In einer "Villa" in Buenos Aires

Gemeinsam gegen das Virus in den Villas

Auch in den Elendsvierteln von Buenos Aires wächst die Angst vor dem Coronavirus. Eine Gruppe von Priestern, die seit Jahrzehnten in diesen Villas leben, kümmert sich auch in Zeiten der Pandemie um die Menschen und ihre Nöte.
Monica Poletto

Charly Olivero ist ein cura villero, Pfarrer in der Villa 21, einem Armenviertel südöstlich von Buenos Aires. Villas (oder villa miseria, wörtlich „Elendsviertel“) nennt man in Argentinien informelle Siedlungen aus provisorischen Behausungen an den Rändern der großen Städte. Ihre Bewohner müssen meist ohne Strom, fließendes Wasser und Sanitäranlagen auskommen. In vielen dieser Ansiedlungen leben, zum Teil schon seit Jahrzehnten, curas villeros, Priester, die sich zusammen mit vielen Freiwilligen um die Menschen unter diesen prekären Bedingungen kümmern.

Die Methode dieser Priester lässt sich zusammenfassen in dem Motto: „Das Leben nehmen, wie es kommt“. Sie versuchen, ihre Leute gewissermaßen „von Mensch zu Mensch“ zu begleiten, jeden einzelnen auf seine besondere Art. Denn jedes Leben ist anders, wie sie sagen. Dass sie in den Villas leben, ermöglicht ihnen, was Charly Olivero die „Pädagogik der Präsenz“ nennt. So wird mit der Zeit ein ganzheitliches Bild der einzelnen Person sichtbar, und der gute Plan, den Gott mit ihr hat.

Aus dieser Methode entstanden auch die inzwischen mehr als 200 Hogares de Cristo, Zentren, die dazu beitragen sollen, dass „niemand allein ist, jeder sich geliebt fühlt und andere liebt“. Viele schaffen es in den Hogares auch, von den Drogen wegzukommen, einer der größten Geißeln in den Villas.

In Zeiten der Pandemie wächst natürlich die Sorge, dass sich das Coronavirus auch dort ausbreiten könnte. Unter diesen prekären Verhältnissen gibt es praktisch keine Möglichkeit zur Isolation und erst recht kein funktionierendes Gesundheitssystem. So könnte sich das Virus exponentiell ausbreiten. Daher versuchen die curas, ausgehend von den Bedingungen in den Villas, so konkret auf die Situation zu reagieren, wie es auch sonst ihre Methode ist. Denn „Abstraktion verengt den Blick und führt zu unzureichenden Antworten, die nicht die ganze Person und die ganze Wirklichkeit einbeziehen“, sagt Olivero.



Wir haben ihn gebeten, uns zu berichten, wie sie sich konkret vorbereiten und versuchen, die Menschen in ihrer Villa zu schützen. „In den Villas wohnen sehr viele Menschen auf engem Raum. Viele arbeiten als Tagelöhner. Daher müssen sie täglich rausgehen, sonst haben sie nichts zu essen. Außerdem können sie ihr Haus nicht alleine lassen, da sie keine Eigentumsrechte haben. Das Haus ‚gehört‘ der Person, die darin wohnt, und wenn sie es verlässt, kann es von jemand anderem besetzt werden. Jeder Versuch, die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern, muss von dieser konkreten Lage ausgehen. Sonst wäre er völlig wirkungslos.“

Damit die Menschen also ihr Haus nicht verlassen müssen, brauchen sie vor allem etwas zu essen. Deshalb bauen die Verantwortlichen der Hogares de Cristo die Suppenküchen aus und sammeln Lebensmittel, die sie den Leuten nach Hause bringen. Viele Freiwillige helfen ihnen beim Verpacken und Verteilen der Lebensmittel sowie beim Kochen. Denn die curas villeros wollen nicht irgendwelche Hilfsprojekte umsetzen, die von oben kommen und die Leute als „Hilfsbedürftige“ abqualifizieren. Ihre Methode beruht vielmehr darauf, dass man etwas gemeinsam tut.

Wer also zu Hause bleiben muss, bleibt zu Hause. Diejenigen, die helfen können, versuchen, alle Vorkehrungen zu treffen, die auch hier in Argentinien notwendig sind, um die Pandemie zu bekämpfen. Dazu gehören auch die selbstgenähten Masken, die (auch dank italienischer Hilfswerke) jetzt angefertigt und verteilt werden. „Neben der Verteilung von Lebensmitteln müssen wir uns auch mit dem Problem der räumlichen Enge befassen“, erklärt Charly Olivero. „Denn das gefährdet vor allem die Schwächsten, in diesem Fall die älteren Menschen. Daher haben wir zum Teil Räume der Pfarrei und die Hogares in Zufluchtsorte verwandelt, wo ältere Menschen von ihren Familien getrennt leben können, zusammen mit Freiwilligen, die sich mit ihnen isolieren und sich um sie kümmern. Die Gemeinschaft versorgt sie mit Lebensmitteln und Medikamenten.“ Ältere Menschen, die allein leben, können dagegen ihr Zuhause nicht verlassen, weil sie riskieren würden, dass es ihnen genommen wird. Die werden zu Hause mit dem Nötigsten versorgt.

Dann sind da noch die vielen Menschen, die auf der Straße leben und keine Unterkunft haben. Auch für sie gibt es Orte, an denen sie sich aufhalten können. Menschen, die schwere Symptome entwickeln, werden in Krankenhäuser gebracht. „Für die vielen mit leichten Symptomen hingegen, um die das Gesundheitssystem sich nicht kümmern kann und die andere anstecken würden, haben wir auch Möglichkeiten der Isolation geschaffen“, berichtet Olivero. „Auch sie versorgen wir zu Hause mit Nahrung und Hilfsgütern.“

Was wie eine riesige Organisation anmutet, ist nichts anderes als eine Gemeinschaft, die sich selbst um ihre schwächsten Glieder kümmert und versucht, auf die Probleme in der Villa zu reagieren, sei es nun Hunger, Drogen oder eine Pandemie. Olivero weiß, dass den Menschen in den Villas die Pandemie etwas ganz Fernes scheint. In einem kulturellen Gefüge, das aus warmherzigen und tiefen menschlichen Beziehungen bezieht, sind Kontaktbeschränkungen eigentlich undenkbar.

Aber die Jahre, in denen die curas mit den Menschen hier schon das Leben teilen, haben Vertrauen geschaffen. Dadurch können sie ihren Gesprächspartnern dieses Problem leichter nahebringen. Im Vergleich zu den Herausforderungen, die das tägliche Leben in einer Villa mit sich bringt, scheinen sie eh klein zu sein. „Neben der pastoralen Begleitung mussten wir schon immer auch die prophetische Dimension der Kirche einbeziehen, also auf Probleme und bestimmte Aspekte der Wirklichkeit hinweisen. In der lateinamerikanischen Theologie spielt diese Dimension eine große Rolle. Eines ihrer Vorbilder ist Johannes der Täufer, der Rufer in der Wüste. Wir haben festgestellt, dass die von der Regierung angeordneten Maßnahmen und die Art, wie sie formuliert waren, von den Menschen in den Armenvierteln nicht verstanden wurden. Daher konnten sie sie oft nicht nachvollziehen. Diese Maßnahmen hätten sogar zu enormen gesundheitlichen Problemen in den Villas führen können. Deshalb haben wir mit den Institutionen gesprochen, ihnen die Lage erklärt und unsere Hilfe angeboten. Daraus ist eine Zusammenarbeit entstanden, die, unserem Eindruck nach, auch eine Änderung der Politik bewirkt hat.“

Es ist bewundernswert, mit wie viel Engagement die Leute hier anpacken. Das hätte keine Institution alleine erreichen können. „Die Institution ist wichtig“, sagt Olivero, „aber viel wichtiger ist die Gemeinschaft, die Bindungen schafft. Sie entscheidet darüber, wie man reagiert. Die Institution arbeitet mit der Gemeinschaft zusammen und liefert die spezifischen Antworten, die wir nicht geben können. Aber sie kann weder Gemeinschaft erzeugen noch sie ersetzen. Denn der Blick auf das Ganze der Person erwächst genau aus dieser liebevollen Beziehung, die wir in der Gemeinschaft leben.“