Bekenntnisse eines Rektors
Hans van Mourik Broekman hat sich sein Leben lang mit Erziehung beschäftigt. Doch als er im vergangenen Jahr Don Giussani „begegnete“, revolutionierte das seine ganze Arbeitsweise. Und seinen Glauben.„Es ist schon fast 20 Jahre her, aber ich erinnerte mich immer noch genau an den Namen. Solchen Eindruck hatte mir das gemacht, was er sagte. Ich hatte ihn bei CNN gehört, am 11. September 2001. Am Tag der Attentate waren meine Familie und ich gerade auf dem Flug in die USA. Unsere Maschine wurde nach Kanada umgeleitet, wo wir ein paar Tage wie Flüchtlinge verbrachten – und vor dem Fernseher. Und dieser Priester stach heraus ... Danach habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Aber jetzt mitten im Lockdown wollte ich plötzlich wissen, was er zu der Pandemie zu sagen hätte. Also habe ich seinen Namen gegoogelt: Lorenzo Albacete.“
Hans van Mourik Broekman wurde vor 54 Jahren in Syracuse im Staat New York (USA) geboren. Seine Eltern stammten aus Holland. Er absolvierte die Oberstufe in den Vereinigten Staaten und machte dann an der University of St. Andrews in Schottland einen Abschluss in Klassischer Philologie. Anschließend wurde er Lehrer. Zunächst unterrichtete er an katholischen Schulen in den USA. Dann ging er nach Liverpool (Großbritannien). Heute leitet er das Liverpool College, eine der ältesten Bildungseinrichtungen der Stadt. 2015 ist es ihm gelungen, es von einer „unabhängigen Schule“ in eine staatlich finanzierte „Academy“ zu verwandeln. Damit wurde für seine Schüler der Zugang zu erstklassiger Bildung kostenlos, wie sie sie sonst in Großbritannien nur die Kinder der Upperclass genießen. Diesen Schachzug bezeichnete der Labour-Abgeordnete Andrew Adonis, Erziehungsminister unter Gordon Brown, als „die vielleicht größte Bresche in der Berliner Mauer, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, die den privaten Sektor im Bildungsbereich vom staatlichen trennt,“.
Auch das Liverpool College wurde natürlich, wie die anderen Schulen in Großbritannien, letztes Jahr aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen. Der Unterricht fand nur noch online statt. Hans saß zu Hause vor seinem Laptop und stellte fest, dass er nicht mehr erfahren würde, was dieser besondere Priester zur Corona-Pandemie zu sagen hatte. Denn der war im Oktober 2014 gestorben. Aber bei seinen Recherchen stieß er auf ein Interview, das Don Lorenzo Albacete einem Fernsehsender mit dem bemerkenswerten Namen „Meaning of Life“ („Sinn des Lebens“) gegeben hatte. „Es war ein Gespräch über sein Buch God at the Ritz („Gott im Hotel Ritz“). Er sprach faszinierend und sehr überzeugend ... Er wirkte zwar ein bisschen ungepflegt, aber seine Theologie war sehr profund. Irgendwann erwähnte er einen Don Luigi Giussani und die Bewegung Comunione e Liberazione. Aber er erklärte nicht, wer oder was das sei.“
Hans hatte gerade viel Zeit. Die ganze Welt stand still aufgrund des Virus und in der kleinen Welt seines Hauses war es ruhig. Doch seine Arbeit und seine Schüler fehlten ihm. „Ich wollte das Leben spüren. Ich sehnte mich nach Hoffnung. Und ich wollte mich meines Glaubens und der Gegenwart Christi vergewissern. Ich wünschte mir geradezu verzweifelt, dass alles wieder einen Sinn bekäme. Ich suchte nach einer Quelle, um Kraft zu schöpfen. In dieser Situation schien alles so sinnlos. Ich hatte den Glauben nicht verloren. Ich bin immer katholisch geblieben. Aber in diesem Moment suchte ich nach etwas, was ihn wieder lebendig machen könnte.“
Hans setzt sich also wieder an seinen Laptop und sucht „Luigi Giussani“, „Comunione e Liberazione“. Er bestellt bei Amazon God at the Ritz und dann Das Wagnis der Erziehung. Und liest beide am Stück durch. Auf den Rektor, der auch „Einführung in das Christentum“ unterrichtet (in den britischen Schulen ist das Teil des Lehrplans), haben die Bücher eine geradezu umstürzende Wirkung. „Das Höchste, was die Schüler bei uns aus dem Religionsunterricht mitnehmen, sind ein paar geschichtlich-kulturelle Fakten. Aber de facto ist ihnen das Christentum völlig egal“, sagt Hans. Von Giussani hat er gleich den Eindruck, dass er „ein genialer Erzieher ist, erste Klasse im Bereich der Pädagogik“. Einige Begriffe haben ihm, wie er sagt, die Augen geöffnet: Wirklichkeit, Erfahrung, Verifizierung, Sehnsucht.
„Dass die Wirklichkeit mehr enthält als das, was man beweisen kann, ist eine Vorstellung, die der angelsächsischen Bildungskultur völlig fremd ist. Hier will man den Schülern nur das vermitteln, was sich beweisen lässt. Giussani sagt dagegen etwas, was in meinen Ohren absolut revolutionär klingt: ‚Die Wirklichkeit wird evident in der Erfahrung.‘ Und dann die Sache mit der Sehnsucht. Unser Erziehungssystem scheint eher dazu gemacht zu sein, die Sehnsüchte der Schüler zu unterdrücken. Und das Verifizieren: Was einem beigebracht wird, soll man als Arbeitshypothese nehmen und in seiner Erfahrung überprüfen. Das sind natürlich keine Dinge, die Giussani erfunden hat. Aber bei ihm bekommen sie einen methodologischen Wert. Man bekommt Werkzeuge an die Hand, mit denen man alles lehren und lernen kann.“
Nachdem Hans die Bücher ausgelesen hat, ist er immer noch nicht zufrieden. Wieder nutzt er das einzige Informationsmittel, das ihm im Moment zur Verfügung steht: das Internet. „Die offiziellen Websites von Comunione e Liberazione haben mich noch neugieriger gemacht. Aber ich fand keine Kontaktdaten von Leuten hier in Liverpool.“ Also fragt er ein paar befreundete Priester. Einer hat einmal von einer Gruppe in Cambridge gehört, aber er kann keinen Kontakt herstellen. „Auf der 16. Seite bei Google fand ich dann einen Artikel über eine Gruppe, die sich hier trifft. Da wurde der Name eines Priesters genannt, den ich kannte. Ich rief ihn also an, und er antwortete, klar, die kenne er. Ab und zu lese er die Messe für sie.“ Eleanor, die Frau von Hans, hört dieses Gespräch mit und erinnert sich dann, dass Loredana, eine Italienerin, die sie kennt, manchmal auf WhatsApp Links auf Seiten von CL schickt. Was Hans sucht, liegt also viel näher, als er dachte. Er kontaktiert Peter, den Verantwortlichen von CL in der Region. Und nimmt dann am Seminar der Gemeinschaft via Zoom teil. „Seit ein paar Monaten nehme ich jede Woche an diesen Treffen teil. Aber erst vor kurzem habe ich einige der Leute auch real getroffen. Doch überraschenderweise empfinde ich sie schon als meine Freunde. Wie kann man mit jemandem befreundet sein, den man noch nie persönlich getroffen hat? Das ist ein bisschen wie die Frage, die Giussani uns stellt: Wie kann man Jesus folgen, wenn man ihm nicht physisch begegnen kann?“
Auch Eleanor nimmt inzwischen an den Treffen teil. Einige Freunde von ihnen haben schon Interesse bekundet und wollen sich auch bei den Zoom-Konferenzen zuschalten. Anfang Januar hat Hans auch an der Versammlung der englischsprachigen Gemeinschaften mit Julián Carrón teilgenommen. „Alles schien mir einfach und klar. Keinerlei Verweis auf merkwürdige philosophische oder psychologische Theorien. Es ging nur darum, ob wir mit Gott leben wollen oder ohne Gott. Wollen wir Kinder Gottes sein, oder geben wir uns damit zufrieden, Waisen zu sein. Außerdem habe ich einige wirklich starke Zeugnisse gehört. Sie haben uns alle daran erinnert, was das Entscheidende ist im Leben.“
In den letzten Monaten hat Hans die zusätzliche Zeit, die er durch den Lockdown hatte, genutzt, um zu schreiben – im Gefolge des „Erkenntnis-Schocks“, den er durch die Gedanken von Giussani erlebt hat. Nicht nur eins, sondern gleich drei Bücher. „Das erste trägt den Titel Confessions of a Headteacher [„Bekenntnisse eines Rektors“] und ist eine kritische Auseinandersetzung mit meiner beruflichen Entwicklung im Licht des Wagnis der Erziehung. Die Arbeit daran hat mich gezwungen, mir die Gründe wieder ins Gedächtnis zu rufen, warum ich Lehrer geworden bin, und über die Herausforderungen nachzudenken, die ich heute als Verantwortlicher einer Schule habe, die nicht katholisch ist, sondern in der alle Lebensentwürfe einbezogen werden müssen.“ Das zweite Buch heißt: Full life – Letters to My Students [„Volles Leben – Briefe an meine Schüler“]. „Es enthält alle möglichen Ratschläge, die ich in den vergangenen Jahren Eltern und Schülern gegeben habe, bevor ich das Denken von Giussani kennengelernt hatte. Ich erkläre darin, wann und warum ich mich geirrt habe, und wo ich, ohne es zu merken, das richtige sagte.“ Mit dem dritten, was noch im Entstehen ist, The Experience of Christianity [„Die Erfahrung des Christentums“], will Hans den christlichen Glauben Menschen erklären, die damit überhaupt keine Erfahrung haben. „Giussani, so scheint mir, hatte junge Leute vor sich, die den Glauben formal kannten. Aber er hatte keinerlei Bedeutung mehr für ihr Leben und nichts mit dem zu tun, wonach sie sich sehnten. Ich dagegen habe es mit Jugendlichen zu tun, die gar keine Ahnung haben, was das Christentum ist, und möchte es ihnen erklären und ihnen beschreiben, was man erlebt, wenn man Christ ist, und welche Erfahrungen man macht, wenn man den Glauben lebt.“
Eine der Aussagen von Albacete, die Hans besonders im Gedächtnis geblieben ist von dem, was er nach dem 11. September bei CNN gehört hat, gibt er so wieder: „Als ich die Bilder von dem Flugzeug sah, das in den ersten Turm flog, habe ich in mir eine alte Leidenschaft wiedererkannt. Ich wusste, dass die Religion zu so etwas fähig ist, weil ich wusste, wozu sie in mir fähig ist.“ Hans sagt, die Ehrlichkeit und Radikalität dieser Worte habe ihn beeindruckt. „Einen ähnlichen Eindruck hatte ich, als ich Giussani las. Ich dachte: Es ist wahr and it makes sense. Es schien mir sehr vernünftig. Was ich in den Schriften dieses italienischen Priesters gelesen habe, der 2005 gestorben ist, war die analytische und erzieherische Beschreibung der Erfahrung, die ich mit Jesus gemacht habe. Christus erlaubt es mir, meiner Existenz einen Sinn zu geben. Aber die Methode, die Giussani beschreibt, zeigt einem, auf welchem Weg das geschehen kann. Jede Spiritualität hat auch eine erzieherische Komponente.“
Wenn Hans die letzten Monate, die er im Kontakt – wenn auch nicht physisch – mit den neuen Freunden von CL verbracht hat, Revue passieren lässt und an seine Zeit in den USA oder seine Erfahrung mit den Pfarreien in England denkt, wundert er sich: „Bevor sie mich ins Seminar der Gemeinschaft aufgenommen haben, hat niemand kontrolliert, wer ich bin. Ich habe nie irgendein Formular ausgefüllt. Ich brauchte nirgendwo meine Adresse anzugeben. Niemand hat mich aufgefordert, irgendetwas zu kaufen. Wir haben sogar über Politik gesprochen, aber selbst nach Monaten weiß ich noch nicht, wo diese Leute politisch stehen. Sie passen nicht in die üblichen Klischees kirchlicher Richtungen. Wir haben uns nie in irgendwelche Diskussionen über innerkirchliche Probleme verstrickt. Niemand will da der Frömmste sein, oder der bessere Katholik, oder der, der den Glauben ernster nimmt. All das empfinde ich als sehr tröstlich. Es ist alles vollkommen frei: eine freie Vereinigung freier Leute.“