stock. Erschöpfte Mütter müssen ihre kranken Kinder über die Treppen hochschleppen. Im Krankenhaus gibt es kaum Licht. Viele Glühbirnen wurden gestohlen oder sind kaputtgegangen. Bei Einbruch der Dunkelheit sieht man fast nichts mehr. Auch tagsüber ist die Behandlung von Patienten eine Herausforderung: Es gibt kaum Medikamente und viele medizinische Geräte funktionieren nicht mehr. Aber es gibt noch Ärzte und Krankenschwestern, die den Hungerlohn und die täglichen Strapazen in Kauf nehmen, um den Kranken zu helfen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn sie könnten auch in den Privatkliniken der Reichen arbeiten, wo man sie sofort anstellen würde.

Alejandro, Mariloly, Diana, Henry und ihre Freunde arbeiten für die Vereinigung Trabajo y Persona „Arbeit und Mensch“, die im ganzen Land Berufsbildungskurse organisiert. Jedes Jahr besuchen mehr als tausend Menschen diese Kurse. Sie lernen, wie man ältere Menschen pflegt, wie man Schokolade herstellt oder zum „Beauty-Unternehmer“ wird, was heißt: zum Friseur. Jene, die an den Kursen teilnehmen, sind dankbar für die Möglichkeit. „Sie haben uns eine Chance und damit unsere Würde wiedergegeben. Mit unserer Arbeit können wir einen kleinen Beitrag zum Unterhalt unserer Familie leisten. Und gleichzeitig etwas Nützliches für unser Volk tun, zum Wohle aller“, sagt etwa Maribi.

Nützlich sein, Würde haben, zum Wohl aller beitragen, das wollen auch Andrea und ihre Freunde. Sie sind für ein Netzwerk von Hilfsorganisationen tätig, die sich um die medizinische Versorgung kümmern. Mit Unterstützung der Fondazione Banco Farmaceutico – einer Art pharmazeutischer „Tafel“ aus Italien – und ähnlicher Vereinigungen können sie rund 1.200 Kranke pro Monat mit Medikamenten versorgen, die die sich sonst nie leisten könnten. Andrea war selbst krank und hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn man die Behandlung nicht bezahlen kann. Aus Dank für die erhaltenen Medikamente arbeitet sie jetzt hier mit. Dankbarkeit steht also am Ursprung dieses kleinen Wunders.

Caracas, eine Demonstration der Gegner von Maduro. ©Yuri Cortez/AFP/Getty Images

Jedes Medikament wird einer bestimmten Person zugeteilt und regelmäßig geprüft, ob sie es wirklich braucht. Denn die Medikamente sind knapp. Wenn man sie einem gibt, heißt das, sie einem anderen vorzuenthalten. Andrea leidet sehr darunter, immer wieder solch dramatische Entscheidungen treffen zu müssen. Die Kriterien, die sie gemeinsam festzulegen versuchen, helfen da wenig. Es gibt immer Menschen, die Medikamente bräuchten, und man hat nie genug. Doch Christus ist ihnen hier täglicher Begleiter. Das löst die Probleme nicht, aber es gibt den Herzen Kraft.

Bernardo und Argenis leben in Merida. Argenis hatte einen Job, aber das Gehalt reichte nicht, um die Frau und drei Kinder zu ernähren. Bernardo war schon im Ruhestand. Auch ihm reichte das Geld, das er bekam, nicht zum Leben. Ein paar Freunde wollten sie finanziell zu unterstützen. Aber das war ihnen nicht genug. Sie brauchten einen Grund, morgens aufzustehen. Sie wollten sich nützlich machen, konstruktiv sein, aktiv mitgestalten. Also überlegten sie mit Alejandro, Leo und einigen italienischen Freunden, was sie tun könnten. Daraus entstand die Idee: „Wir stellen uns der Allgemeinheit zur Verfügung und machen gratis das, was wir gut können. Und ihr unterstützt uns dabei.“ Argenis bot verschiedenen Schulen an, Musikunterricht zu geben. Die Lehrer schlugen das ihren Schülern vor und die machten begeistert mit. So entstand der erste schulübergreifende Kinderchor in Medina mit mehr als 100 Sängern.
Bernardo begeistert sich für Kunst und Geschichte und liebt die schöne Kathedrale seiner Heimatstadt. Sie ist ein Zeugnis des Glaubens, der Geschichte, der Schönheit. In ihr lebt das Herz seines Volkes, das sich wieder seine Größe bewusst werden muss. Die Kathedrale sollte also wieder stärker ins Bewusstsein rücken. Bernardo bietet daher Kurse für Touristenführer an und bildet die ersten 25 jungen Leute aus. Der Erfolg übersteigt alle Erwartungen! Wenn man die Leute in Merida und die städtischen Behörden hört, ist dies das wichtigste Kulturprogramm in jüngster Zeit. Die Universität erkennt den Kurs an und stellt den Teilnehmern ein Zeugnis aus. Bernardo kann begeistert davon erzählen wie ein Kind. Ein Kind, das „mit 68 neu geboren wurde“, sagt er.

Francisco hat Jazzgitarre studiert und liebt die Musik, besonders die venezolanische. Die würde er gerne bekannter machen. Alejandro überlegt mit ihm, wie er diesen Traum verwirklichen und daraus einen Beruf machen könnte. Beim Meeting in Rimini trifft er sich mit Eugenio, der einen Musikverlag hat. Dieser bietet an, eine CD zu veröffentlichen. Die Kosten würde er vorstrecken, den Gewinn Francisco überlassen. Micael, Professor für Musik, will Francisco bei der Auswahl der Stücke helfen. Fehlt nur noch ein Thema. Francisco entscheidet sich für: die Arbeit! Denn die Venezolaner sind ein fleißiges Volk und singen auch bei der Arbeit. Er holt noch Aquiles Báez ins Boot, einen der bekanntesten Gitarristen Venezuelas. Der wiederum lädt weitere Gruppen und Sänger ein. Einige von ihnen stehen, im Gegensatz zu ihm, eher der derzeitigen Regierungspartei nahe. So soll diese CD zum Wohl aller beitragen. Sie macht deutlich, dass es kein Volk geben kann ohne Arbeit. Und ohne Liebe.

Carlos ist Sohn einer bedeutenden Industriellenfamilie. Sie besitzen Kakaoplantagen und produzieren Schokolade. Die Krise betrifft sie wenig. Ihre Unternehmen verkaufen viel im Ausland. Das Produkt hat eine hohe Qualität und seinen eigenen Markt. Aber die Situation in Venezuela lässt Carlos nicht in Ruhe. Im Mai wird sein erstes Kind geboren. In was für einem Land wird es aufwachsen? Daher trifft er sich mit anderen Unternehmern und Intellektuellen, um zu überlegen, wie man diese Krise im Guten lösen könnte.

Das scheint ein unmögliches Unterfangen zu sein. Venezuela hat Öl, das ist verlockend für alle. Welchen Weg könnte es gehen? Das Land hat sechs Millionen öffentliche Angestellte, die es schon lange nicht mehr bezahlen kann. Seine Infrastruktur verfällt. Die Menschen sind arm. Die meisten Fabriken sind geschlossen. Carlos ist klar, dass der Ausweg kein neuer Messias oder Personenkult sein kann. Sondern nur Menschen, die sich Gedanken um das Gemeinwohl machen, die sich ihrem Land, ihrem Volk zur Verfügung stellen. Dass es Orte braucht, an denen die jungen Leute dazu erzogen werden, zum Wohl aller beizutragen. Dass die Menschen in Venezuela sich gegenseitig helfen, dass sie ihre vier Wänden verlassen müssen und versuchen, den anderen zu verstehen, „der unser Bruder ist“, wie Papst Franziskus sagt.

Dieses geplagte und doch so hoffnungsvolle venezolanische Volk kennenzulernen, war für mich eine unschätzbare Erfahrung. Es hat mir gezeigt, dass der Mensch sich die Sehnsucht seines Herzens nicht nehmen lässt, selbst unter den schwierigsten Umständen. Dieses Herz wird immer wieder geweckt, auch von Menschen, die nie aufhören, es herauszufordern.

*Monica Poletto ist beim italienischen Unternehmerverband Compagnia delle Opere für Soziale Einrichtungen zuständig und kümmert sich auch um Partnerschaften zwischen italienischen und lateinamerikanischen Institutionen.