Der Papst an das Meeting „Das Leben ohne Staunen wird grau“

Das Thema des diesjährigen Meetings stellt eine „entscheidende Herausforderung für die Christen dar, die aufgerufen sind, die tiefe Anziehungskraft zu bezeugen, die der Glaube aufgrund seiner Schönheit ausübt: 'die Anziehungskraft Jesu'“.

Anlässlich der 41. Ausgabe des Meetings für die Freundschaft unter den Völkern, das am 22. August in Rimini zum Thema "Des Staunens beraubt, bleiben wir dem Erhabenen gegenüber taub" eröffnet wurde, sandte Papst Franziskus die folgende Botschaft über Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin an den Bischof von Rimini, Monsignore Francesco Lambiasi:

Aus dem Vatikan, 5. August 2020

Hochwürdigste Exzellenz,

der Heilige Vater möchte durch Sie der 41. Ausgabe des Meetings für die Freundschaft unter den Völkern, die hauptsächlich digital stattfinden wird, viel Erfolg wünschen. Die Organisatoren und alle Teilnehmer versichert Papst Franziskus seiner Nähe und seines Gebetes.

Wer hat sich durch die dramatische Erfahrung der Pandemie nicht allen Menschen verbunden gefühlt? „Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind […]. Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen.“ (Franziskus, Besondere Andacht in der Zeit der Epidemie, Petersplatz, 27. März 2020)

Der diesjährige Titel des Meetings, „Des Staunens beraubt, bleiben wir dem Erhabenen gegenüber taub“ (A. J. Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 193), leistet einen wertvollen und originellen Beitrag in einem schwindelerregenden Moment der Geschichte. Auf der Suche nach Gütern mehr als nach dem Guten hatten sich viele ausschließlich auf ihre eigenen Stärken verlassen, auf die Fähigkeit, zu produzieren und zu verdienen, und dabei auf jene Haltung verzichtet, die bei Kindern den Kern ihres Blickes auf die Wirklichkeit ausmacht: das Staunen. In diesem Zusammenhang schrieb G. K. Chesterton: „Die unergründlichsten Schulen und weise Männer haben niemals die Tiefe erreicht, die in den Augen eines drei Monate alten Kindes wohnt. Es ist die Tiefe des Staunens über die Welt, und Staunen über die Welt ist nicht Mystizismus, sondern transzendenter Menschenverstand.“ (Verteidigung der Kinderanbetung, in: G. K. Chesterton, Gesammelte Werke, e-artnow, 2014, S. 1060)

Das erinnert uns an die Aufforderung Jesu, wie die Kinder zu werden (vgl. Mt 18,3), aber auch an das Staunen vor dem Sein, das im antiken Griechenland das Prinzip der Philosophie war. Dieses Staunen, das das Leben in Bewegung setzt und ihm erlaubt, unter jedweden Umständen neu zu beginnen, „ist das für den Jahresanfang angemessene Verhalten, weil das Leben ein Geschenk ist, das uns die Möglichkeit gibt, immer wieder neu anzufangen“, wie Papst Franziskus gesagt hat. Er betonte dabei die Notwendigkeit, das Staunen wieder zu lernen: „Das Leben ohne Staunen wird grau und eintönig, ebenso der Glaube. Und auch die Kirche muss immer neu das Staunen über die Tatsache lernen, Wohnung des lebendigen Gottes, Braut des Herrn, Kinder gebärende Mutter zu sein.“ (Franziskus, Predigt am Hochfest der Gottesmutter Maria, 1. Januar 2019)

In den letzten Monaten haben wir jene Dimension des Staunens erlebt, die sich im Mitgefühl angesichts des Leidens, der Zerbrechlichkeit, der Unsicherheit der Existenz äußert. Dieses edle menschliche Gefühl hat Ärzte und Krankenschwestern dazu geführt, sich der ernsten Herausforderung durch das Coronavirus mit unermüdlichem Einsatz und bewundernswertem Engagement zu stellen. Dieses Gefühl der Zuneigung für ihre Schüler hat viele Lehrer dazu veranlasst, die Mühen des Online-Unterrichts auf sich zu nehmen und damit den Abschluss des Schuljahres zu sichern. Und es hat vielen geholfen, in den Gesichtern und der Gegenwart ihrer Familien die Kraft zu finden, Mühen und Leid anzunehmen.

In diesem Sinne ist das Thema des Meetings ein kraftvoller Aufruf, durch das Staunen in die Tiefen des menschlichen Herzens vorzudringen. Wie sollte man nicht staunen angesichts einer Gebirgslandschaft, oder über die Musik, die die Seele zum Schwingen bringt, oder einfach über die Existenz derer, die uns lieben, und das Geschenk der Schöpfung? Staunen ist wirklich die Weise, wie man die Zeichen des Erhabenen, also jenes Geheimnisses, das die Wurzel und das Fundament aller Dinge darstellt, wahrnehmen kann. In der Tat, stellt „nicht nur das Herz des Menschen ein Zeichen dar, sondern auch die gesamte Wirklichkeit“. „Um sich angesichts der Zeichen Fragen zu stellen, braucht man eine äußerst menschliche Fähigkeit, die erste, die wir als Menschen haben: das Staunen, die Fähigkeit zu staunen, wie es Giussani nennt. […] Nur das Staunen erkennt.“ (J. M. Bergoglio, in: A. Savorana, Vita di don Giussani, Mailand 2014, S. 1034) Deshalb konnte J. L. Borges sagen: „Alle Gefühle vergehen, nur das Staunen bleibt.“



Wenn ein solcher Blick nicht gepflegt wird, wird man blind für das Leben. Man verschließt sich in sich selbst, lässt sich von Vergänglichen bezirzen und hört auf, die Wirklichkeit zu ergründen. Sogar in der Wüste der Pandemie sind Fragen wieder aufgetaucht, die man oft vergessen hatte: Was ist der Sinn des Lebens, des Schmerzes, des Todes? „Der Mensch kann sich nicht mit reduzierten oder Teil-Antworten zufriedengeben, die dazu führen, dass er einen Aspekt der Realität ausblendet oder vergisst. […] Er trägt in sich eine Sehnsucht nach Unendlichem, eine unendliche Traurigkeit, eine Nostalgie […], die sich nur mit einer ebenso unendlichen Antwort zufriedengibt. […] Das Leben wäre eine widersinnige Sehnsucht, wenn es diese Antwort nicht gäbe.“ (J. M. Bergoglio, in: Vita di Don Giussani, a.a.O., S. 1034)

Manche haben sich auf die Suche nach Antworten oder auch nur Fragen zum Sinn des Lebens gemacht, nach dem jeder Mensch strebt, auch ohne sich dessen bewusst zu sein. Es ist also etwas scheinbar Paradoxes passiert: Anstatt ihren tiefsten Durst auszulöschen, hat der Lockdown bei einigen die Fähigkeit geweckt, über Personen und Fakten zu staunen, die sie früher für selbstverständlich hielten. Dieser dramatische Umstand hat uns, zumindest für eine Weile, eine aufrichtigere Wertschätzung für das Leben geschenkt, ohne die Vielzahl an Ablenkungen und Vorurteilen, die sonst den Blick vernebelt, Dinge ausblendet, das Staunen verhindert und uns von der Frage ablenkt, wer wir sind.

Inmitten des Gesundheitsnotstandes erhielt der Papst einen von mehreren Künstlern unterzeichneten Brief, die ihm dafür dankten, dass er bei einer Messe in Santa Marta für sie gebetet hatte. Dazu sagte er: „Die Künstler lassen uns verstehen, was die Schönheit ist, und ohne das Schöne kann man das Evangelium nicht verstehen.“ (Franziskus, Tagesmeditation, 7. Mai 2020) Wie wichtig die Erfahrung des Schönen für das Erkennen der Wahrheit ist, macht unter anderem der Theologe Hans Urs von Balthasar deutlich: „In einer Welt ohne Schönheit […] hat auch das Gute seine Anziehungskraft, die Evidenz seines Getan-werde-müssens eingebüßt; der Mensch steht davor und fragt sich, warum er es tun soll, und nicht lieber das andere, das Böse. Es ist ja auch eine Möglichkeit, die erregendere sogar […]. In einer Welt, die es sich nicht mehr zutraut, das Schöne zu bejahen, haben die Beweise für die Wahrheit ihre Schlüssigkeit eingebüßt, […] das Schließen selbst ist ein Mechanismus, der niemanden fesselt, der Schluss selbst schließt nicht mehr.“ (H. U. v. Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Band I. Schau der Gestalt, Einsiedeln ³1988, S. 17)

Daher stellt das Thema des Meetings eine entscheidende Herausforderung für die Christen dar, die aufgerufen sind, die tiefe Anziehungskraft zu bezeugen, die der Glaube aufgrund seiner Schönheit ausübt: „die Anziehungskraft Jesu“, so ein Ausdruck, den der Diener Gottes Luigi Giussani liebte. Der Heilige Vater hat dazu in dem, was als das programmatische Dokument seines Pontifikats gilt, geschrieben: „Alle Ausdrucksformen wahrer Schönheit können als Weg anerkannt werden, der hilft, dem Herrn Jesus zu begegnen. […] Wenn wir, wie Augustinus sagt, nur das lieben, was schön ist, dann ist der Mensch gewordene Sohn, die Offenbarung der unendlichen Schönheit, in höchstem Maß liebenswert und zieht uns mit Banden der Liebe an sich. Dann wird es notwendig, dass die Bildung in der via pulchritudinis sich in die Weitergabe des Glaubens einfügt.“ (Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 167)

Der Papst lädt Sie daher ein, weiterhin mit ihm zusammenzuarbeiten, um die Erfahrung der Schönheit Gottes zu bezeugen, der Fleisch geworden ist, damit unsere Augen sein Gesicht bewundern und unsere Blicke in ihm das Wunder des Lebens erkennen können. Der heilige Johannes Paul II., dessen hundertstem Geburtstag wir soeben gedacht haben, hat einmal gesagt: „Es lohnt sich, Mensch zu sein, weil du Jesus ein Mensch gewesen bist“ (Predigt, 15. April 1984) Ist diese verblüffende Erkenntnis nicht der größte Beitrag, den Christen leisten können, um die Hoffnung der Menschen zu stützen? Es ist eine Aufgabe, der wir uns nicht entziehen können, vor allem nicht an diesem Wendepunkt der Geschichte. Es ist der Aufruf, die Schönheit durchscheinen zu lassen, die unser Leben verändert hat, und konkrete Zeugen der rettenden Liebe zu sein, besonders für diejenigen, die jetzt am stärksten leiden.

Mit diesen Empfindungen sendet der Heilige Vater Eurer Exzellenz und der gesamten Gemeinschaft des Meetings seinen Apostolischen Segen und bittet darum, auch weiterhin seiner im Gebet zu gedenken. Ich schließe mich an mit einem herzlichen Gruß,

hochachtungsvoll, Ihr
Kard. Pietro Parolin
Staatssekretariat