Wie du und ich
Erwartungsvoll richten die Jünger ihre Hände und Augen auf Jesus. Das Fresko, das CL für das diesjährige Osterplakat ausgewählt hat, befindet sich in einer kleinen Kirche im Cadore (Venetien).Mitten in den grünen Wiesen des Cadore sieht man schon von Ferne die weißen Mauern eines kleinen Kirchleins leuchten. Es hat eine regelmäßige, quadratische Grundfläche, aber nach oben läuft es spitz zu. Darin kann man schon den Einfluss der Gotik ahnen. Die kleine Kirche in Salagona, einem Dörfchen in der Gemeinde Vigo di Cadore, ist der heiligen Margarethe geweiht. Wenn sie heute etwas einsam dasteht, dann liegt das daran, dass 1750 ein fürchterlicher Brand den Rest des Ortes zerstört hat. „Santa Margherita“ überstand den Brand, trotz des vielen Holzes, das in diesem Bau Verwendung fand. Man weiß nicht viel über die Ursprünge des kleinen Kirchleins. Nur, dass es aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammt, als diese Gegend zur Herrschaft der Camino gehörte, der Herren von Treviso. Von dieser Familie Camino spricht auch Dante in seiner Göttlichen Komödie, weil er während seines Exils ihr Gast war. (Der „gute Gerhard“ im 16. Gesang des Fegefeuers bezieht sich auf Gerhard Camino).
Die Verbindung zu Treviso ist offensichtlich, sobald man die Schwelle des Kirchleins überschritten hat: Die Fresken haben im unteren Teil ein dekoratives Motiv, eine Art freskierten Teppich, mit einem Schuppenmuster, wie es in den Wanddekorationen der Häuser von Treviso aus dem 13. Jahrhundert häufig vorkommt. Der Freskenzyklus ist eine echte Überraschung, die hier auf den Besucher wartet. Mit dieser Farbenpracht, die alle Wände bedeckt. Im oberen Band sind Szenen aus dem Leben Jesu und der Heiligen dargestellt, darunter die Geburt Jesu, eine Deesis, flankiert von zwei Darstellungen des Martyriums der heiligen Margareta, eine Muttergottes mit Kind und, rechts vom Eingang, die Missio apostolorum, der Missionsauftrag an die Apostel. Verschiedene Künstler haben an diesen Wänden gearbeitet, wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Sie zeigen noch deutlich den byzantinischen Einfluss, der in der venezianischen Kunst jener Zeit so präsent war.
Der Meister, der die Missio apostolorum gemalt hat, gehörte sicherlich zu den Fortgeschrittenen. Das zeigt die Art, wie er die Figuren im Raum verteilt, ohne sich von den Stereotypen der Tradition bestimmen zu lassen. Die Szene nimmt Bezug auf das, was Matthäus am Ende seines Evangeliums berichtet, wenn Jesus sagt: „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ In der Mitte des Freskos steht Christus und streckt die Arme über die Apostel aus, die mit weit aufgerissenen Augen beinahe wörtlich an ihm „hängen“. Besonders fällt dabei der Vorderste auf. Er steht tiefer als die anderen und beugt sich wie bei einer Verbeugung vor. Gleichzeitig hebt er den Kopf. Diese Darstellung bleibt dem Betrachter im Auge und im Herzen: Das Gesicht nach oben gewandt, die Hände voller Erwartung wie Schalen geöffnet, scheint es, als wolle er den real gegenwärtigen Christus „aufsaugen“.
Zwei Dinge hebt der Künstler hervor: die Blicke und die Hände. Die Blicke richten sich, wie gesagt, alle auf Christus. Aber in den Augen der Apostel liegt etwas, das an den einfachen Blick von Kindern erinnert. Eine Anziehungskraft scheint sie ganz gefangenzunehmen, und alle erwarten offenbar einen guten Ausgang. Die Hände, deren Gesten komplementär dazu sind, hat der Künstler besonders betont. Während die Hände der Apostel nach oben geöffnet sind, breitet Jesus seine in einer schützenden Geste über sie aus. Suchende Hände, die Hände finden, die ihnen entgegenkommen. Doch alle sind es Hände, die gewissermaßen zum Aufbruch drängen.
Deshalb muss man die Worte von Don Giussani dazu lesen, um zum Herzen dessen vorzustoßen, was dieses Bild uns sagen will: „Die Menschen, die Jesus folgten, die Jünger, die ihm nachgingen, waren armselige Menschen wie du und ich. Aber dass sie wieder Hoffnung schöpften, eine völlig neue Gewissheit erlangten, ganz neue Menschen wurden, das lag an jener Gegenwart.“ Der Missionsauftrag an die Apostel ist der Auslöser für diese neue Wirklichkeit, die um die Welt geht. Auf ihrem Gesicht bewahrt sie den Widerschein jenes Antlitzes, das sie angeblickt hat. Und wer in die Welt hinausgeht, verliert sich nicht, sondern bleibt immer unter der schützenden Hand des Herrn. Auf einfache und doch vollendete Weise vermittelt uns der unbekannte Künstler von Santa Margherita: „Dass sie ganz neue Menschen wurden, das lag an jener Gegenwart.“