Roger de la Fresnaye, La malade

„Ein radikaler Bruch mit der bewährten Rechtskultur“

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil zur Suizidbeihilfe einen dramatischen Schritt hin zur „Normalisierung“ der Selbsttötung gesetzt.
Christoph Scholz

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe hat viele Menschen in Deutschland verunsichert, ja schockiert, und selbst Experten überrascht. Denn der Spruch aus Karlsruhe rührt „an die Fundamente der Gesellschaft“, wie die Deutsche Bischofkonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer gemeinsamen Stellungnahme betonen.
Mit dem Urteil erklären die Karlsruher Richter das nach jahrelanger Debatte vom Bundestag 2015 beschlossene Verbot der „geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe“ für nichtig. Die Entscheidung reicht aber weit über die Aufhebung des Paragraf 217 Strafgesetzbuch hinaus, der die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen wie Dignitas und Sterbehilfe Deutschland unterbinden sollte und die geschäftsmäßige Hilfe beim Suizid unter Strafe stellte.

Damit stellte sich der Bundestag 2015 auch gegen eine wachsende Tendenz, die Selbstbestimmung des Menschen absolut zu setzen, bis hin zu der Möglichkeit, sich selbst zu töten. Der Suizid wird in diesem Sinne eher als Ausdruck von Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und Hilfsbedürftigkeit verstanden – entsprechend geht es vor allem darum, Lebensmüden Zuwendung und gesellschaftliche Solidarität zukommen zu lassen. Mehrere Abgeordnete des Deutschen Bundestages hatten diese Grunderfahrung bei der Debatte um das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung auf die Formel gebracht: „Der Mensch will an der Hand eines Menschen sterben, nicht durch die Hand eines Menschen.“ So verband der Gesetzgeber die Regelung auch mit einer Förderung des Ausbaus von Hospizen und der palliativmedizinischen Versorgung.

Demgegenüber setzt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seinem Urteil nun ganz auf die Autonomie des Menschen in Fragen von Leben und Tod. „Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen“, heißt es dort. Und dieses Recht beschränke sich nicht nur auf alte oder schwer kranke Menschen am Lebensende. „Es besteht in jeder Phase der menschlichen Existenz.“ Anders gesagt, es schließt auch den 18-Jährigen ein, der aus Liebeskummer oder einem Gefühl der Sinnlosigkeit selbst nach eingehender Beratung seinem Leben ein Ende setzen will.

Nach Auffassung der Richter muss der Staat auch die konkrete Umsetzung ermöglichen, nötigenfalls durch fremde Hilfe – also den assistierten Suizid. Mit der Strafandrohung gegen „geschäftsmäßige“ Sterbehilfe wurde diese Möglichkeit nach Auffassung der Richter aber „faktisch weitgehend entleert“. Zur praktischen Realisierung gehört demnach offenbar auch eine Öffnung des ärztlichen Berufsrechts für die Suizidhilfe sowie eine Anpassung des Betäubungsmittelgesetzes für die Freigabe von Selbsttötungsmitteln. Bislang habe die Mehrheit der Ärzte eine „Bereitschaft zur Suizidhilfe verneint“, hält das Gericht kritisch fest. In der Tat hatte der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, daran festgehalten, dass es nicht Aufgabe des Arztes sein könne, Menschen zum Tod zu verhelfen.

Auf grundsätzliche Kritik stieß der Urteilsspruch vor allem wegen seiner Absolutsetzung des Selbstbestimmungsrechts. „Selbstbestimmung ist weder Synonym noch Kern der grundrechtlich geschützten Menschenwürde, sondern allenfalls einer ihrer Aspekte“, befand der Bonner Staatsrechter Christian Hillgruber in der Tagespost. Noch schärfer formulierte es der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, in der Süddeutschen Zeitung. Er beklagt einen „völlig überhöhten Autonomiebegriff“: „Der Lebensschutz wiegt nichts. Die Waage neigt sich bis zum Anschlag in Richtung uneingeschränkter Autonomie.“ Der assistierte Suizid sei bislang in Ausnahmesituationen ein Abwehrrecht gewesen, ein Schutz vor unerträglicher Qual am Lebensende. „Das Verfassungsgericht aber macht daraus ein Anspruchsrecht auf Verwirklichung: Suizid unproblematisch realisieren zu können, wird vom Verfassungsgericht geradezu als Besiegelung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Menschenwürde ausgelegt.“ Nach Dabrocks Auffassung verkehrt dies alles, „was das Gericht bislang über Menschenwürde gesagt hat“: „Es ist ein radikaler Bruch mit der bewährten Rechtskultur, die Selbstbestimmung achtet und schützt, aber immer auch lebensschutzfreundlich ausgelegt hat.“

„Der Mensch will an der Hand eines Menschen sterben, nicht durch die Hand eines Menschen.“

Für den Vorsitzenden des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes, Winfried Hardinghaus, geht das Gericht mit seinem Freiheitsbegriff an der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Suizidwunsch vorbei. „Die tatsächliche Freiheitsverantwortlichkeit, wie sie in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Bedingungskriterium genannt wird, ist bei Menschen, die den Tod suchen, schwer zu eruieren und häufig auch gar nicht vorhanden.“ Der Wunsch sei oft ein Hilfeschrei und ändere sich nach wenigen Tagen im Hospiz, so die Erfahrung von Experten.

Die Bischöfe sehen in dem Urteil „einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur“. Sie befürchten nun, „dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen. Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.“

Eine Sorge, die von Umfragen bestätigt wird. So äußerten bei einer jüngsten repräsentativen Studie des Utrechter Instituts für Care Ethics statisch hochgerechnet 10.000 Niederländer über 55 Jahren, ihr Leben frühzeitig beenden zu wollen. Als Gründe nannten die meisten Einsamkeit, die Sorge, anderen zur Last zu fallen, oder Geldsorgen. Für die Bischöfe zeigt sich demgegenüber „die Qualität einer Gesellschaft gerade in der Art und Weise, wie wir einander Hilfe und Unterstützung sind“. Deshalb rufen sie dazu auf, weiterhin „Menschen in besonders vulnerablen Situationen Fürsorge und Begleitung anzubieten“. „Neben den bereits bestehenden und weiter auszubauenden Angeboten palliativer und hospizlicher Versorgung gehört dazu auch zunehmend die Frage, wie wir Menschen, die einsam sind, Hilfe anbieten und sie seelsorglich begleiten können.“

Nicht nur die Bischöfe warnen, dass Selbsttötung nicht zur Normalität werden dürfe. Das Bundesverfassungsgericht selbst verweist darauf, dass der Gesetzgeber die Suizidbeihilfe mit Aufklärungs- und Wartepflichten, Erlaubnisvorbehalten und dem Verbot besonders gefahrenträchtiger Formen der Suizidhilfe versehen könne. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) drängt nun auf eine entsprechende Regelung noch vor der nächsten Bundestagswahl. Das Verfassungsgericht hat mit seiner weitreichenden Auslegung des Selbstbestimmungsrechts allerdings die Grenzen so weit verschoben, dass Fachleute hier nur wenig Spielraum sehen. Ganz im Gegenteil, sie stellen eher die Frage, wie unter den neuen Vorzeichen die aktive Sterbehilfe noch untersagt werden kann, wenn etwa ein Sterbewilliger nicht in der Lage ist, sich selbst das tödliche Mittel zu verabreichen.