EUROPA. DER PRAKTISCHE NUTZEN DER GEMEINSCHAFT
Ist die EU für uns eher hinderlich oder von Vorteil? Das Centro Culturale in Mailand veranstaltete eine Podiumsdiskussion zu diesem Thema.Bei einer Veranstaltung des Centro Culturale in Mailand diskutierten Gideon Rachman (Financial Times), Ferruccio de Bortoli (Corriere della Sera) und Fernando de Haro (Radio COPE) darüber, was unsere Länder von der Europäischen Gemeinschaft haben.
Ist die Europäische Union eher von Vorteil oder ein Hindernis für die einzelnen Mitgliedsländer? Wie sieht ihre Zukunft aus? Wird sie weiter wachsen oder gerät sie stärker in die Krise? Sollten wir ihr mit Vertrauen begegnen oder eher mit Skepsis? Über diese Fragen diskutierten am Vorabend der Wahlen zum Europäischen Parlament drei renommierte Journalisten aus unterschiedlichen europäischen Ländern: Gideon Rachman (Financial Times, Großbritannien), Fernando de Haro (vom spanischen Radiosender COPE) und Ferruccio de Bortoli (ehemaliger Direktor des Corriere della Sera, Italien). Moderator der Veranstaltung am 8. Mai 2019 im Centro Culturale von Mailand war Bernhard Scholz, der Präsident des italienischen Unternehmensverbandes Compagnia delle Opere.
Ausgangspunkt ist der Brexit, das derzeit wichtigste und dramatischste Ereignis für die europäische Politik und Wirtschaft. Wie es ausgehen wird, ist noch kaum vorzusehen. Rachman sieht drei mögliche Szenarien mit jeweils gleicher Wahrscheinlichkeit: den Austritt Großbritanniens aus der EU mit einem Abkommen (wobei allerdings noch unklar ist, wie das aussehen könnte), einen Austritt ohne Abkommen („mit äußerst schwerwiegenden Folgen für die Wirtschaft“) oder ein neues Referendum. Doch warum haben die Briten sich überhaupt in dieses Abenteuer gestürzt? „Einerseits aufgrund eines traditionellen Misstrauens gegenüber Europa, das bereits dazu geführt hat, dass Großbritannien weder beim Euro noch beim Schengen-Abkommen mitgemacht hat. Viele Briten sind der Meinung, die atlantische Partnerschaft (und ein gewisser Fokus auf die asiatischen Märkte) seien wichtiger als Europa“, erklärt Rachman. „Doch inzwischen gibt es auch eine starke Bewegung gegen den Brexit. Die Gesellschaft ist in dieser Hinsicht wirklich gespalten. Die eine Hälfte ist dafür, die andere dagegen.“ Andererseits sei, so meint Rachman, „der Brexit auch ein Spiegel der Krise, in der alle europäischen Länder stecken. Schauen Sie sich nur an, wie brachial Spanien gegen die Autonomiebestrebungen in Katalonien vorgeht. Und die Zunahme von rechtsextremen Kräften in Deutschland und Österreich, die Gelbwesten-Proteste in Frankreich, die anti-demokratischen Tendenzen in Polen und Ungarn. In fast allen europäischen Ländern nehmen die proeuropäischen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien ab und die extremen, die gegen Europa sind, wachsen.“
Wenn Großbritannien – aber auch Italien – sich zum Beispiel die Erfahrung Spaniens genauer anschauen würden, könnten sie erkennen, dass die Europäische Gemeinschaft die Rettung war für dieses Land. Da hat Fernando de Haro keinen Zweifel: „Die EU war immer gut für Spanien, sogar schon vor unserem Beitritt 1986. Sie hat den Übergang zur Demokratie und die Versöhnung unter den Spaniern befördert und zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft beigetragen.“ Und nach dem Beitritt? „Die Bilanz ist absolut positiv. Die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft verlangten von Spanien, sich zu modernisieren, das Staatsdefizit unter Kontrolle zu halten und die Inflation zu begrenzen. Das wäre sonst nicht so gut gelungen. Trotz der Mängel bei der Bewirtschaftung des Euro wäre Spanien ohne Europa in der letzten Krise wahrscheinlich wirtschaftlich zusammengebrochen.“ Man braucht nur an Zapatero zu denken. De Haro hat es nicht vergessen: 2008 leugnete der sozialistische Regierungschef die Krise und reagierte mit einer Erhöhung der öffentlichen Ausgaben. So produzierte er ein Defizit, das 2010 auf 11,4 Prozent des BIP anstieg. „Im Mai 2010 war es der Druck der EU, der ihn zwang, den Haushaltsplan zu ändern, und so verhinderte, dass Spanien bankrott ging. Und wenn im Sommer 2012 die Europäische Gemeinschaft nicht 50 Milliarden Euro zur Rettung des spanischen Finanzsystems bereitgestellt hätte, wäre Spanien zusammengebrochen, und mit ihm der Euro.“
Bedingung für die Rettung war eine Reihe von Arbeitsmarktreformen und Haushaltsstabilität, was für die Erholung entscheidend war. Die Arbeitsmarktreform und eine Absenkung des Lohnniveaus haben dazu beigetragen, dass sehr viele Arbeitsplätze geschaffen wurden und das Bruttoinlandsprodukt deutlich stärker gewachsen ist als im europäischen Durchschnitt. Aber was ganz wichtig war: „Trotz dieser harten Maßnahmen und ein paar umstrittener Entscheidungen vertrauten die Spanier Europa. Sie haben das nicht als ein do ut des verstanden. Trotz zunehmender Polarisierung verkörpert Europa für Spanien weiterhin Versöhnung und Zukunft.“
Und Italien? Die zur Zeit regierenden politischen Kräfte betrachten die Maastricht-Kriterien, also die Obergrenze von 3 Prozent des BIP für die Staatsverschuldung, oder die Sparpolitik, die Brüssel ihnen auferlegt, als eine Art Zwangsjacke für das Wirtschaftswachstum. „Was für eine Sparpolitik?“, ruft da Bortoli aus. „In Italien hat es noch nie eine Sparpolitik gegeben! Außer vielleicht in der kurzen Zeit von 2011 bis 2012 unter der Regierung Monti, als wir am Rande des Abgrunds standen und dringend Maßnahmen ergriffen werden mussten. Aber man weiß ja, dass Dinge, die man schnell und im letzten Moment macht, selten gut werden. Man klammert sich an den erstbesten Strohhalm und erhöht die Steuern, was wiederum die Wirtschaft belastet. Doch abgesehen von dieser Phase sind die öffentlichen Ausgaben immer gestiegen, zu Lasten der Investitionen, was die Staatsverschuldung immer höher getrieben hat. Eine gute Sparpolitik sollte dagegen die laufenden Ausgaben begrenzen und Investitionen fördern.“ Aber solche Entscheidungen zu treffen, hüten sich offensichtlich die Regierungen. „Ich frage mich, was wäre, wenn es die Maastricht-Kriterien nicht gäbe“, sagt de Bortoli. „Welches andere Rezept haben wir denn noch? Wie sonst könnten wir glaubhaft machen, dass wir die Staatsschulden reduzieren wollen, von denen ja ein erheblicher Teil von ausländischen Investoren gehalten wird. Alle Länder haben ja mittlerweile eine populistische Partei. Aber wir in Italien haben, damit es uns an nichts fehlt, gleich zwei.“
Zweite Fragerunde: die Herausforderungen für Europa. Nur die Europäische Union, nicht die Einzelstaaten, ist in der Lage, im Spiel der Kräfte der neuen Weltordnung mitzuhalten. Gideon Rachman stellt fest, dass China, Russland und die USA, jeder auf seine Weise, wissen, dass sie um so leichteres Spiel mit Europa haben, je weniger einig die Union ist. Rachman erinnert daran, dass Trump eine feindselige Politik gegen Deutschland (wo er nie gewesen ist) macht, während seine Leute Salvini hofieren. Putin, dem die Sanktionen zu schaffen machen, will die EU destabilisieren, unterstützt nationalstaatliche Tendenzen und verbündet sich mit anti-demokratischen Kräften wie Orban in Ungarn. Das totalitäre China versucht seinen wirtschaftlichen Einfluss auszubauen, zum Beispiel durch die neue Seidenstraße, und sieht Länder mit hoher Verschuldung als leichte Beute. Rachman ist sicher: „Der einzige Weg, diese Herausforderungen zu bestehen, ist das Zusammenhalten Europas und eine gemeinsame Handelspolitik.“
Die meisten Fragen, die mit Wirtschaft und Handel zu tun haben, fallen sowieso in die Zuständigkeit der EU. Kultur und Bildung hingegen liegen in der Verantwortung der einzelnen Staaten. Kann sich aber angesichts der derzeitigen euroskeptischen Tendenzen eine europäische Kultur und Identität behaupten?
De Haro würde gerne erkunden, woher diese Skepsis gegenüber Europa kommt. Er warnt, das Argument von Jürgen Habermas sei nicht zu unterschätzen, dass dies nicht so sehr eine Folge der Migrationskrise als vielmehr der wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit sei. Er stimmt Joseph Weiler zu, der den Akzent mehr auf die geistige Krise, eine Krise der Werte setzt, also ein vor-politisches Problem der Identität. De Haro erklärt: „Wenn die europäische Identität nicht klar ist, wird die Legitimität der EU davon abhängig gemacht, wie viele und welche Rechte sie mir gewährt.“
Wovon kann man also noch ausgehen? „Wenn ich noch einmal von vorne beginnen müsste, würde ich bei der Kultur anfangen“, sagte seinerzeit Jean Monnet, der erste Präsident der Montanunion. Tatsächlich ist es, so meint de Haro, „der Kulturpolitik nicht gelungen, deutlich zu machen, was es bedeutet, Europäer zu sein.“ Nicht einmal der Vertrag von Maastricht 1992 konnte das auf einer vor-politischen Ebene definieren. „Ein riesiger Erfolg war dagegen das Erasmus-Programm, durch das in dreißig Jahren mehr als neun Millionen junge Europäer monatelang in einem anderen europäischen Land waren. Warum hat uns alle das so überzeugt? Weil es dazu dient, an der Basis, ausgehend von persönlichen Beziehungen mit anderen Menschen, die europäische Identität konkret zu erleben.“
Und was bedeutet das? De Haros Fazit lautet: „Das Problem der Identität und des fehlenden Bewusstseins für die Bedeutung Europas kann man, wie wir bei dem Versuch gesehen haben, eine gemeinsame Verfassung zu verabschieden, nicht lösen, indem man sich auf ein historisches Erbe, die gemeinsamen Wurzeln oder eine glorreiche Vergangenheit beruft. Die Tradition reicht nicht. Wir können uns nicht immer auf das statische Bild eines Europa beziehen, dessen einmal erworbenes moralisches Erbe und dessen Werte ‚verraten‘ worden seien. Wahrscheinlich ist dieses Lamento das Uneuropäischste, was es gibt. Europäer zu sein bedeutet, jetzt noch einmal von vorne zu beginnen und den Nutzen der Gemeinschaft anzuerkennen. Was es in Wahrheit bedeutet, Europäer zu sein, wird, wie jede Wahrheit, immer in Beziehungen erkannt. Es muss sich aus der Erfahrung ergeben.“
Natürlich war es eine bestimmte kulturelle Tradition, die dieses Einzigartige – die soziale Marktwirtschaft, die Menschenrechte, die freiheitliche Demokratie und den Wohlstand – hervorgebracht hat, das Europa ist. Aber jetzt konkurriert es mit anderen Mächten in der Welt, die sozusagen „begünstigt“ sind dadurch, dass sie diese Dimensionen vernachlässigen oder ganz missachten. De Bortoli nennt überraschende Zahlen: Europa repräsentiert 7 Prozent der Weltbevölkerung, produziert 25 Prozent des BIP und steht für 50 Prozent des Wohlstands weltweit. Das wird so nicht langfristig bestehen können. Daher müssten wir dringend tiefgreifende Reformen durchführen, meint der ehemalige Direktor des Corriere della Sera. „Was wir keineswegs aufgeben dürfen, ist die soziale Marktwirtschaft, verbunden mit der freiheitlichen Demokratie. Wir müssen auch aufpassen, dass wir uns unsere wirtschaftliche Stabilität nicht dadurch erkaufen, dass wir demokratische Rechte aufgeben. Hier sind Erinnern und Leidenschaft gefragt. Wir müssen uns immer erinnern an das, was im zwanzigsten Jahrhundert geschehen ist, als die Nationalismen herrschten. Und wir müssen eine Leidenschaft für Europa entwickeln, also genau das Gegenteil des do ut des, von dem Fernando sprach. Wir brauchen eine Politik für Europa, die nicht nur durch die Eigeninteressen der einzelnen Staaten bestimmt ist.“ Die wäre übrigens auch sehr kurzsichtig. De Bortoli nennt als Beispiel die Ukraine und Polen. Beide sind von einem annähernd gleichen wirtschaftlichen Niveau gestartet. Aber Polen ist heute, dank seiner Mitgliedschaft in der EU, die sechststärkste Volkswirtschaft in Europa.
Zum Schluss ging es noch kurz um die Frage, wer die Verantwortung für den schlechten Ruf Europas und die miserable Kommunikation in dieser Hinsicht trägt. Viele hier scheinen sich ja gar nicht mehr für die Wahrheit zu interessieren. De Haro meint, das sei Folge eines allgemein menschlichen Problems: der fehlenden Beziehung zur Wirklichkeit.
Es bleibt also noch viel zu tun. Auch Konrad Adenauer bemerkte schon: „Wir Europäer leben alle unter dem gleichen Himmel“. Doch der Satz ging weiter: „Aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.“
Video der Veranstaltung auf Youtube: SOTTO IL CIELO D_EUROPA