Ich habe vor der Dankbarkeit kapituliert

Gabriele aus Bergamo ist es gelungen, seine Mutter auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Heimlich. Er ist dankbar für ihr Leben. Aber auch für das so vieler alter Menschen – der wahre Reichtum eines Landes wie Italien.
Gabriele, Bergamo

Gestern haben wir meine Mutter auf ihrem letzten Weg begleitet. Heimlich. Fast meine ganze Familie war dabei. Unsere Mutter ist jetzt da, wo sie seit vielen Jahren hinwollte. Und ich möchte mir das bewahren, was ich besonders in diesen letzten Tagen gelernt habe. Ehrlich gesagt, gehe ich dabei, wie so oft, von einer Intuition meiner Frau aus. Sie erklärte heute Morgen kurz und bündig: „Deine Mutter ist eine Frau, die uns viel mehr gegeben hat, als was uns durch ihre Abwesenheit fehlen wird.“ Sie hinterlässt uns ein Erbe an Menschlichkeit, Glauben, Freude, auch in den schwierigen Prüfungen, die sie in ihrem Leben bestehen musste. Dankbarkeit war der erste Gedanke, der heute früh in mein Herz strömte. Und nicht nur in meins, da meine Frau das gleiche dachte.

Im Gegensatz zu der Selbstverständlichkeit, mit der wir normalerweise leben – sie ist die größte Ungerechtigkeit uns selbst gegenüber, aber auch dieser ganzen so geschundenen Nation gegenüber –, bleibt eigentlich nur, vor der Dankbarkeit zu kapitulieren. Dankbarkeit ist die erhabenste Form des Realismus. Ich habe nie so stark wie in diesen Tagen gespürt, wie wahr es ist, dass wir uns nicht selbst geschaffen haben. Gibt es ein einziges Haar auf unserem Kopf, von dem wir beschlossen haben, dass es ist? Sogar das Atmen, das durch diese Lungenentzündung erschwert wird, habe ich einen Anspruch darauf? Gibt es vielleicht eine echte Zuneigung in meinem Leben, die durch meine eigene Entscheidung entstanden ist? Es wäre unglaublich naiv, das zu behaupten, wie ein verwöhntes Kind. Aber wie oft sind wir so naiv, wenn wir zerstreut sind. Dann denken wir, unsere Rolle in der Geschichte sei nicht, für das zu danken, was wir haben, und mit dem Wenigen, was wir haben und tun können, an Gottes Schöpfung teilzunehmen. Wir verfallen sofort ins Selbstverständliche. Als hätten wir ein Anrecht auf das, was wir besitzen … Wo bitte steht das? Nicht in der Natur und nicht in der Wirklichkeit. Am Ende ist es wie im Paradies: Der Mensch ist so in Gnade gebettet, dass er sagt: Das alles gehört mir. Und es stimmt ja auch! Alles ist für ihn geschaffen, auf dass er glücklich werde. Aber wenn er es sich unrechtmäßig aneignet, dann verliert er alles. Es geht hier mehr um Realismus als um Glauben. Es geht darum zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind.

Das Leben ist nämlich kein Recht. Es ist ein Geschenk, für das wir dankbar sein müssen, in welcher Lage auch immer wir sind.

Diese Lektion habe ich von meiner Mutter gelernt. Sie war Bäuerin, dann Arbeiterin, dann Hausfrau und Mutter. Eine geliebte Tochter hat sie im Alter von 17 Jahren verloren und dann ihren geliebten Mann. Ihr „Warum?“ hat sie stets mannhaft an den Herrn gerichtet, der alles in der Hand hält. Sie hat kein Geschrei veranstaltet und nie die Augen und das Herz von der Wirklichkeit abgewandt. Sogar in ihren letzten Tagen hat sie wie eine Löwin gekämpft. Sie hat sich nicht gehen lassen. Sich gehen zu lassen, um nicht leiden zu müssen, fand sie unchristlich. Das Leben ist nämlich kein Recht. Es ist ein Geschenk, für das wir dankbar sein müssen, in welcher Lage auch immer wir sind.
Was ich bin, verdanke ich Gott, auch durch meine Mutter. Das war mir noch nie so klar wie jetzt, da sie nicht mehr da ist. Da sie präsenter ist als zuvor! „Deine Mutter hat uns mehr geschenkt, als uns durch ihren Weggang genommen wird.“ So ist es.

Aber ich möchte auch über die Grenzen meiner Familie hinausschauen. Durch diesen Abschied habe ich auch eine nie zuvor gekannte Liebe zu diesem unserem Italien gespürt. Die schlechten Nachrichten verfolgen uns, aber sie lassen auch ein Gemeinschaftsgefühl erkennen, wie wir es noch nie erlebt haben.

Warum sterben so viele alte Menschen in Italien? Weil sie so lange gelebt haben, weil es ihnen so gut ging, weil sie umsorgt wurden, und vor allem, weil es um sie herum so viele Menschen gab, die sie liebten. Das sucht weltweit seinesgleichen, denke ich. Wir rechnen damit, wirtschaftliche Verluste zu erleiden. Aber unsere alten Menschen sind ein viel kostbareres Gut. Wirtschaftlich werden wir uns wieder erholen. Aber jetzt sollten wir uns unserer älteren Mitbürger annehmen, wie wir es immer getan haben. Das ist nicht nur eine Frage der Effizienz des Gesundheitssystems. Es ist nicht nur eine Frage der wissenschaftlichen Forschung. Das auch. Aber diese ganze Stärke Italiens entspringt seinem Herzen. Einem Herz, das sich in Bewegung setzt, sich berühren lässt, sich opfert, das nie gleichgültig wird. Das ist ein Erbe unserer Geschichte, die so tief vom Christentum und der katholischen Kirche durchdrungen ist.

Ich bin kein Traditionalist. Das bin ich nie gewesen. Jede Art von Nostalgie und Sich-Abgrenzen im Namen der Vergangenheit regt mich auf. Das Christentum hat mit der Gegenwart zu tun und ist neugierig zu sehen, wie Christus heute handelt. Jetzt! Aber in diesem Jetzt und Heute kann es natürlich seine Geschichte, seine DNA nicht verleugnen.

Meine Mutter wusste das, sie hat immer danach gelebt. Und meine Frau, die sie Tag für Tag gepflegt hat und ihr in ihrem Todeskampf Stunde um Stunde beigestanden ist, auch. Wir hoffen, dass diese Erfahrung Bestand hat, dass sie sich auch unseren Kindern und Enkelkindern vermittelt. Einen solchen Reichtum kann man nicht auf der Bank ansparen, er hat nichts mit Kapital und Börsenkursen zu tun. Aber letzten Endes erweist er sich als der einzig wahre Reichtum, der uns nützt und die Welt aufrechterhält. Gott schütze unsere Eltern!

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