Das Herz bleibt gleich
Für viele unserer Leser ist es seit über vierzig Jahren Tradition, in der zweiten Augusthälfte zum Meeting für die Freundschaft unter den Völkern nach Rimini zu fahren. Das sind Tage voller Begegnungen, von denen man oft verändert zurückkehrt.In diesem Jahr gilt das nicht, aufgrund der Corona-Pandemie. Auch das Meeting muss völlig umorganisiert werden. „Alles ist anders, nur das Herz nicht“, sagt Bernhard Scholz*, seit März Präsident der Stiftung, die das Meeting veranstaltet.
Normalerweise kommen in der dritten Augustwoche bis zu 700.000 Teilnehmer und Hunderte von Gästen auf das Messegelände von Rimini. Daher kann man sich leicht vorstellen, was für eine immense Aufgabe es wäre, eine solche Veranstaltung „corona-tauglich“ zu machen. Aber die großen Themen, wie die Wirtschaft, Europa, die Arbeitswelt, mit denen sich das Meeting regelmäßig beschäftigt, sind alle eher brennender geworden. Daher war es keine Option, es einfach ausfallen zu lassen. So haben die Organisatoren mitten im Lockdown beschlossen, eine Special Edition aufzulegen. Unter dem im vergangenen Jahr beschlossenen Motto: „Des Staunens beraubt, bleiben wir dem Erhabenen gegenüber taub“ werden vom 18. bis 23. August 2020 Vorträge, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Konzerte, Theateraufführungen stattfinden – allerdings fast ausschließlich online.
Wir haben mit dem neuen Präsidenten über die Herausforderungen gesprochen, die Organisation und Durchführung des Kulturfestivals unter diesen besonderen Umständen darstellen.
Herr Scholz, was hat Sie dazu bewogen, das Meeting 2020 doch durchzuführen, wo so viele andere Veranstaltungen abgesagt werden?
Während die Hälfte der Weltbevölkerung zu Hause eingesperrt war, wurde uns klar, dass die Einschränkungen und das Leid viele Fragen aufwarfen: nach dem Sinn des Lebens, nach der Zukunft, im Bezug auf die Arbeit, die Erziehung der Kinder ... Existentielle Fragen aller Zeiten, die sich nun auf neue Weise auftaten. Vieles, was wir für selbstverständlich hielten, war es nicht mehr. Dadurch wurde uns bewusst, dass das Meeting, das seiner Natur nach ein Ort des Dialogs ist, eine Gelegenheit sein könnte, oder besser gesagt sein sollte, diese Fragen gemeinsam anzugehen und Erfahrungen auszutauschen, die aufzeigen könnten, was beim Wiederaufbau wirklich hilft.
Diese Fragen betreffen das persönliche Leben und die ganze Gesellschaft, oder?
Ja. Während des Lockdowns hörte man immer wieder den Slogan „Alles wird gut“. Das sollte wenigstens einen Funken Hoffnung verbreiten. Aber was ist Hoffnung? Einfach Optimismus? Oder gibt es etwas, das dem Leben selbst in den schwierigsten Situationen Bestand gibt? Das gilt für unser persönliches Leben, aber auch etwa für die Schule oder die Wirtschaft. Wollen wir alles wieder genauso machen wie vorher? Oder wollen wir eine neue Richtung einschlagen? Kann man die Schule anders gestalten? Können wir eine ökologisch und sozial nachhaltigere Wirtschaft schaffen? Welche Veränderungen sind in den Gesundheitssystemen nötig? Und was ist mit Europa? Was wollen wir erreichen, wenn wir über Solidarität unter den Ländern sprechen? Diese Krise hat auch Fragen zum Schicksal der Demokratie aufgeworfen: Wie kann das Volk, verantwortlich und frei, am Aufbau seines Landes teilnehmen und dessen Zukunft mitgestalten?
Sie mussten wahrscheinlich irgendwann eine mutige Entscheidung treffen ...
In der zweiten Märzhälfte, inmitten des Lockdowns, haben wir beschlossen: Wir werden das Meeting machen, selbst wenn es noch die strengsten Beschränkungen gibt. Etwas ganz Entscheidendes stand auf dem Spiel. Je mehr Probleme auftraten, desto klarer schien es uns, dass das kulturelle Erbe des Meetings (eine Geschichte von 40 Jahren) eine ganz wichtige Ressource darstellt. Selbst wenn wir alles anders machen müssten. Und tatsächlich haben wir fast alles verändert. Nur das Herz des Meetings bleibt dasselbe.
Wenn es nun fast ausschließlich online stattfindet, was bleibt dann vom Meeting, das ja eigentlich von der Begegnung zwischen Menschen lebt?
Es gibt objektive Beschränkungen, um die wir nicht herumkommen. Aber das Wesen des Meetings bleibt das gleiche. Viele, die aus logistischen Gründen nie kommen konnten, können es jetzt per Livestream verfolgen. Und ich bin sicher, dass wir in diesem Jahr eine bewusstere Teilnahme erleben werden, die stärker von den Fragen ausgeht, die alle bewegen.
Wie meinen Sie das?
Jeder wird sich entscheiden müssen, ob er sich einschalten will, sei es von zu Hause oder aus dem Urlaub, oder nicht. Die Teilnahme wird weniger selbstverständlich sein. Gerade das könnte uns paradoxerweise einander näherbringen. Vielleicht entdecken wir uns damit leichter als Teil einer Gemeinschaft von Menschen, die sich für ihr Leben, ihre Arbeit, das Schicksal Italiens, Europas, der Welt leidenschaftlich interessieren.
Sie sagten, Sie hätten fast alles anders machen müssen. Woher nehmen Sie und die anderen Organisatoren die Energie für Ihren Einsatz?
Wir haben gespürt, dass in uns die Leidenschaft wieder auflebte, aus der das Meeting ursprünglich entstanden ist. Die Leidenschaft, im Dialog mit anderen den Sinn dessen zu entdecken, was um uns herum geschieht. Das ist eine wesentliche gegenseitige Bereicherung. Angesichts der dramatischen Situation ist uns noch klarer geworden, welchen Wert das Meeting in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hatte.
Worin liegt dieser Wert?
Der Wert liegt darin, die Menschen angesichts der Herausforderungen des Lebens und der Geschichte zu unterstützen, ihre Fragen ernst zu nehmen, und ihnen zu helfen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Zu Beginn der 1980er-Jahre war es zum Beispiel die Begegnung mit den Freiheitsbewegungen in Osteuropa. Dafür gibt es viele Beispiele. Heute spielt sich das Drama eher in unserem eigenen Haus ab.
Woraus erwächst diese Leidenschaft?
Aus der Faszination für die Schönheit und Fülle des menschlichen Lebens, die auch in seinen Widersprüchen zum Ausdruck kommt. Das zeigen die vielen Zeugnisse, die wir im Laufe der Jahre gehört haben, aber auch besonders bewegend in den vergangenen Monaten. Das sind Dinge, die das persönliche Leben betreffen, aber auch Gesellschaft, Politik und Wirtschaft.
Ein Neustart fußt also nicht in erster Linie auf einer Willensanstrengung.
Genau. Und das gilt nicht nur für unsere Veranstaltung. Es reicht nicht, einfach neu anfangen zu wollen. Das wäre verlorene Zeit. Das hat sich übrigens schon nach den ursprünglichen Solidaritätsbekundungen in den Wochen des Lockdowns gezeigt.
Worauf beziehen Sie sich da?
Ich denke an die Spaltungen, die sich in vielen Fragen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens gleich wieder auftaten. Natürlich ist der Dialog eine Herausforderung, das ist kein leichter Weg. Aber es ist der einzige Weg, wenn es nicht nur um unsere eigenen Interessen gehen soll, sondern um das Wohl aller.
Ist das Motto des diesjährigen Meetings („Des Staunens beraubt, bleiben wir dem Erhabenen gegenüber taub“), das ja beschlossen wurde, bevor die Pandemie ausbrach, nicht etwas anachronistisch?
Wir hatten zunächst auch Zweifel. Aber sie wurden schnell zerstreut durch das Paradoxe, das dieses Motto zum Ausdruck bringt. Selbst in einem so schwierigen Moment hat sich erwiesen, dass das Staunen über die Wirklichkeit eine unbezwingbare Unternehmungslust hervorbringt. Auch wenn man „nur“ darüber staunt, dass man selber und andere existieren, kann man aus Quellen der Menschlichkeit schöpfen, von denen wir in normalen Zeiten nicht einmal ahnen, dass es sie gibt. Ohne dieses Staunen ist ein Neuanfang unmöglich. Sonst ist alles nur Berechnung: das wiederzubeleben, was wir schon immer getan haben, und dabei vor allem unsere eigenen Interessen zu wahren. Allerdings dürfen wir das Staunen nicht dadurch zunichte machen, dass wir es auf ein reines Gefühlsphänomen reduzieren.
Was ist die Gefahr dabei?
Das Staunen erwächst aus dem Bewusstsein, dass uns das, was wir vor Augen haben, geschenkt ist. Dass es für mich ist. Wenn wir dies anerkennen, kommen Gefühl und Vernunft zusammen. So öffnen wir uns wieder für die wichtigsten Fragen des Lebens und können mit allen in Dialog treten.
Und was ist mit dem Erhabenen?
Auch das wird oft als etwas Vergängliches angesehen. Es verweist hingegen auf den Sinn, der allem Bestand verleiht. Warum haben zum Beispiel während der Quarantäne so viele Menschen den Wert von Kunst und Literatur wiederentdeckt? Weil sie sich wieder auf die Suche nach dem Sinn des Lebens gemacht haben, nach der Bedeutung des Sterbens, nach den fehlenden Gewissheiten, und dabei sind sie intuitiv der Anziehungskraft des Schönen gefolgt. Das Motto des diesjährigen Meetings ist ein Satz des jüdischen Philosophen Abraham Heschel, der für bessere Zeiten geeignet scheinen mag. Aber ganz im Gegenteil: Es ist ein beinahe prophetisches Motto, denn es hilft uns, die Probleme vom richtigen Standpunkt aus anzugehen.
Wieso ist das der richtige Ausgangspunkt?
Um die Grundfragen, die wieder aufgetaucht sind, und die neuen Fragen zu behandeln, ist es wichtig, dass man die Person in den Mittelpunkt stellt. Die Fragen, die sich angesichts der Wirklichkeit erheben, öffnen uns für das Erhabene und damit für die Suche nach dem Guten, dem Schönen, dem Wahren. Wenn man staunen kann, dann taucht das auf wie eine Verheißung. Das ist die Dynamik, die das Wesen des Menschen ausmacht. Denn es geht hier um das einzelne Subjekt. Wir mögen viele schöne Pläne haben, aber welches Subjekt setzt sie um? Welches Subjekt ist zu einer wirksameren Erziehung in der Lage? Welches Subjekt kann eine gerechtere Gesellschaft oder eine nachhaltigere Wirtschaft aufbauen? Welches Subjekt kann ein besseres Gesundheitssystem schaffen? Welche Personen können eine lebendigere Demokratie hervorbringen? Jeder muss seine eigene Berufung als Mensch wiederentdecken: die Berufung, jemand zu sein, etwas zu schaffen, sich zu engagieren, und darin zu reifen und seine Erfüllung als Subjekt zu finden.
Wie übersetzt sich das in das Programm, das Sie ausgearbeitet haben?
Bei der Veranstaltung zum Motto des diesjährigen Meetings wird Joseph Weiler sprechen, ein amerikanischer Verfassungsrechtler, der uns schon oft mit seinen Gedanken zu Gerechtigkeit und Freiheit oder mit seinen faszinierenden Interpretationen der Bibel bereichert hat. Das Thema „Hoffnung“ ist Julián Carrón anvertraut, der in den letzten Monaten vielen Menschen geholfen hat, diesen dramatischen Moment als Chance zum „Wiedererwachen des Menschlichen“ zu leben.
Die Präsentation des Buches L'abbraccio [Die Umarmung] des spanischen Anthropologen Mikel Azurmendi wird sicher ein wichtiger Moment sein. Er zeigt nämlich auf, dass eine einschneidende und dauerhafte Veränderung nicht von einem abstrakten Plan ausgehen kann, sondern nur von einem neuen Subjekt, das in der Gegenwart aufsteht. Auch der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus wird unser Gast sein. Er wird uns darlegen, wie die Veränderungen, die uns erwarten, die Substanz des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens betreffen. Wir werden außerdem Zeugnisse von Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt hören, die in unterschiedlichen Bereichen kreativ und engagiert mit schwierigen Umständen fertig werden.
Aber ich denke, alle Redner werden uns daran teilhaben lassen, wie sie selbst diesen „Epochenwechsel“ erleben, um einen Ausdruck von Papst Franziskus zu verwenden. Außerdem wird es mehrere Veranstaltungen zur Enzyklika Laudato si’ geben, die vor fünf Jahren veröffentlicht wurde.
Lassen Sie uns noch über die Ausstellungen und Theateraufführungen sprechen. Wird es welche geben?
Es wird sie in digitaler Form geben, auf unserer Website. Zwei Ausstellungen werden im Kongresssaal von Rimini auch physisch zu sehen sein: „Vivere il reale“ [„Die Wirklichkeit leben“], die sich mit dem zehnten Kapitel des Religiösen Sinns von Don Giussani beschäftigt, und „Bethlehem Reborn“, über die Geschichte der Geburtsbasilika. Außerdem wird es eine Ausstellung zur Besteigung des K2 geben, ein Symbol für die Faszination, die die Schönheit der Natur auf uns ausübt.
Ein weiteres Thema, das teilweise in Form einer virtuellen Ausstellung behandelt wird, ist „Essere viventi“ [„Lebewesen“]. Dabei geht es um die Eigenschaften des Lebens als solchem. Dann gibt es auch Konzerte und Theateraufführungen, die an Beethoven, Dostojewski und Fellini erinnern werden. Außerdem werden junge Musiker aus ganz Europa ein virtuelles Konzert geben.
Was ist mit den 3.000 Freiwilligen aus früheren Jahren?
Einige werden in Rimini sein, etwa 150 Personen, aus der Gegend oder mit technischen Fähigkeiten, wie wir sie in diesem Jahr besonders brauchen. Andere werden aus der Ferne ihren Beitrag leisten. All diejenigen, die nicht nach Rimini kommen können, haben trotzdem die Möglichkeit, auf verschiedene Weise teilzunehmen und als „Botschafter“ zur Verbreitung des Meetings in Italien wie im Ausland beizutragen. Sie können die Inhalte im Internet teilen und, so weit möglich, auch Treffen für kleine Gruppen organisieren, bei denen man – unter Beachtung der Hygienemaßnahmen – gemeinsam die Veranstaltungen in Rimini verfolgen kann.
Herr Scholz, dies ist Ihr erstes Meeting als Präsident. Mit einem solchen Start haben Sie wahrscheinlich nicht gerechnet. Was wünschen Sie sich heute für sich und für das Meeting?
Ich wünsche mir, dass dieses Meeting ein Moment wird, bei dem wir das wiederentdecken, was im Leben wirklich wichtig ist. Und dass diese Wiederentdeckung dazu führt, dass sich möglichst viele Menschen frei, leidenschaftlich und klug dafür einsetzen, diesen geschichtlichen Moment zu einer Chance zu machen für die Veränderung und Reifung des Menschlichen, angefangen vom persönlichen Leben des einzelnen, bis hin zur ganzen Gesellschaft. Denn das Herz des Meetings ist letztlich die Sehnsucht des Menschen nach einem erfüllten Leben – für alle.
*Bernhard Scholz wurde 1957 in Müllheim/Baden geboren und hat Politikwissenschaften und Philosophie studiert. Seit März 2020 ist er Präsident der Stiftung Meeting für die Freundschaft unter den Völkern. Er ist als Unternehmensberater tätig und hat zuvor journalistisch gearbeitet. Von 2008 bis 2020 leitete er den italienischen Unternehmensverband Compagnia delle Opere.