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USA - Was nun?

Am 3. November sind Präsidentschaftswahlen in den USA, einem zutiefst gespaltenen Land. Nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch die politischen Gegensätze und der wieder aufgebrochene Rassismus haben ihm in den letzten Monaten schwer zugesetzt.
Martina Saltamacchia*

Doch auch hier gilt es vor allem, „auf die Wirklichkeit zu schauen und nicht so sehr auf die eigene Meinung“, wie Carolina sagt, die junge Rektorin einer Schule in Boston.

„Vielleicht wird die Great Eastern“, schrieb der Schriftsteller James Fitzjames Stephen 1859 anlässlich des Stapellaufes des ersten Dampfschiffs für die Transatlantikpassage, „oder einer ihrer Nachfolger den Wellengang des Atlantik bezwingen und die Meere überqueren können, ohne dass die Passagiere das Gefühl bekommen, festes Land verlassen zu haben. Genauso leicht kann man auch den Weg von der Wiege bis zur Bahre gehen. Vielleicht werden der Fortschritt und die Wissenschaft es schaffen, dass Millionen Menschen ohne Sorgen, ohne Schmerzen und ohne Angst leben und sterben können. Sie werden eine angenehme Überfahrt voller geistreicher Gespräche erleben. [...] Aber es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass diese Menschen den großen Ozean kennenlernen werden, über den sie segeln, mit seinen Stürmen, seinen Wracks, seinen Strömungen und Eisbergen, seinen gewaltigen Wellen und starken Winden, so wie ihn diejenigen kennen, die ihm seit Jahren mit ihren kleinen Booten getrotzt haben.“

Für viele Menschen in den USA scheint das Ziel genau so eine komfortable Reise auf der Great Eastern zu sein. Sie versuchen, safe zu bleiben und sich nicht zu sehr vom Leben beunruhigen zu lassen. Doch plötzlich hat der Überseedampfer angehalten: erst Corona, dann die tiefen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie. Und die mangelnde Vertrautheit mit dem großen Ozean, mit dem Handwerk des Lebens, stürzt viele in tiefe Angst und Verunsicherung: Was nun?

Für viele war der erste Versuch einer Antwort, dass sie ihr Leben weiter führen wie bisher, auf der Suche nach einer vermeintlichen „neuen Normalität“. So als wollten sie sich nicht mit dem befassen, was geschieht, und weiter zur Melodie des Orchesters tanzen wie auf der Titanic. Zwei Beispiele: Ende März hat die Regierung mit einer Kraftanstrengung von epochalem Ausmaß 3.000 Milliarden Dollar bereitgestellt, um wichtige Wirtschaftssektoren, kleinere Unternehmen und Arbeitslose mit Darlehen und Subventionen zu unterstützen. In den folgenden Monaten forderten viele eine Fortführung dieser Subventionen, die für Arbeitslose oft sogar höher waren als ihr Gehalt vor der Pandemie. Man geht einfach davon aus, dass die Regierung einen weiterhin unterstützen wird, ohne sich zu fragen, woher diese exorbitanten Summen stammen und wer die daraus resultierenden Schulden je zurückzahlen soll. Eine ähnliche Kurzsichtigkeit findet sich im Bildungsbereich, wo Lehrergewerkschaften den Gouverneuren mit Streiks drohen, die versuchen wollen, die Schulen im September wieder zu öffnen. Die Gesundheit der Lehrer soll geschützt werden auf Kosten der Schüler, die geschlossene Schulen und Fernunterricht ertragen müssen, und vieler Schulen, insbesondere privater, die in finanzielle Not geraten werden.

Am 3. November finden die Präsidentschaftswahlen statt. Ohne Zweifel ist die Polarisierung zwischen den politischen Lagern im Land derzeit sehr stark. Das eigentliche Problem ist jedoch ein anderes. Beide Seiten wollen die Realität nicht sehen, sei es das Coronavirus, die Arbeitslosigkeit oder den nach wie vor bestehenden Rassismus. Aber sie nutzen diese Probleme, um ihre Ideologien zu verbreiten, indem sie Unsicherheit schüren und den Leuten versprechen, das, was ihnen Angst macht, zu beseitigen.

Aber „man wird Angst, Unsicherheit und Furcht niemals aus dem menschlichen Leben eliminieren können, nie“, bemerkte der Philosoph Cornel West kürzlich in einem Interview für das Meeting von Rimini. Dabei bezog er sich auf eine Aussage von Reinhold Niebuhr: Demokratie ist der Versuch, vage Lösungen für unlösbare Probleme zu finden. „Wir dürfen niemals erstaunt sein über das Böse, in welcher Form auch immer es auftritt. Und wir dürfen uns nie durch Verzweiflung lähmen lassen. Wer nie verzweifelt war, hat nie gelebt. Ein Teil des Problems besteht in Amerika darin, dass die Amerikaner sich für völlig unschuldig halten und deshalb glauben, Katastrophen könnten sie nicht treffen.“ Und jetzt, wo niemand von dem Drama verschont bleibt, „jetzt, wo alle den Blues haben“, so sein Fazit, sei man traurig, aufgewühlt, verletzt. „Der Scheideweg im Leben eines jeden besteht darin, was er aus diesen Wunden macht. Wird er ein verletzter Mensch voller Zorn, der noch mehr Wunden schlägt in der Welt? Oder wird er ein verwundeter Liebender, der liebt und heilt?“ Eine Frage, die angesichts der dramatischen Ereignisse der letzten Monate – der Morde und Proteste, der Aufflammen der Black Lives Matter-Bewegung, der sozialen Gegensätze und von Forderungen, der Polizei die Gelder zu kürzen – auch die Gemeinschaften von CL in den Vereinigten Staaten beschäftigt hat. Bei den Versammlungen, Diskussionen und Gesprächen in diesem Sommer war das erste, was uns aufgegangen ist, dass wir selber gegen all diese Polarisierungen und Spaltungen nicht immun sind. Da gab es welche, die sich ins Getümmel stürzten und auf die Straße gingen, um zu protestieren. Andere waren der Meinung, Rassismus sei ein strukturelles Problem, das es immer gegeben habe und immer geben werde. Die Jugendlichen wollen Widerstand leisten gegen Ungerechtigkeiten und eine gerechtere Gesellschaft aufbauen und fühlen sich von den Erwachsenen missverstanden. Und wir haben entdeckt, dass wir nicht gefeit sind gegen den instinktiven Versuch, der Wirklichkeit auszuweichen, uns zurückzuziehen und so zu tun, als sei alles gut, oder zu meinen, das beträfe uns letztendlich gar nicht.



Für Peter, einen Doktoranden der Physik in Chicago, waren die Morde und Demonstrationen weit weg und interessierten ihn nicht sonderlich. Bis eines Abends ein gewalttätiger Protestmarsch unter seinem Fenster vorbeizieht, trotz der Ausgangssperre, die in einigen Städten zur Eindämmung der Unruhen verhängt wurde. „Warum demonstrieren diese Menschen?“, fragt er sich. „Warum nehmen sie es in Kauf, verhaftet zu werden wegen Verstoßes gegen die Ausgangssperre?“ Von da an liest er mehr Nachrichten und beschäftigt sich mit den Themen. Er stellt fest, dass hinter den Ereignissen der letzten Monate eine Welt steht, von der er nur wenig weiß. Gleichzeitig wird ihm schmerzhaft bewusst: „Ich sage, ich will eine bessere Welt aufbauen, ich will dies und das tun. Aber wenn ich an mich denke, wer ich bin, an meine Freunde, an meine Uni: Ich weiß nicht einmal den Namen von einem der Hausmeister dort.“

Auch anderen fällt auf, wenn sie Vorfälle und Umstände in ihrem eigenen Leben betrachten, dass „in Wirklichkeit diese Gewalt, diese mangelnde Liebe auch von mir kommen könnte“. Wenn von all dem nur Ideen übrigbleiben, seien sie auch noch so gut, ja selbst wenn man dafür auf die Straße gehen würde, so hilft das nicht viel. Denn Rassismus ist nicht nur ein grundlegendes historisches Problem, sondern auch ein persönliches: „Auch ich kann gewalttätig sein.“ Wenn wir also Veränderungen immer nur von anderen fordern und nicht wirklich von einer persönlichen Umkehr ausgehen, dann werden wir nie eine gerechtere Gesellschaft aufbauen.

Nur der Blick auf die Wirklichkeit, ausgehend von dieser Wunde, von ihrem eigenen Verletzt-Sein kann denjenigen, die merken, dass der Überseedampfer gestrandet ist, den Mut geben, das Risiko einzugehen, in den Laderaum zu gehen, sich die Hände schmutzig zu machen und mit dem anzufangen, was da ist. Anzufangen, selbst wenn das Undenkbare und Unvorhersehbare geschieht, selbst wenn alles außer Kontrolle zu geraten scheint, auf die Bedürfnisse zu antworten, so gut man kann. Wie die 140 Unternehmer, Manager, Universitätsprofessoren und Wirtschaftsfachleute, die bei Ausbruch der Wirtschaftskrise das professionelle Netzwerk Ergon gegründet haben. Eine Gemeinschaft von Fachleuten, die sich wöchentlich treffen, um über Probleme zu beraten, die sich gegenseitig und anderen durch Mentoring und Networking helfen, zum Beispiel einen Lebenslauf zu schreiben oder ein Bewerbungsgespräch vorzubereiten.

Oder wie Carolina, die junge Rektorin einer Schule in einer sehr armen Gegend von Boston, in der hauptsächlich Lateinamerikaner und viele illegale Einwanderer wohnen. Als die Schule im März wegen Corona schließen musste, sah sie sich mit 200 Familien konfrontiert, die nicht mehr wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, nachdem die kostenlosen Mahlzeiten in der Schulkantine wegfielen. Die Stadtverwaltung war offensichtlich im Chaos der Pandemie nicht in der Lage, schnell ein Hilfsprogramm aufzusetzen. Und Subventionen und Essensgutscheine gibt es für illegale Einwanderer ohne Aufenthaltsgenehmigung natürlich auch nicht. Also ging Carolina in die Restaurants, die schließen mussten, und bat um Spenden aus den übriggebliebenen Vorräten. Auch in ihrer Nachbarschaft sammelte sie Lebensmittel und brachte diese jede Woche zu den Familien ihrer Schüler.

Auf einer Versammlung der Bewegung zum Thema „Wie hat sich dein Leben durch die Corona-Pandemie verändert?“ erzählten viele, wie schwer es ihnen gefallen sei, zu Hause festzusitzen an diesen immer gleichen Tagen. Carolina dagegen berichtete von diesen Familien, die in der Sorge leben, kein Essen auf den Tisch bringen zu können oder auf der Straße zu landen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können. Nach ein paar Stunden hatten sechs Familien aus ihrer Gemeinschaft angerufen und sich bereiterklärt, ihr beim Verteilen der Essenspakete in der Stadt zu helfen. So ging es den ganzen Sommer über. Am Ende kannten die Familien aus ihrer Schule all diese Freunde und ihre Kinder mit Namen.

Die eigentliche Gefahr ist im Grunde, dass man in seinen Ideen gefangen ist und nicht wachsen kann als Mensch, nicht mehr vertraut ist mit dem Handwerk des Lebens. Diejenigen dagegen, die bereit sind, sich der Wirklichkeit zu stellen, sich dem Sturm auszusetzen und mit dem zu bauen, was da ist, entwickeln eine Lebensfreude, die auch in den großen Dramen und Problemen der letzten Monate noch zunehmen konnte.

*Associate Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität von Nebraska, Omaha. Publikationen: Milano. Un popolo e il suo Duomo (Marietti, 2007); Costruire cattedrali. Il popolo del Duomo di Milano (Marietti, 2011).